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"Über-Lebenszeit": Kabarett in der Transformation | Alltagskultur Ostdeutschland | bpb.de

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"Über-Lebenszeit": Kabarett in der Transformation Die Dresdner "Herkuleskeule" vor und nach 1989

Sylvia Klötzer

/ 23 Minuten zu lesen

Wie hat sich satirische Kritik eingebunden in die SED-Parteiöffentlichkeit ausgebildet und sich daraus gelöst? Eine Untersuchung am Beispiel von drei Produktionen der "Herkuleskeule".

Einleitung

"Frustrierte Autoren wollen Partei und Staat beleidigen." Die Beschwerde eines Dresdner Kulturfunktionärs aus dem Sommer 1986 galt der vorletzten DDR-Produktion der "Herkuleskeule". Das Stück "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle", geschrieben von Peter Ensikat und Wolfgang Schaller, inszeniert von Gisela Oechelhaeuser, kam schließlich nach längerem "Lavieren" auf Seiten der zuständigen Kulturabteilungen durch die "Interessentenprobe" - die Zensurabnahme - und hatte kurz darauf am 22. Dezember 1986 Premiere.

In gewisser Hinsicht hatte der Kulturfunktionär Recht: Hier lag tatsächlich ein Kabarettstück vor, das den Zustand der DDR in den Blick nahm - keineswegs wohlwollend. Das bis dahin konsequenteste Programm von Ensikat und Schaller "beleidigt" orthodox gesonnene Funktionäre, indem es sie mit den eigenen Ritualen und Lügen konfrontiert. Das Urteil "frustrierte Autoren" besagt jedoch nicht weniger, als dass auch damals Satire im Sinne Tucholskys gelingen konnte und diese traf. In "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle" lässt sich ein letztes Mal ein ernsthaftes Bemühen "gekränkter Idealisten" erkennen, gegen das "Schlechte" im Sozialismus anzurennen in der Hoffnung, dieser könne doch noch "gut" werden, weil er möglicherweise reformierbar sei. Dieser Funke Hoffnung hatte sich an Michail Gorbatschows Glasnost-Politik entzündet und Mitte der achtziger Jahre noch einmal die Energie freigesetzt, gegen die gesellschaftliche Lähmung vorzugehen und sich am Thema der sich weitenden Kluft zwischen offiziell behaupteten gesellschaftlichen Grundsätzen, Zielen und Zuständen auf der einen Seite und der deprimierenden sozialen Wirklichkeit auf der anderen abzuarbeiten. Dieser Ansatz wiederum konnte noch notdürftig als "helfende Kritik" durchgehen, welche die SED von ihrem Kabarett verlangte, die sich jedoch bereits auf die Auftraggeber selbst richtete. Mit dieser Produktion enden - noch vor "Über-Lebenszeit" vom Dezember 1988 - die DDR-Stücke der beiden Autoren an der "Herkuleskeule". "Über-Lebenszeit" weist über die DDR hinaus. Der Gedanke an Reformierbarkeit fehlt. Stattdessen geht es um die Enthüllung des DDR-Systems. Die Satiriker können nur noch bitter und resigniert das Ableben ihres Ideals feststellen, das mit der DDR verbunden war.

Im Folgenden wird am Beispiel der 1986er Produktion "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle" rekonstruiert, was ein Kabarett in der DDR, das zu den Spitzenensembles gehörte, ausmachte. Ein Vergleich zum Programm "Über-Lebenszeit" von 1988, das in der Wendezeit weiter gespielt werden konnte, sowie ein Ausblick auf ein Programm von 1995, "Perlen vor die Säue", das die eigene Vergangenheit - auch die des Kabaretts selbst - zum Thema machte, zielt auf die Frage nach den Prägungen und dem Profil eines nun ostdeutschen Kabaretts.

I. "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle": Leiden an der DDR

Die Vorbereitung von "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle" zog sich zwei Jahre hin. Dabei bewegte sich die "Außenseiterkonferenz mit Diskussionsbeiträgen von Peter Ensikat und Wolfgang Schaller" durchaus im Rahmen der von der SED 1986 gewünschten Funktion "aktuell-politischer Kabarettprogramme", die "künstlerisch überzeugend" sein, "politisch-ideologische Klarheit" der Autoren belegen und auf "einem fundierten Klassenstandpunkt basieren . . ." sollten. Diesen Anspruch löste das Kabarettstück auch ein. Jedoch leisten Ensikat und Schaller hier Fundamentalkritik im Sinne Gorbatschows, die sich gegen die orthodoxe und selbstherrliche Parteilinie der SED richtete.

Hat es gelegentlich noch den Anschein, als ginge es lediglich um Symptomkritik, wie zum Beispiel an der inhaltsleeren Rhetorik langatmiger (Parteitags-)Reden, so kommt bereits mit der Eingangsszene Grundsätzliches ins Spiel. Das Programm beginnt bereits an der Tür zum Zuschauerraum, wo die Kabarettisten ihr Publikum als "Abgeordnete" begrüßen und statt eines Programmhefts eine "Delegiertenmappe" verkaufen. Danach setzen sie sich mit dem "Volk" ins Foyer, nach "unten". Dort beginnt die "Konferenz". Schließlich wird einer der Schauspieler auf die Bühne geschickt und muss den Versammlungsleiter spielen. Weil er das Manuskript für seine Rede nicht finden kann, wird er "von unten" aufgefordert, "kurz die Konferenz [zu eröffnen], dann kann jeder an's Rednerpult gehen. Jeder hat die gleichen Rechte" . Die Kritik an der Rechtlosigkeit des Volkes - die sich in dieser Inszenierungsweise findet - hätte noch zugespitzt werden können, wenn der darauf folgende Dialog nicht zensiert worden wäre. Aus dem Zuschauerraum sollte gerufen werden: "Es gibt kein oben und kein unten" - vordergründig auf das Unten im Zuschauerraum und auf das Oben der Bühne bezogen, in der Antwort des Versammlungsleiters jedoch auf das Gesellschaftsmodell hin präzisiert: "Sie wollen wohl den Sozialismus auf den Kopf stellen?!" Durch die erzwungene Streichung dieser Textstelle wurde verhindert, dass bereits in der Eingangsszene die zentrale These des Kabarettstückes auftauchte: der Widerspruch zwischen sozialistischem Modell und gesellschaftlicher Praxis. Schritt für Schritt entfaltet sich in Teilaspekten, Beispielen und Gleichnissen die Argumentation eines "auf den Kopf gestellten" Sozialismus, der Umkehrung des Sozialismus-Modells in der DDR.

