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Die Erzählung vom Ende der Sowjetunion als außenpolitischer Referenzpunkt

Felix Riefer

/ 12 Minuten zu lesen

Am 18. März 2017 feierten pro-russische Gruppen in Sewastopol den dritten Jahrestag der russischen Annexion der völkerrechtlich weiterhin zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim. Auf einer Bühne sangen Kinder den russischen Rocksong "Die Flagge meines Staates" von Denis Majdanow. Die Choreografie sah dazu ein patriotisches Befreiungsszenario vor: Zunächst tanzen Mädchen in blauen Kleidchen heiter umher. Doch offenbar wird das Idyll von einem imaginierten äußeren Feind bedroht, denn der Tanz wird von einer Gruppe von Jungen und Mädchen unterbrochen, die in Militäruniformen verkleidet und mit Gewehren bewaffnet einen Kampf inklusive Schusswechseln und Granatwürfen darstellen. Nach der erfolgreichen Befreiungsaktion können alle zusammen weitertanzen und die russische Trikolore hissen. Dazu singt der Kinderchor den eingängigen Refrain:

    Ich gehe wieder einen Schritt nach vorn,
    und ich hisse meine Flagge
    durch böse Winde der Unruhe im Reich des Unglaubens.
    In diesem Kampf stehe ich in den Reihen
    und glaube an meine Wahrheit.
    Und ich hisse die Flagge meines Staates,
    ich hisse die Flagge meines Staates.

Die Performance an sich mag eine unbedeutende Randerscheinung gewesen sein; symbolisch aber steht sie möglicherweise für mehr. Denn Majdanows Lieder erfreuen sich – zumindest bei staatlichen russischen Stellen – offenbar größter Wertschätzung: Seit Februar 2017 ist er "Verdienter Künstler der Russischen Föderation", 2015 war er bereits Gewinner des "ersten Preises des FSB" (dem Nachfolgedienst des KGB) in der Kategorie "Musische Kunst". Wie also betrachten die russischen Funktionseliten, von denen viele sich als Verteidiger ihres Staates gegen die "bösen Winde der Unruhe" sehen, die Welt? Wie sieht "ihre Wahrheit" aus, die von Majdanow besungen wird? Und noch wichtiger: Sprechen ihre historischen Narrative tatsächlich eine Mehrheit in Russland an – und inwiefern wirken sich entsprechend gefärbte Geschichtsdeutungen politisch aus?

Spätestens seit der Annexion der Krim im März 2014 spielt die Interpretation historischer Ereignisse bei der Bewertung und Legitimierung außen- und innenpolitischer Entscheidungen des Kremls eine übergeordnete Rolle. Neben den viel beachteten Reden von Präsident Wladimir Putin liefert auch der russische Außenminister Sergej Lawrow regelmäßig Hinweise auf die Wahrnehmungen innerhalb der Führungselite, etwa 2016 in einem Artikel für die Moskauer Zeitschrift "Russia in Global Affairs". In diesem steckt er gleichsam einen historischen Interpretationsrahmen für die heutige russische Außenpolitik ab: Russland sei zwar ein europäisches Land, teile aber nicht die in Westeuropa verbreiteten Geschichtsbilder – etwa über das Ende der Sowjetunion. Die positive Rolle seines Landes in der Weltgeschichte begründe seine heutige Stellung "as one of the leading centers of the modern world, and as a source of values for development, security and stability". Das Ausmaß der Politisierung von Geschichte und der betont alternativen Geschichtsdeutung zur Rechtfertigung aktueller Politik ist durchaus besorgniserregend – manche Beobachter sprechen bereits von einer "Securitization" von Geschichte in Russland.

