Deponierte Schätze. Archäologien des Mülls als Spiegel der Gesellschaft - Essay
Aus den Augen, aus dem Sinn?
Wer sich vor Augen führt, dass ein Kind, das in einem Industrieland geboren wird, innerhalb der ersten sechs Lebensmonate so viel Abfall hinterlässt wie ein Mensch in einem Entwicklungsland in seinem ganzen Leben, mag sich darüber wundern, wie wenig der Müll im Alltag zum Vorschein kommt. Zum einen hat dies damit zu tun, dass wir den Abfall – rund 600 Kilogramm fallen pro Jahr pro Person in Deutschland an – tagtäglich in farbige Tonnen und Container stecken, die ihrerseits nicht selten hinter Zäunen und Mauern versteckt sind. Zum anderen wird ein Teil unseres Mülls ins Ausland verfrachtet. Dies gilt vor allem für Elektroschrott. Hier gilt die Devise: aus den Augen, aus dem Sinn. In den Hinterhofbetrieben von Schwellenländern werden die wertvollen Metalle, etwa aus den Motherboards von Computern, ausgebaut. Immerhin 250 bis 300 Gramm Gold – 50 Mal mehr als im Goldbergbau – finden sich in einer Tonne mit Leiterplatten. Dass Elektroschrott Edelmetalle enthält, die einen hohen Wiederverwertungswert besitzen, hat den ehemaligen Chefökonom der Weltbank, Lawrence H. Summers, zu der zynischen Aussage veranlasst, man solle den Schrott in die am wenigsten entwickelten Länder exportieren, da die Lebenserwartung dort ohnehin niedrig sei und der Müll die ökonomische Situation der Menschen verbessere.[14] Wie Rosinen aus einem Kuchen picken Arbeiterinnen und Arbeiter in Afrika und Asien Metalle – neben Gold auch Silber, Kupfer, Zinn und Palladium – aus den Computern. Von den beim Verkauf erzielten Gewinnen sehen sie fast nichts, stattdessen bezahlen sie mit ihrer Gesundheit, denn die Umweltbelastungen sind horrend.In Europa gibt es strenge Gesetze, die die regionalen und globalen Müllströme regulieren. Wer aber genau wissen will, wohin die ausrangierten elektronischen Geräte wandern, stößt rasch an Grenzen. Die Spuren von Altgeräten verlieren sich. Zwar tragen in der Europäischen Union die Produzenten die Verantwortung für die Entsorgung des Elektromülls. Die haben sie aber, meist gegen eine geringe Zahlung, an unterschiedliche Akteure abgegeben, je nach Land: an Gemeinden, an den Staat, an Händler oder Unternehmen. So kommt es, dass sich über den Verbleib von mehr als neun Millionen Tonnen Elektromüll, der in der EU alljährlich anfällt, nur wenig sagen lässt. Heute wissen wir zwar auf die Minute genau, wohin Elektrogeräte ausgeliefert werden, aber über ihre Weiternutzung oder Verschrottung ist wenig bekannt. Doch je mehr "Gold" im Müll steckt, desto mehr – so viel lässt sich prophezeien – werden sich Unternehmen zukünftig darum bemühen, den Weg von Elektrogeräten besser nachzuverfolgen.[15]