Auf diese Leitidee - und Triebkraft für die satirische Kritik - verweist bereits der Titel des Kabarettprogramms mit seinem klar erkennbaren Bezug zum Kommunistischen Manifest, ". . . worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" . Sie findet sich im Programmheft verstärkt, wo das Marx-Zitat in der "ungestutzten Ausgabe" eines "Referats" abgedruckt ist. Insgesamt trägt das Kabarett eine Debatte weiter, die von der Literatur ausgegangen war und die Verfälschung des Marx-Gedankens in der DDR zum Thema gemacht hatte. Die Kritik im Kabarett, die sich in ihrer radikalsten Form erst im Stückzusammenhang erschließt, lautet, dass das gesellschaftliche Modell und die gesellschaftliche Praxis nicht nur auseinander klaffen, sondern dass sie sich widersprechen. Die Starre des Systems begründe sich darin, dass statt freier Entwicklung von Individuen, gesellschaftlichen Gruppen und Ideen Gleichschritt und Unterordnung erzwungen werde. Im Ergebnis herrsche der "Durchschnitt".

Der fiktive künstlerische Rahmen einer "Außenseiterkonferenz" integriert die einzelnen Kabarettnummern und Lieder und stellt seinerseits das real existierende Muster eines SED-Parteitags "auf den Kopf". Er verschafft den Anlass, statt einer Bilanz der Erfolge ein Panorama gesellschaftlichen Versagens zu präsentieren. Die alternative "Konferenz" kann sowohl als Fundamentalkritik wie zugleich als Parteitagsparodie im Parteitagsjahr rezipiert werden. Auf der Kabarettbühne wird vorgeführt, wie die freie Entwicklung eines jeden gerade behindert, unterdrückt und diffamiert wird. Diesem Prozess, als Ausgrenzung beschrieben, unterliegen Arbeiter, Schüler, Wissenschaftler, Künstler wie Reformkommunisten.

Als allererste Gruppe von "Ausgegrenzten" präsentiert das Kabarett die Arbeiter. Es wird gezeigt, dass sie sich in der sozialen Hierarchie noch immer "unten" befinden. Die Diktatur dagegen liegt in Händen der SED-Funktionäre, die "oben" stehen und das Sagen haben, gleichwohl sie nichts zu sagen haben, denn ihre Reden sind inhaltsleer und scheinheilig. Ein Arbeiter, dem der "Versammlungsleiter" auf der Bühne eben noch versicherte, dass alle frei reden könnten, bekommt in dem Moment ein Manuskript aufgezwungen, als er tatsächlich frei zu sprechen ansetzt. Daraufhin liest der Arbeiter leiernd den ihm zugeschobenen Text ab: "Ich bin ein Arbeiter, und darauf bin ich stolz." Im anschließenden Sketch "Sinn und Norm" sehen wir diesen Arbeiter in seiner Wohnung: "Immer, wenn ich mich bedrängt fühle, muss ich steppen", erzählt er. Sein (Wohn-)Ort (im Sozialismus) erlaubt ihm diese Art Bewegungsfreiheit nicht, erlaubt ihm nichts, was außerhalb einer "Norm" liegt: Er erlaubt ihm keinen gesellschaftlichen Aufstieg. Dies wird in einem Bild erzählt: Der Balkon in seinem Plattenbau weist einen "Konstruktionsfehler" auf, er ist nur einen Fuß tief, dafür jedoch ausgesprochen breit, für den "Stepptänzer" völlig ungeeignet.

Auch Schüler stellt das Kabarett als "Außenseitergruppe" vor und zielt dabei auf das DDR-Schulsystem. Singend kommt eine "Pioniergruppe" auf die Bühne marschiert: "Soll'n im Gleichschritt uns entfalten/und im Kampfe stille stehn". Das alte Arbeiterkampflied, das auch in der Bearbeitung zu erkennen ist, dient der Erinnerung an die Tradition, in der die DDR ihre Kinder zu erziehen vorgab. Es evoziert den Kampf um die Befreiung des Menschen aus der Unterdrückung. Dieser Kampf, so lautet das Argument der Szene, wird in der DDR nur noch rhetorisch geführt. Was als "Kampf" bezeichnet werde, sei Unterordnung: "Unser Kampfziel: Disziplin", heißt es im Refrain. Unter der Losung, die Persönlichkeit zu "entfalten", ginge es um das exakte Gegenteil, um die Verarmung von Persönlichkeit im "Gleichschritt", in der Anpassung und Unterwerfung. Als Belohnung dafür winke Status und materieller Wohlstand. Dies, so verkünden die alternativen "Pioniere" auf der Kabarettbühne, sei für sie nicht erstrebenswert. Von der Warte moralisch überlegener Jugendlicher aus kann das DDR-Schulsystem angegriffen werden. Damit ist im Gesamtzusammenhang des Kabarettstücks eine der Ursachen für den insgesamt thematisierten gesellschaftlichen Stillstand benannt. Zugleich findet sich hier eines der wenigen Hoffnungsmomente. Der neuen Generation wird das Potenzial zugesprochen, sich dem (Bildungs-)System, das zum Schweigen - oder aber zum Lügen - erzieht, zu widersetzen, indem sie sich weigert "nachzusprechen" und stattdessen auf Wahrheit besteht. Es ist kein Zufall, dass die Strophe, die einen direkten Bezug zwischen Lüge und SED herstellte, gestrichen werden musste: "Sah ein Knab den Vater stehn/stets auf hohem Rosse/war so klug und log so schön,/lief der Sohn ihn nah zu sehn,/sah, er ist Genosse/Aber Vaters, Vaters Rot/war nur äußre Posse."