Um die vom Kreml geförderte Weltsicht und die entsprechenden Erzählungen zu verstehen, kommt man nicht umhin, die postsowjetische Entwicklung Russlands und seiner Beziehungen zum Westen zu rekapitulieren. Eine Frage drängt sich dabei besonders auf: Wie konnte aus Michail Gorbatschows Politik, die geprägt war von Glasnost (Transparenz, Offenheit) und Perestroika (Umbau), die heutige Interpretation vom Ende der Sowjetunion – wonach dieses "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen sei – entstehen? Bereits 2005, also 14 Jahre nach der Implosion des sozialistischen Imperiums, brachte Putin diese Deutung in einer Rede zur Lage der Nation deutlich zum Ausdruck.

Wunderjahr 1989 und zivilisierte Scheidung

30 Jahre nachdem Nikita Chruschtschow seine geheime Rede auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gehalten und die Entstalinisierung eingeläutet hatte, brachte Gorbatschow auf dem 27. Parteitag im Februar 1986 seine Perestroika-Politik auf den Weg. Im Einparteienstaat wurden zu dieser Zeit alle Lebensbereiche von der KPdSU reglementiert, so auch die "Mittel zur Masseninformation" (SMI), wie die Medien in der Sowjetunion hießen und in Russland bis heute genannt werden. "Das Bewusstsein bestimmt das Sein" – dieser Umdeutung der Devise des marxistischen Materialismus folgend ("Das Sein bestimmt das Bewusstsein"), versuchte Gorbatschow seine Politik der Offenheit und des Umbaus durchzusetzen – maßgeblich unterstützt von Wegbegleitern wie dem Journalisten Jegor Jakowlew und Zeitungen wie "Moskowskije Nowosti" und "Ogonjok". Dabei war er davon überzeugt, dass eine Gesellschaft einen ungehinderten Informationsaustausch benötige und dieses Ziel nur in einer Demokratie zu realisieren sei.

Die neue Offenheit beschleunigte zwar nicht die Umgestaltung des Sozialismus, aber sie öffnete ein Ventil, das bald nicht mehr zu schließen war. Erstmals wurden staatliche Fehler und Verbrechen aus der Zeit des Stalinismus, die bis dahin offiziell verschwiegen oder gar vertuscht worden waren, öffentlich eingeräumt. Auch unbequeme Meinungen, die zuvor dem offiziellen sowjetischen Narrativ untergeordnet waren, erhielten nun eine Öffentlichkeit. So richteten sich die Perestroika-Diskurse insbesondere auch auf die Aufarbeitung der Vergangenheit.

Sowohl Gorbatschow als auch Jakowlew gehörten der Generation der Schestidesjatniki ("Sechziger") an, die in den 1960er Jahren als junge Politiker die "Tauwetterperiode" mitgeprägt hatten. In gewisser Weise wollten beide an diese Phase der gesellschaftlichen Öffnung vor der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 anknüpfen. Und tatsächlich lässt sich Alexander Dubčeks "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" durchaus als Vorlage für die Perestroika denken. Doch schon 1968 hatte sich deutlich gezeigt, dass das sowjetische System nur durch Gewalt zusammengehalten werden konnte: Die sogenannte Breschnew-Doktrin hatte den "Bruderstaaten" nur begrenzte Souveränität und der Führung in Moskau das Recht eingeräumt, bei einer Bedrohung des Sozialismus notfalls wie in Prag gewaltsam einzugreifen. Insgesamt erfolgte die Öffnung durch Gorbatschow zunächst zögernd, entfaltete zum Ende des Jahrzehnts jedoch eine Eigendynamik.

International galt das Jahr 1989 schon bald als annus mirabilis, als Wunderjahr.Die Sowjetunion verabschiedete sich unter Gorbatschow von der Breschnew-Doktrin und entließ damit seine Satellitenstaaten in die Freiheit. Auch zwischen den Großmächten standen die Zeichen in dieser Zeit auf Entspannung und Annäherung. Zum Symbol dieser Tage der Versöhnung zwischen Ost und West wurde der Fall der Berliner Mauer. Doch für die Sowjetunion entwickelte sich diese Lage zu einer existenziellen Krise: So löste sich nicht nur das Band zwischen Moskau und seinen Satelliten, auch die eigenen Unionsgebiete ignorierten die Weisungen aus dem Kreml zunehmend.

