"Eigentlich unsere beste Zeit" Erinnerungen an den DDR-Alltag in verschiedenen Milieus
Alltagserinnerungen an goldene Jahre in der DDR gibt es heute mehr denn je. Sie zeigen, in welcher Weise diese Gesellschaft für bestimmte Generationen wirksame Integrationsangebote bereithalten konnte.I. Erinnerungen an "Alltage" in der DDR
In ihrem Alltag unterlagen fast alle DDR-Bürger den gleichen praktischen und geistigen Restriktionen. Pointiert könnte man sagen: Bei der Beschaffung eines 80-Liter-Boilers oder einer Pink-Floyd-Amiga-Platte waren der Metallfacharbeiter und die Professorin für Psychologie gleichermaßen schlecht gestellt. Diese Homogenisierung des Alltags unterschied die DDR von anderen - von westlichen Industriegesellschaften. Dennoch führte natürlich auch in der DDR der Arbeiter ein ganz anderes Leben als der Lehrer, die Verwaltungsangestellte lebte anders als die Künstlerin. Die junge - eventuell allein erziehende - Mutter hatte einen anderen Alltag zu bestehen als ihre Kollegin, deren Kinder bereits aus dem Hause waren. Und auch die Alltagserfahrungen eines Mittzwanzigers, seine Probleme und Orientierungen, waren andere als die eines Mannes jenseits der Vierzig.
In der Sozialwissenschaft und zeitgeschichtlichen Forschung werden diese Differenzen mit theoretischen Konzepten zu sozialen Lagen und sozialen Milieus [1] oder zu Kohorten (Jahrgangsgruppen) und Generationen [2] zu erfassen versucht. An dieser Systematik orientiert sich auch die folgende Skizze, die typische Erinnerungen an "Alltage" in der DDR präsentiert, so wie diese heute von den Angehörigen verschiedener Kohorten aus verschiedenen sozialen Lagen konstruiert werden.
Jeder weiß, dass Erinnerungen keine objektiven, dokumentierenden Abbilder des Vergangenen sind, sondern Ergebnisse eines subjektiven und selektiven Konstruktionsprozesses. Diese Eigenschaften von Erinnerung, die manchem Historiker als ein Indiz für die Unzuverlässigkeit der Quelle gelten mögen, machen sie für eine Archäologie der Erinnerungen [3] gerade interessant. Denn die jeweils individuelle Art des Vergessens und Erinnerns, die Komposition und die Schwerpunktsetzung in den "Geschichten" [4] , die Kommentare und Wertungen, die Behauptung von Motiven, Zielen und Kausalitäten sind viel sagend. Die Konstruktion der Erinnerungen verweist auf die - möglicherweise längst vergangenen - milieutypischen und kohortenspezifischen Sinnhorizonte und Wertevorstellungen der sich Erinnernden. So interpretierte Erinnerungen können einen Eindruck darüber liefern, wie frühere - möglicherweise bereits von der Zeitgeschichte und Sozialforschung systematisch und strukturell beschriebene - Gesellschaftszustände individuell wahrgenommen, genutzt und erlebt wurden. Sie zeigen, wie sich konkrete Subjekte mit ihren Werten und Überzeugungen in jeweils vorgefundenen Chancen- oder Gelegenheitsstrukturen "einbauen" konnten - oder mit ihnen in Konflikt gerieten.
Während in der Bundesrepublik die fünfziger und sechziger Jahre zum Beispiel als die Zeit des "Fahrstuhleffekts" (Ulrich Beck) beschrieben wurden, in der alle sozialen Lagen gleichmäßig am Wohlfahrtsgewinn und der wirtschaftlichen Prosperität teilhaben konnten, gab es in der DDR Milieus und Generationen, die in ganz unterschiedlicher Weise Statusgewinne und -verluste, Stigmatisierung oder Aufstieg erlebten. Da sich diese ökonomischen und ideologischen Push- and Pull-Effekte in der DDR häufig wandelten, während die Sinn- und Wertvorstellungen der verschiedenen Milieus üblicherweise relativ konstant blieben, erweisen sich für die verschiedenen sozialen Gruppen in der Erinnerung ganz unterschiedliche Phasen der DDR als "goldene Jahre". Das Auswahlprinzip der im Folgenden präsentierten Erinnerungen war, dass sie alle die jeweils goldenen Jahre abbilden. Die Erzähler sprechen darin von "guten Zeiten" oder gar von "den besten Jahren meines Lebens". Diese spezielle Perspektive illustriert die Integrationskraft, welche die DDR-Verhältnisse zu bestimmten Zeiten für jeweils bestimmte soziale Milieus und bestimmte Generationen offenbar hatten. Im Unterschied zu konflikttheoretisch orientierten Perspektiven auf den DDR-Alltag, welche die Momente der Desintegration, der Ausgrenzung und Repression [5] fokussieren, werden hier die Momente der Passung beschrieben und wird somit gezeigt, wann und auf Basis welchen Konsenses [6] die DDR-Gesellschaft für wen alltagspraktische Integrationsoptionen offerierte.
Im Folgenden wird skizziert, wie von Menschen, die der gleichen Kohorte (die Jahrgänge 1922 - 1934), aber verschiedenen Milieus angehören, unterschiedliche Phasen der DDR als goldene Jahre erinnert werden. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf drei Milieus: auf traditionelle Facharbeiter, Aufsteiger in die Intelligenz und Selbstständige.