Wie konnte dieses Programm auf die Bühne kommen, das die Zukunft und Zukunftsperspektive für die DDR an "Außenseiter", "Ausgestoßenes", "Ausgegrenztes" band und damit den allgemeinen Substanzverlust bezeichnete - ein Stück, das argumentierte, die DDR-Gesellschaft habe sich ihres Zentrums, ihrer zentralen Ideen und Ideale entledigt? In größerer Perspektive betrachtet trug dazu bei, dass Wolfgang Schaller und Peter Ensikat 1976 an der "Herkuleskeule" begonnen hatten, zusammenzuarbeiten. 1980 kam ihr erstes Kabarettstück heraus, "Bürger, schützt Eure Anlagen", in dem ein Thema komplexer, aber auch weniger pointiert ausgedeutet wurde, als dies in isolierten Kabarettnummern geschieht. In dieser Tradition stehen auch "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle". Ebenso waren die politischen Bedingungen im Bezirk Dresden kein unbedeutender Aspekt dafür, dass sich unbequemes Kabarett entwickeln konnte. Nicht umsonst galt Hans Modrow, der 1973 Werner Krolikowski als 1. Sekretär der Dresdner Bezirksleitung abgelöst hatte, als "Hoffnungsträger" in der DDR. Und nicht zuletzt spielte eine Rolle, dass Dresden ein wenig im Windschatten des Berliner Machtzentrums lag.

In Dresdner Nah-Perspektive besehen zeigt sich, dass sperriges Kabarett nur möglich war, wenn die verantwortlichen Kulturfunktionäre eingebunden werden konnten. Im Falle von "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle" sorgten Wolfgang Schaller und der Kabarettdirektor Manfred Schubert dafür, dass die zuständigen Kulturabteilungen in der Dresdner SED-Bezirksleitung, der SED-Stadtleitung, dem Rat des Bezirkes Dresden sowie dem Rat der Stadt früh in den Entstehungsprozess des Programms einbezogen wurden. Nachdem der Leiter der mächtigsten Kulturabteilung des Bezirkes, der SED-Bezirksleitung, einen detaillierten Programmentwurf erhalten hatte, notierte er: "Die Genossen der ,Herkuleskeule' übermittelten uns folgende Problemstellungen aus ihrer Sicht, zu denen sie gern sachkundige Erläuterungen in Gesprächsform als Denkanstöße hätten [. . .]." Die durchaus ironisch zu denkende strategische Bitte um "sachkundige Erläuterungen" und "Denkanstöße" richtete sich vor allem darauf, dass der Kulturfunktionär seine Bedenken offen legen sollte. Die Autoren wiederum versuchten den Widerstand, der schon qua amtlicher Funktion zu erwarten war, abzufedern, indem sie ihre Loyalität gegenüber der SED und der DDR herausstellten: "Wir sind keine Untergrundkämpfer, sondern wollen Mitstreiter und Verbündete sein, und wir werden keine Gelegenheit auslassen, das zu betonen und durch unsere Arbeit zu beweisen." Wie nötig der Kniefall war, belegen die Anmerkungen zu den Kabaretttexten, die den Autoren übergeben wurden. Sie dokumentieren, dass sich auch der Leiter der Abteilung Kultur "beleidigt" fühlte, die Satire saß. Er monierte "unsinnige, platte, grobe, undialektische Gegenüberstellungen, Unverständnis" der Autoren; zu einzelnen Texten hieß es: "Völlig absurd [. . .], es wird billig [. . .], geht mir auf den Geist, [. . .], blödsinnige Auslassungen [. . .]" Wolfgang Schaller reagierte darauf folgendermaßen: "Da wir natürlich Deine Meinungsäußerung ernst nehmen, wird jede weitere Diskussion schwierig. [. . .] Anmerkungen, die wir ganz schnell zu vergessen versuchen, werden ergänzt durch Vorwürfe, wir sollten erst einmal Marx lesen, ,bevor wir [. . .]' den ,gesamten real existierenden Sozialismus vor den Richterstuhl bringen'[. . .]. Wir haben ein Jahr an diesem Textbuch gearbeitet, mit Philosophen und Soziologen gesprochen, ja, und auch Marx gelesen. [. . .] Absicherung, dass keiner etwas missverstehen könne, auch wenn er noch so sehr missverstehen will, macht Satire unmöglich."