Der drohende Staatskollaps wurde schließlich in geordnete Bahnen gelenkt. So trafen sich am 8. Dezember 1991 mit Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch die Staats- und Regierungschefs der drei slawischen Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Belarus im belarussischen Wiskuli. Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion wurde nicht beteiligt. Auf einem Jagdschloss im Belowescha-Urwald im belarussisch-polnischen Grenzgebiet handelten sie einen Kompromiss aus. Mit dem so entstandenen Dokument, das als Belowescha-Abkommen in die Geschichtsbücher eingehen sollte, gründeten sie die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). In der Präambel hieß es: "Die UdSSR, als Subjekt des internationalen Rechts und als geopolitische Realität, hat aufgehört, zu existieren." Den Teilstaaten der Sowjetunion, aber auch anderen Staaten, die die Ziele und Prinzipien der Vereinbarung teilten, wurde freigestellt, der neuen Gemeinschaft beizutreten.

Nur wenige Tage später schlossen sich ihnen die anderen Sowjetrepubliken – mit Ausnahme Estlands, Lettlands, Litauens und Georgiens – beim Treffen ihrer Präsidenten in Kasachstan an. Georgien sollte wenige Jahre später beitreten, die drei baltischen Staaten aber, die bereits 1990 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, sahen und sehen sich nicht als Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Sie betrachten ihre erzwungene Eingliederung in die Sowjetunion 1944 als illegal und völkerrechtlich unwirksam. Die Vertreter der anderen Republiken bestätigten das Ergebnis aus Wiskuli und unterzeichneten am 21. Dezember 1991 die sogenannte Alma-Ata-Erklärung, in der die Auflösung der Sowjetunion festgeschrieben wurde: "In Anerkennung und Achtung der territorialen Integrität eines jeden und der Unverletzlichkeit bestehender Grenzen (…) hört die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken mit der Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten auf, zu existieren."

Von Anfang an war dieser Konsens jedoch durch zwei entgegengesetzte Zielsetzungen geprägt: Während ein Teil der Unterzeichnerstaaten, namentlich Russland, eine Art Übergangsgebilde zu einer späteren Konföderation oder gar Föderation des ehemals sowjetischen Gebiets anstrebte, sah ein anderer Teil in der Erklärung in erster Linie die Möglichkeit für eine "zivilisierte Scheidung". Dies gilt etwa für die Ukraine, für die die GUS nicht mehr war als ein Übergangsgebilde auf dem Weg zur nationalen Selbständigkeit. Die Spannung zwischen diesen gegenläufigen Auffassungen spiegelt sich wider bis in heutige Konflikte.

In seiner am 25. Dezember 1991 im Fernsehen ausgestrahlten "Ansprache an die Sowjetbürger", zugleich seine Rücktrittserklärung, resümierte Gorbatschow dem damaligen Zeitgeist entsprechend: "Wir öffneten uns der Welt und verzichteten auf die Einmischung in fremde Angelegenheiten sowie auf den Einsatz von Truppen außerhalb unseres Landes. Und man antwortete uns mit Vertrauen, Solidarität und Respekt (…) Wir wurden zu einer der wichtigsten Stützen bei der Umgestaltung der modernen Zivilisation auf friedlicher und demokratischer Basis. Die Völker und Nationen haben die reale Freiheit erhalten, den Weg ihrer Entwicklung selbst zu bestimmen (…)."

Vom Konsens zum Trauma

Die kurz zuvor noch verfeindeten Blöcke schien nun nichts mehr zu trennen. Mit der Sowjetunion endete die bisherige Zweiteilung der Welt, und der vielzitierte US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief optimistisch das "Ende der Geschichte" aus, weil sich die liberale Demokratie als einzige Regierungsform endgültig durchgesetzt habe. Auch der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach in diesem Sinne, als er beim Staatsakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 sagte: "Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. Nicht durch Zwang von Vormächten, sondern aus freien Stücken können sie nun ihre Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, daß daraus erstmals eine gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann."