In Schallers Brief fällt ein wesentliches Stichwort: Absicherung. Allen beteiligten Funktionären ging es bei der Kontrolle des Kabaretts in erster Linie darum, sich selbst abzusichern, die parteiliche Wachsamkeit zu dokumentieren gegenüber der jeweils mächtigeren Parteiinstanz. Die Angriffsrichtung des Kabarettstücks erfassten sie sehr wohl, wie die Reaktionen beweisen. Es belegt die Hypokrisie des Systems, dass die interne Verständigungsmöglichkeit über ein Programm und dessen öffentliche Aufführung als zwei verschiedene Dinge betrachtet wurden. Schaut man sich an, was verändert werden musste, dann fehlen mehrere "Reizwörter" sowie eine Reihe von Textpassagen, in denen Argumente der Szene eindeutiger oder zugespitzt wurden. Die komplexe Kritik jedoch, die das Kabarettstück im Ganzen betrachtet leistete, war nicht zu zensieren. Sie wurde allerdings auf ein weniger explizites Maß zurückgedrängt und erschließt sich in großen Teilen erst im Nach-Denken. In der "Parteiöffentlichkeit" , der öffentlichen Sphäre der SED, daran gehindert, Kritik unverstellt, zugespitzt und schonungslos zu artikulieren, blieb dem Kabarett als eine Option, dass es Angebote zum Weiterdenken machte, statt seine Argumente im öffentlichen Raum des Kabaretts zu Ende zu führen. Diese Praxis indirekten Argumentierens, die das Satirische zurücknimmt, wurde nicht zuletzt durch die Vorgabe erpresst, "helfende Kritik" leisten zu sollen, das heißt, die Kritik am Zustand der DDR-Gesellschaft wenn nicht in eine optimistische, dann zumindest in eine als optimistisch interpretierbare Perspektive zu bringen. Der Rest an Optimismus, der sich in "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle" auffinden lässt, bezieht sich allerdings auf sowjetische Reformpolitik und die Hoffnung, dass diese auf die DDR übergreifen werde.

II. "Über-Lebenszeit": Eine Abschiedsvorstellung

Arbeitete sich "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle" in Glasnost-Perspektive noch am DDR-Sozialismus ab, so lässt sich das darauffolgende Kabarettprogramm "Über-Lebenszeit" als Ab- schiedsvorstellung bewerten. Es sprengt den Rahmen von DDR-Satire; es erzählt vom Ende der DDR, bevor diese tatsächlich zu Ende war, und kann so auch über die DDR selbst hinausweisen.

Diese letzte Produktion der "Herkuleskeule", die im Dezember 1988 herauskam, brachte tiefe Ernüchterung zum Ausdruck. "Über-Lebenszeit" ist ein bitteres, schrilles und gelegentlich auch aggressives Stück. Es enthüllt die Desillusionierung und Verbitterung von Autoren, die Sozialismus in der DDR für einlösbar gehalten hatten. Stattdessen sehen sie sich in einem Staat, in dem die gesellschaftliche Utopie in ihr Gegenteil umgeschlagen ist und so keinerlei Bindungskraft mehr haben konnte, und sie erleben eine Regierung, die auf die tiefe Krise, in der sich die Gesellschaft befindet, nicht zu reagieren vermag, weil sie diese leugnet. Kabarett jedoch konnte wie andere Künste damit beginnen, diese Krise zu thematisieren.

"Über-Lebenszeit" war als Revue arrangiert. "Wir haben keine Mittel - aber für eine Show ist uns jedes Mittel recht", begann die Vorstellung im Verweis auf den jämmerlichen Zustand der Massenmedien, in denen die SED noch immer über die eklatanten Probleme hinweglügen ließ sowie in Anspielung auf die Lüge des gesamten Systems wie auf die Entleerung der gesellschaftlichen Utopie. Statt wie im vorangegangenen Programm einen "auf den Kopf gestellten Sozialismus" vorzuführen, wird Sozialismus in der DDR nun als "Show-Veranstaltung" gezeigt. Er wird nur noch behauptet, lautet das Argument im Kabarett, er ist eine Fassade.

"Über-Lebenszeit" lässt erkennen, wie morsch das Gebälk der DDR war. Das Kabarettstück thematisiert den Ausverkauf moralischer Werte und die Gleichgültigkeit angesichts dieser Lage. Es belegt, als wie unerträglich verlogen die Medienpolitik und Medienpraxis der Parteipresse damals empfunden wurde, die sich noch immer darauf verpflichten ließ, (wirtschaftliche) Erfolge, Optimismus und die Überlegenheit der DDR zu ver-künden, und dabei völlig inkompatibel geworden war mit dem alltäglichen Erleben und Empfinden der Bevölkerung. Auch dies bringt die Form des Kabarettstücks zur Sprache in seiner "Revue", die nicht (mehr) gelingt, die gelegentlich durch ihre Lieder noch abzulenken und einzunehmen vermag, aber die permanent von der Realität eingeholt, "gestört" und schließlich lächerlich gemacht wird. Hatte die Politik Gorbatschows dazu geführt, in "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle" auch für die DDR Reformen anzumahnen, so heißt es nun, dass Veränderungen nicht von einem "Märchenprinzen" aus Moskau herbeigezaubert werden könnten, sondern selbst zu bewerkstelligen wären: "Endlich kommt der Märchenprinz in unsere Provinz/und sagt: Leitl, ich bedauer, tut selber was!/Nu sind wir sauer." Die Fixierung auf einen Erlöser, um die es hier geht, sollte sich realiter bald darauf nach Westen richten.

Hatte das vergangene Programm noch den Wunsch nach Reisefreiheit ins westliche Ausland formuliert - nach "Paris" und an ein "Weltmeer" -, fordert "Über-Lebenszeit" Bürgerrechte ein: Im "Lied von der großen Sehnsucht" wird von Postkarten einer Tante aus Kenia und Miami berichtet, woran sich der Wunsch anschließt: "Es muß ja, um mein Leben zu genießen, die Fürstensuite im Grandhotel nicht sein./Ich bin kein Fürst und hab nicht die Devisen./Ich will bloß Mensch im eignen Lande sein." Auch das Kabarett selbst stellt seine Rolle in der DDR nun stärker in Frage als zuvor. 1986 beschrieben sich die Kabarettisten als (Volks-) Tänzer statt Satiriker, die ihre Witzchen rissen, statt schonungslos zu kritisieren, ab und zu Prügel einstecken, aber wohlgelitten sind und, wenn sie ihre Aufgabe zur Zufriedenheit der Funktionäre erfüllen, auf Gastspiele im Ausland hoffen dürfen: "Hopsa, Kabarettl, dreh dich um, verlaß dei Brettl,/Hopsa, laß Satire, dreh dich um und tanz./Hopsa, mach ka Witzl, sonst kriegst du noch an's off's Mitzl,/Latsch ni mehr ins Pfitzl, sprich ka Wort und tanz./Hopsa, dreh dich bissel, kriegst oa amtliches Kissel./Kimmst nach Wien und Brissel, wenn de bissel tanzt." 1988 fällt die Selbstpersiflage bitterer aus. Die Kabarettisten beschreiben sich als "Stimmungsliedermacher der Nation" , die bei jedem "Stimmungstief", jeder Krise der DDR, zur Kompensation benutzt würden, die wechselnden "Göttern" dienten und deren Scherze die Verbrechen gefallener Götter verharmlosten: "Wir liebten unser Väterchen. Dann mußten wir erfahren,/daß die Taten Väterchens so väterlich nicht waren./Doch um Euch von der Nachricht von Millionen/Opfern unseres Väterchens zu schonen,/klang es so, wenn wir davon in unsren Liedern sangen,/als hätt er in der Schonzeit ein paar Hasen eingefangen." Die Perspektive hat sich hier erweitert und kündigt das Ende der DDR auch darin an, dass ein kritischer Rückblick auf ihre Geschichtsverfälschungen vorgenommen wird.

Noch heute erschließt sich die große Intensität dieses Programms. Seismographisch präzise zeichnet sich der gesellschaftliche und politische Zustand der DDR in den späten achtziger Jahren ab. Die Form - eine Revue - erfasst die Doppelzüngigkeit, Verlogenheit wie auch den Zynismus der Zeit wie zugleich das bitterböse und auch ratlose Leiden an dieser Misere, am eklatanten Werteverlust in seiner Paarung mit krudem Materialismus, Egoismus und Korruption. Diese Endzeitstimmung bestimmte nicht zuletzt auch das Verhalten der zuständigen Funktionäre. Hatte es um die 1986er Produktion lange Auseinandersetzungen gegeben und größere Aktivititäten der Staatssicherheit, die ihre Spuren hinterlassen haben, so scheinen sich die zuständigen Genossen bei "Über-Lebenszeit" nicht mehr mit vollem Einsatz engagiert zu haben. Vielmehr lässt sich ein gewisses Zurückweichen und die Desorientierung der Dresdner Kulturfunktionäre erkennen als Zeichen einer gesellschaftlichen Notsituation, in der man der "Stimmungsliedermacher" bedurfte und sich von ihnen Entlastung versprach angesichts einer aufgeheizten Stimmung.

Nach wie vor im Vordergrund stand auch damals die Angst der Funktionäre um die eigenen Posten und die Frage nach Verantwortlichkeiten für dieses Programm. Als der Staatssekretär und Stellvertretende Minister für Kultur aus Berlin anreiste und den unteren Chargen in Dresden die Stichworte vorgab, indem er das Programm als "Novum aufgrund des Revuecharakers" bezeichnete und damit affirmierte, erkannten die Dresdner Funktionäre die "Vorgabe des Ministers" nur allzu gerne an. Damit waren sie die Verantwortung für das Programm los. Heftig gerungen wurde kurz darauf noch um die Erlaubnis, das neue Programm bei einem Gastspiel in München im April 1989 aufführen zu dürfen. Hätte "Über-Lebenszeit" nach Dafürhalten des Rates des Bezirks Dresden zunächst gar nicht gezeigt werden dürfen, konnte die "Herkuleskeule" einen Kompromiss erzwingen und zwei Vorstellungen in München mit dem neuen sowie zwei weitere mit dem alten Programm geben.

So lief ab Dezember 1988 in Dresden ein Programm, von dem sich auch die Staatssicherheit eine gewisse Entspannung der Lage erhoffte: "Die Autoren Ensikat und Schaller haben wieder gemeinsam mit Gisela Oechelhaeuser Texte einstudiert, die nur für das Kabarett geeignet sind." Zu diesen "nur" für die Kabarettbühne geeigneten Texten zählte der MfS-Mitarbeiter vor allem den "Turnverein mit dem Vorturner Bernhard - und was hier gemeint ist, kapiert man -, das ist eine Nummer, die gegen die Überalterung in der Parteispitze gerichtet ist". Denn auf der Bühne der "Herkuleskeule" stand damals auch Erich Honecker: In Gestalt des Vorturners "Bernhard". Hinter ihm führte das Politbüro "Opas Turnverein" die Übungsrituale aus: "Wir sind vereint im Turnverein wie andere im Chor./Und Bernhard, der am besten turnt, der turnt uns immer vor. [. . .]/Klatscht der Bernhard in die Hände, klatschen alle in die Hände./Und fängt er an zu hampeln,/ei, wie wir alle strampeln. [. . .]."/Wir kennen jede Übung und wir denken längst nicht mehr./Wir turnen immer nach und hinken immer hinterher [. . .]."

Dass diese erste verhältnismäßig unverstellte Kritik am Politbüro - das als Turnverein gezeigt wird, der mechanisch und gedankenlos seinem Vorturner folgt und sich selbst feiert - auf einer DDR-Kabarettbühne aufführbar war, lag daran, dass sie vor "Bernhard" selbst Halt machte. Er steht vorn, heisst es, weil er am "besten turnt". Jedoch belegt diese inzwischen berühmt gewordene Szene die Annäherung an die wesentliche Tabuzone und Herausforderung für satirische Kritik in der DDR: die SED-Führung selbst. In Berlin wurde derlei Kabarett damals noch als "konterrevolutionär" gebrandmarkt. Diese Bemerkung des Berliner Kabarettdirektors und Mitglieds der Berliner SED-Bezirksleitung wirft ein Licht darauf, dass die Front der Genossen nicht mehr geschlossen war: In Dresden wurde gespielt, was in Berlin in Acht und Bann getan wurde. Eben dies ist der Grund, weshalb "Über-Lebenszeit" zunächst nicht in München gespielt werden sollte - im Bewusstsein, dass genau diese Szene via West-Fernsehen auf die Bildschirme des Ostens kommen würde.