Für die Menschen in Russland erfüllte sich der Wunsch nach liberaler Demokratie jedoch nicht. Stattdessen erlebten sie während der Präsidentschaft Jelzins (1991 bis 1999) die Realität einer Transformationsökonomie in einer "defekten Demokratie", die zunehmend zum "kompetitiven Autoritarismus" wurde. Zudem verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage vieler Russinnen und Russen, was den Boden für Sowjetnostalgie und Nationalismus bereitete. Die Auflösung des Imperiums wurde von keiner politischen Kraft adäquat thematisiert. So verkam das Belowescha-Abkommen im postimperialen Trauma zum "Belowescha-Syndrom". Als solches bezeichnet der russische Historiker Andrej Subow den vor allem in Russland kultivierten Mythos, wonach die Sowjetunion nicht durch eigene Unzulänglichkeiten, sondern durch einen vom Ausland gesteuerten Staatsstreich zerstört worden sei. Im Grunde handele es sich um "eine Art postsowjetische Dolchstoßlegende". Auch Jegor Gajdar, einer der Autoren des Abkommens von Belowescha und späterer Wirtschaftsminister Russlands, warnte bereits 2006: "Die Wahrheit über den Zusammenbruch der Sowjetunion, seine Gründe und Mechanismen, ist meines Erachtens noch nicht in systematischer Form vorgetragen worden. (…) Die Legende von dem blühenden, mächtigen Reich, das feindliche Ausländer vernichtet haben, ist ein Mythos, der die Zukunft des Landes gefährdet."

Ausgehend von der Logik dieses Mythos artikulierte die russische Staatsführung seit dem Amtsantritt Putins als Präsident zum Jahreswechsel 1999/2000 zunehmend offensiv ihre Unzufriedenheit mit Russlands internationaler Rolle – die postbipolare, postsowjetische, postimperiale Stellung des Landes entsprach nicht den eigenen Vorstellungen und sollte nicht länger akzeptiert werden. So wurden die "Wunderjahre" nach und nach zur "geopolitischen Katastrophe" uminterpretiert. Spätestens der russisch-georgische Krieg im August 2008 zeigte deutlich, dass Russland die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach wie vor als seine Vorhöfe betrachtet.

Zugleich betrieb der Kreml eine rigide Rezentralisierungspolitik: Schlüsselindustrien wurden zunehmend wieder unter staatliche Kontrolle gebracht, Medien regelrecht gleichgeschaltet und jedwede ernstzunehmende Opposition weitgehend zerschlagen. Aus dem "Oligarchen-Kapitalismus" der Jelzin-Jahre wurde unter Putin ein bürokratischer "Staatskapitalismus", die "Kreml AG". Die Investigativjournalisten Andrej Soldatow und Irina Borogan zeichneten bereits 2010 in ihrem Buch "The New Nobility" den Prozess der schleichenden Übernahme des russischen Staates durch den Geheimdienst nach.

Mit dem Beginn seiner dritten Amtszeit 2012 hat Putin den außenpolitischen Kurs nochmals verschärft: Wurde vormals wenigstens ein demokratischer Anschein gewahrt und Interesse an einer Integration in westliche Strukturen und später zumindest noch an einer engen Kooperation bekundet, ist die ideologische Ausrichtung inzwischen offen konfrontativ. Die russische Regierung erhebt dabei Anspruch auf die Führung einer neuen "konservativen" Strömung in den internationalen Beziehungen und unterhält gute Kontakte unter anderem zum Front National und dem Mouvement pour la France in Frankreich, zur UK Independence Party in Großbritannien oder der ungarischen Jobbik, aber auch zum ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán (Fidesz).

Vor diesem Hintergrund bleiben die akkurate Darstellung historischer Ereignisse sowie die jeweiligen Interpretationen und verschiedenen Wahrnehmungen ein politisch dicht vermintes Gebiet. Folglich werden gerade die Umbruchsjahre nach dem Ende der Sowjetunion auf unbestimmte Zeit ein extrem wichtiger beziehungsweise unumgänglicher Bezugs- und Ausgangspunkt für tiefergehende Analysen über den postsowjetischen Raum bleiben.