Als ein halbes Jahr nach dem Gastspiel die Mauer gefallen war, wurden mit dem Ende der Parteiöffentlichkeit die Tabus, die für das DDR-Kabarett so nachhaltig durchgesetzt worden waren und gegen die Kabaretts immer wieder in zähen Nervenkriegen anrannten, endgültig zu Geschichte. Es gab niemanden mehr, gegen den man etwas hätte durchsetzen müssen. Die Kleinkriege und Rücksichtnahmen der vergangenen Jahre schienen mit einem Mal absurd. Die "Öffentlichkeit" der SED war zusammengefallen, die SED als die entscheidende Reibungsfläche bedeutungslos geworden. Damit hatten sich der Platz und die Funktion des Kabaretts verschoben: Gespottet wurde nun auf der Straße.

Für einige Zeit operierte das ostdeutsche Kabarett auf unsicherem Terrain: Nicht nur war der Zweck seines Handelns, sein Fokus, die Objekte seiner satirischen Attacken ungewiss, es musste auch seine künstlerischen Strategien überdenken in einer sich für die Ostdeutschen radikal verändernden Öffentlichkeit, in der Andeutungen angesichts befreiter öffentlicher Rede ihren Sinn verloren hatten. Die Identität der Kabaretts stand auf dem Prüfstand. Da es den Instanzen nicht mehr unterworfen war, an denen es sich (auf)gerieben, gegen die es kleine Siege errungen und auch Niederlagen eingesteckt hatte, die es gelegentlich verlacht, ironisiert und auch zunehmend kritisiert hatte, war es nun mit einem Mal mit Ungewohntem konfrontiert: Es war auf sich selbst zurückgeworfen. Aus der alten Zwangsgemeinschaft befreit, dem Arrangement mit der wie der Fixierung auf die Staatspartei, musste (auch) das Kabarett den "Sklaven tropfenweise aus sich herauszupressen" versuchen.

In dieser Situation spielte die "Herkuleskeule" ihr Programm "Über-Lebenszeit" mit "Opas Turnverein" bis 1991 weiter. Das Kabarett hielt insgesamt an der alten Form fest, aktualisierte mehrfach die Conférencen, veränderte und ergänzte einige der Szenen und nannte sein Programm schließlich ab dem Herbst 1990 "Überleben-Übergeben". Darin findet sich nicht zuletzt auch belegt, dass das Dresdner Kabarett auch mit "Über-Lebenszeit" der SED nicht nach dem Munde geredet, sondern vielmehr präzise die Stimmung der Zeit und seines Publikums erfasst hatte. Eine andere Produktion wäre im Herbst 1989 unweigerlich Makulatur geworden. Zugleich korrespondierte die Desillusionierung, die dieses Stück von 1988 zum Ausdruck brachte, auch mit der psychischen Situation der Wendezeit.

III. "Perlen vor die Säue": Ortsbestimmung

1995 konnte man den "Turnverein" noch einmal sehen. Dieses Programm nun, "Perlen vor die Säue - Texte aus zehn Jahren", konnte die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit aus einem fünfjährigen Abstand heraus ins Zentrum eines Kabarettabends rücken. Die eigene Textproduktion seit 1985 gibt hier den Anlass, nachdenklich und (selbst)kritisch auch über persönliches Versagen zu debattieren - darüber, sich zu schnell unterworfen, zu wenig gewagt zu haben und zu leicht Kompromisse eingegangen zu sein. Ebenso wird daran erinnert, woraus die "Herkuleskeule" als DDR-Kabarett ihr Selbstverständnis und ihre Selbstachtung bezogen hatte, an die Hoffnungen auf eine bessere und gerechte Gesellschaft, die sich später als Illusionen erwiesen hatten. Damit kommen hier auch Verlusterfahrungen zur Sprache. Das alles konnte Mitte der neunziger Jahre mit reichlich Selbstironie und Sarkasmus vorgetragen werden. Die aktuelle Begründung für dieses Programm über Vergangenheit bestand im Unbehagen am verfälschenden und verlogenen Umgang der ostdeutschen Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit.

In einer aktuellen Conférence amüsieren sich drei Kabarettisten über Opportunismus in der DDR. Dies geschieht am Anfang schmunzelnd, fast versöhnlich, im Gestus komplizenhaften Einverständnisses mit dem Publikum. Abwechselnd tragen sie aus dem Fundus der Selbstverpflichtungen in der DDR vor: "Nur noch schnell ein paar Zeitungsmeldungen: [. . .] 1. 12. 88: Die Geflügelzüchter des Geflügelzuchtkombinats ,Winni Mandela' verpflichten sich, in Vorbereitung der 7. Tagung des ZK der SED täglich 20 Eier . . ." Vor Lachen kann der Darsteller nicht weiterreden, und das vorhersehbare Zitatende geht unter. Die Verpflichtung der Geflügelzüchter wirkt nicht mehr ganz so komisch, wenn auf der Bühne als Nächstes aus einem Brief der "Herkuleskeule" selbst zitiert wird, den das Ensemble am 3. Oktober 1971, kurz vor dem 22. Republiksjubiläum, an Erich Honecker gerichtet hatte: ". . .Wollen wir Kabarettisten der Herkuleskeule als verlängerter Arm der Partei mithelfen, die Beschlüsse des Parteitages . . . Es folgen Unterschriften von . . ." Hier verhustet sich ein peinlich berührter Kabarettist. Die Konfrontation mit der eigenen "Schande" bietet den Anlass, wohlfeile Verteidigungs- und Verdrängungsstrategien bloßzustellen. Die im Szeneneingang vorgeführte Verharmlosung von Opportunismus, indem man diesem lediglich die absurden und lächerlichen Momente abgewinnt wie im Falle der Geflügelzüchter, wird nun in Bezug auf das eigene Versagen ergänzt um die beliebte Beschwichtigungsformel: "Das hat doch damals keiner ernst gemeint." Der Ältere gibt gegenüber den bohrenden Fragen der jüngeren Kabarettistin die damalige Haltung als taktisches Verhalten aus: "Wir wollten unsere Ruhe, damit wir umso schärfer auf der Bühne schießen konnten," und behauptet sie schließlich - in die Enge getrieben - sogar als überlebensnotwendig: "Die Dinosaurier ham sich ni angepasst. Und was hatten sie davon? Ausgestorben sind se!" Die Attacke richtet sich unverkennbar auf angepasstes politisches Verhalten in der Vergangenheit wie auf die aktuellen selbstgerechten Verdrängungen und Legitimierungen. Sie seziert die dürftigen Rechtfertigungen für das Elend bequemen Opportunismus, willfährigen Gehorsams und permanenter Abwehr von Verantwortung.

Am Ende der Szene wird dieser Umgang mit Vergangenheit in historische Traditionslinien gestellt. Die DDR erscheint im Licht deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es geht um die individuelle Verantwortung für diese Geschichte: "Kein Honecker hat die Mauer gebaut. Ihr wart selbst die Erbauer!" und "Nicht die Deutschen wurden unter Hitler unterdrückt. Sie waren selbst die Unterdrücker". "Das ham doch alle gemacht", lautet der klägliche Entlastungsversuch. Im größeren historischen Zusammenhang können die Konsequenzen sichtbar werden, wenn sich die Masse der Bevölkerung wegduckt und habituell einem "Bernhard" folgt.

In die Erinnerung an (wechselnde) Gefolgschaften bezieht die "Herkuleskeule" erneut die eigene Geschichte ein: Sie wiederholt als letzte Nummer vor der Pause die Szene "Opas Turnverein" von 1988 - um nach der Pause mit einer neuen Fassung einzusetzen: "Ein Bernhard ging. Ein Bernhard kam. Doch unser Turnverein,/der blieb, denn einer findet sich, der will der Bernhard sein. [. . .] Tritt uns Bernhard in die Flanke,/dann rufen alle: Danke!/So muß es sein/in einem Turnverein./So muß es sein/im deutschen Turnverein . . ."

Zum einen kommentiert die Szene nun Opportunismus und Gehorsam als (gesamt)deutsche Untugenden. In dieser Tradition sehen sich die Kabarettisten auch ausdrücklich selbst. Sowohl in der Erinnerung an die alte Textfassung, die sie gleichfalls als Turnverein zeigt, der sich in der DDR dem Kommando lokaler wie dem des höchsten "Bernhard" unterworfen hatte, als auch in der Feststellung, noch immer zu einem "Turnverein" zu gehören, der sich "führen [lässt] beim Strammstehen und Rühren" . Zum anderen gibt die Szene, die den Wechsel der "Bernhards" nach 1989 konstatiert, dem Gefühl Ausdruck, um eigene politische Gestaltungsmöglichkeiten gebracht worden zu sein. Damit wendet sich der satirische Kommentar wieder der Gegenwart zu. Im "Jugendsolo" richtet er sich auf den neuen Opportunismus. Hier attackiert er die Opferposen und die selbstgerecht betriebene Jagd auf "Täter" des alten Regimes, wenn es darum geht, sich im neuen Staat günstig zu platzieren. Wenn heute jeder ein Opfer des DDR-Regimes gewesen sein will, so zeige sich darin lediglich eine alte Haltung: die Gewissenlosigkeit, persönliche Vergangenheiten opportun umzudeuten. Wir alle tragen Verantwortung für Geschichte, lautet das Argument der Szene: "Und keiner im Osten war schuld. Alles Widerstandskämpfer. 16 Millionen Opfer suchen 16 Millionen Täter. Und keiner findet sich. Finden sich alle am Freßnapf wieder."

Es fehle ein vor allem selbstkritischer Blick auf unsere Vergangenheit, moniert die "Herkuleskeule" in diesem Programm. Denn erst daraus ließe sich couragiertes Handeln in der Gegenwart begründen, auch in Bezug auf die rechtsradikale Jugendkultur: "Ihnen graust vor denen, die zuschlagen? Mir graust's vor denen, die weggucken." Diese Herausforderung, nicht wegzugucken, bezeichnet das Grundverständnis politischen Kabaretts. Auch die Kabarettisten selbst sehen sich vor der Aufgabe, den tradierten Hang zum "Turnverein" zu bekämpfen. Darin, dass diese Prägungen kritisch offen gelegt werden, dass sich die "Herkuleskeule" auch dem eigenen Opportunismus in ihrer - insgesamt alles andere als unrühmlichen - Vergangenheit stellt und aus dieser Position die Haltungen Ostdeutscher attackieren kann, lässt sich nicht weniger als der konsequente Ansatz erkennen, ostdeutsche politische Satire zu begründen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. SED-Bezirksleitung Dresden, Abt. Kultur, Cassier: Aktennotiz zur Sofortinformation betr. neues Programm der Herkuleskeule vom 24. 6. 1986, in der der Vorwurf des Leiters der Abteilung Kultur im Dresdner Rat des Bezirks, Schumann, festgehalten ist. SächHStA IV E-2/9/02/570. (Säch HStA = Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden).

  2. "Es war immer von allen ein Lavieren", beschrieb Wolfgang Schaller zutreffend die Art der Auseinandersetzung von Seiten der Kulturabteilung in der Dresdner SED-Bezirksleitung sowie im Rat des Bezirkes Dresden. Vgl. Interview der Autorin mit Wolfgang Schaller am 4.3.1999 in Dresden.