Lew Gudkow, der Leiter des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum in Moskau, kommentierte die gesellschaftliche Situation in Russland besonders anschaulich in der Zeitschrift "Snob": "Wenn die Russländer auf nichts mehr stolz sein können, dann schaffen sie sich einen Feind." Er berief sich dabei auf die repräsentativen Umfragen seines Instituts, das seit 1989 die Frage "Hat denn unser Volk Feinde?" stellt. Noch gegen Ende der Sowjetunion machten lediglich 13 Prozent der Befragten einen äußeren Feind für die Misere im eigenen Land verantwortlich. Erst mit dem Amtsantritt Putins stieg dieser Wert auf 78 Prozent. Gudkow sieht darin die Spiegelung von Putins Politik der "massiven negativen Konsolidierung der Gesellschaft", die auf eben diese äußeren Feinde abziele. Zumindest das Narrativ einer Bedrohung durch äußere Feinde scheint also bei einer Mehrheit zu verfangen.

Zur Frage, inwieweit Russland dabei tatsächlich einer Ideologie folgt, lässt sich auf den französischen Philosophen Michel Eltchaninoff verweisen, der in seinem Buch "In Putins Kopf" konstatiert: "Der russische Präsident möchte seine Spuren in der Geschichte hinterlassen. Dafür sind Ideen unverzichtbar, die tief in der Geschichte des Landes verankert sind. Die Frage, ob er an sie glaubt oder nicht, ist dabei nebensächlich. Vielleicht ist Wladimir Putin wie Dostojewskis Held Dmitri Karamasow ein ‚weites Gefäß‘, zugleich ernsthaft zynisch und ernsthaft idealistisch."

Schluss

Dass die mit historischen Argumenten unterfütterte Außenpolitik Russlands auch innenpolitisch relevant ist, hat Putin selbst bereits 2001 betont: "Die Außenpolitik ist sowohl Indikator als auch wesentlicher Faktor der innerstaatlichen Entwicklung. Hier darf es keine Illusion geben. Davon, wie geschickt und effektiv wir unsere diplomatischen Ressourcen nutzen, hängt nicht nur die Autorität Russlands in der Internationalen Arena, sondern auch die politische und wirtschaftliche Situation im Land selbst ab." Dies gilt genauso auch umgekehrt: Außenpolitisch lässt sich teilweise wettmachen, was innenpolitisch an Vertrauen fehlen würde.

Ein baldiges erneutes Umdenken der russischen Regierung in Richtung Entspannungspolitik wie in den Gorbatschow-Jahren ist angesichts des aktuellen außenpolitischen Konfrontationskurses derzeit nicht zu erwarten. Gleichzeitig aber können die gegenwärtig relativ niedrigen Öl- und Gaspreise die wirtschaftliche Erholung des Landes nicht wie noch zu Beginn der Putin-Ära gewährleisten. Die Bevölkerung muss den Gürtel daher zunehmend enger schnallen, und um die wachsende Unzufriedenheit zu beherrschen, reagiert der Staat immer häufiger mit repressiven Maßnahmen.

So fragen sich viele Menschen in Russland, was der russische Liedermacher Semjon Slepakow in seinem satirischen Song "Das Lied vom Öl" aus der Perspektive eines Fabrikarbeiters zum Ausdruck bringt, in dem er "die da oben" fragt:

    Ich bin natürlich sehr froh darüber,
    dass bei euch jetzt bald wieder der Ölpreis steigt,
    Scheiße, und was is’ wenn nicht? Und was wird, wenn nicht?
    Ich habe verstanden, dass alles besser wird, wenn der Ölpreis wieder steigt
    Scheiße, und was is’ wenn nicht? Und was wird, wenn nicht?

ist Politikwissenschaftler und promoviert am Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln zum Thema "Russlands Außenpolitik unter Putin". E-Mail Link: felix.riefer@sciencespo.fr