  3. "Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist; er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an." Kurt Tucholsky, Was darf die Satire?, in: ders., Deutschland, Deutschland unter anderen, Berlin 1957, S. 11.

  4. ThStAR, Rat des Bezirkes Gera, BKS 65, "Inhaltliche Zielstellung" zur Vorbereitung der 5. Werkstatt-Tage der Kabaretts 1987, Ministerium für Kultur, Abt. Unterhaltungskunst, 2. 5. 1986, S. 2 (ThStAR = Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt).

  5. Alle Zitate nach dem letzten Textbuch von "Auf Dich kommt es an, nicht auf alle." Eine Außenseiterkonferenz mit Diskussionsbeiträgen von Peter Ensikat und Wolfgang Schaller, Privatarchiv der "Herkuleskeule" Dresden, "Eröffnung", S. 3.

  6. Ebd.

  7. Originalzitat aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx bei Stephan Hermlin, Abendlicht, Leipzig 1979, S. 23.

  8. Stephan Hermlin hatte 1979 die Umdeutung und Umkehrung des Gedankens beschrieben. Vgl. ebd.

  9. "Auf Dich kommt es an . . ." (Anm. 5), "Referat", S. 7.

  10. "Auf Dich kommt es an . . ." (Anm. 5), "Einmarsch der Pioniere", S. 25.

  11. Ebd., S. 26.

  12. Zu den Produktionsumständen vgl. Sylvia Klötzer, Herrschaft und Eigen-Sinn: "Die Herkuleskeule" Dresden, in: Sigrid Bauschinger (Hrsg.), Die freche Muse/The Impudent Muse: Literarisches und politisches Kabarett von 1901 bis 1999, Tübingen - Basel 2000, S. 179-194.

  13. Zur "Herkuleskeule" in der "Ära Honecker" vgl. auch Dietmar Jacobs, Untersuchungen zum DDR-Berufskabarett in der Ära Honecker, Frankfurt/M. u. a. 1996.

  14. Aktennotiz der SED-Bezirksleitung Dresden, Abt. Kultur (Dr. Peter Cassier) vom 30. 1. 1985 "Betr.: Vorbereitung eines neuen Programms durch das Kabarett ,Die Herkuleskeule`", SächHStA, IV E-2/9/02/570.

  15. Schreiben Wolfgang Schallers an Dr. Cassier, SED-Bezirksleitung Dresden, Abt. Kultur, vom 6. 9. 1985, in: ebd.

  16. Zitiert nach einem Brief Wolfgang Schallers an Dr. Cassier (Bezirksleitung Dresden) vom 1. 8. 1986, in dem er aus dessen Notizen zitiert und seine Position verteidigt, SächHStA IVE-2/9/02/570.

  17. Ebd.

  18. Peter Uwe Hohendahl, Recasting the Public Sphere, in: October, (Summer 1995) 73, S. 27-54, S. 45.

  19. Premiere: 17. 12. 1988, Texte: Wolfgang Schaller und Peter Ensikat, Regie: Gisela Oechelhaeuser.

  20. Alle folgenden Zitate aus dem Textbuch von "Über-Lebenszeit", Privatarchiv der "Herkuleskeule" Dresden.

  21. "Über-Lebenszeit" (Anm. 20), S. 38.

  22. Vgl. "Auf Dich kommt es an . . ." (Anm. 5), "Das Geständnis", S. 13.

  23. "Über-Lebenszeit" (Anm. 20), "Lied von der großen Sehnsucht", S. 9.

  24. Vgl. "Auf Dich kommt es an . . ." (Anm. 5), "Neue Volkslieder", S. 36.

  25. "Über-Lebenszeit" (Anm. 20), "Die Stimmungsliedermacher", S. 31.

  26. Ebd.

  27. Aktenvermerk über Absprache zu neuem Programm "Über-Lebenszeit" vom 4. 1. 89, BStU, MfS (Dresden), AOP 3337/91 Bd. I, Bl. 93-94, Bl. 93 (BstU = Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR).

  28. Zur Auseinandersetzung um das Tourneeprogramm vgl. BStU, AIM (Dresden) 3091/91 Beiakte, Aktenvermerk der MfS-KD Dresden Stadt, 17. 3. 1989, Bl. 31.

  29. Bericht zum neuen Programm der Herkuleskeule "Über-Lebenszeit", gez. Sommer, 27. 12. 1988, BStU 3091/91/54.

  30. "Über-Lebenszeit" (Anm. 20), "Opas Turnverein", S. 19.

  31. Tschechow-Zitat bei Christa Wolf, Das haben wir nicht gelernt, in: Petra Gruner (Hrsg.), Angepasst oder mündig? Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989, Berlin (Ost) 1990, S. 12.

  32. Zitiert nach Textbuch "Perlen vor die Säue. Ein Zeitvergleich. Texte aus zehn Jahren von Wolfgang Schaller". Privatarchiv der "Herkuleskeule" Dresden.

  33. Ebd, S. 23.

  34. Ebd.

  35. Ebd.

  36. Ebd., S. 24

  37. "Perlen vor die Säue" (Anm. 32), "Opas Turnverein, 1995", S. 26.

  38. Ebd., Jugendsolo", S. 27.

  39. Ebd.

Ph. D., geb. 1952; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität "Viadrina" Frankfurt (Oder).

Anschrift: Fakultät für Kulturwissenschaften, Große Scharrnstr. 59, 15230 Frankfurt (Oder).
E-Mail: kloetzer@rz. uni-potsdam.de

Veröffentlichungen u. a.: Über den Umgang mit heißen Eisen, in: Simone Barck u. a. (Hrsg.) Zwischen ,Mosaik' und ,Einheit'. Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999; Wir haben immer so nach vorne gelebt. Erinnerungen und Identität bei Monika Maron, in: German Monitor (i. E.).