Die Nummer 10 mit Migrationshintergrund. Fußball und Zuwanderung im Ruhrgebiet
Der Fußballsport spielt europaweit eine wichtige Rolle für die bergmännische Kultur: als aktiv betriebener Sport und als Zuschauersport. Beispiele für Fußballvereine, die eine besondere Bedeutung für die regionale Identität und für die Einwohner in Bergbauregionen besitzen, sind zahlreich: vom Nordosten Englands im "Mutterland" des Fußballs, "Where coal was king and football was a religion", mit Vereinen wie dem AFC Sunderland und Newcastle United über die Regionen, aus denen Menschen zur Arbeit ins Ruhrgebiet kamen, wie Górnik (Bergmann) Zabrze in Oberschlesien und Kömurspor (Kohlensport) in der Kohleregion von Zonguldak in der nördlichen Türkei.[1] Zum Kohlerevier an der Ruhr zog es seit den 1890er Jahren Hunderttausende polnisch und masurisch sprechende Menschen. Hier sind deshalb über mehrere Generationen Menschen mit Migrationsbiografien in den Fußballvereinen präsent. Die Namen von Spielern mit polnischer oder masurischer Herkunft finden sich mit über 50 Erwähnungen auch in der deutschen Fußballnationalmannschaft.[2] Vereine wie Rot-Weiss Essen, der deutsche Meister von 1955, und der siebenfache Meister Schalke 04 zählten seit den 1920er Jahren zahlreiche Spieler mit polnischen Namen in ihren Reihen. Die "neue" Migration nach dem Zweiten Weltkrieg setzte diese Tradition fort. Der 92-fache Nationalspieler Mesut Özil mit der Nummer 10 des Spielmachers auf dem Deutschlandtrikot, der bis zum Sommer 2018 ein Schlüsselspieler der Nationalelf war, wurde in Gelsenkirchen geboren, spielte unter anderem für Rot-Weiss Essen und Schalke 04.Schimanski spielt Fußball: Polen und Masuren im Ruhrgebietsfußball
Die Zuwanderung von polnisch sprechenden Menschen aus den Ostprovinzen Preußens war unter anderem der agrarischen Überbevölkerung im Osten und den besseren Lebensperspektiven an der Ruhr geschuldet.[3] Aus Ostpreußen wanderten Masuren.[4] Sie sprachen einen altpolnischen Dialekt und unterschieden sich von den Polen durch ihren evangelischen Glauben und ihre preußentreue Haltung. Die einheimische Bevölkerung ignorierte solche Unterschiede. Vor 1914 kann im Revier geschätzt von einer polnischen Wohnbevölkerung von etwa 300.000 bis 400.000 Menschen ausgegangen werden,[5] dazu kam noch etwa die Hälfte an Masuren. Die polnischen Zuwanderer, die die preußische Staatsangehörigkeit besaßen und in der Regel im Bergbau beschäftigt waren, organisierten bald ihre eigene Zivilgesellschaft in einem weit differenzierten Vereinswesen, zu dem auch Turnvereine, die sogenannten Sokolvereine, gehörten.[6] Diese Klubs vereinten die männlichen polnischen Zuwanderer im Geiste eines polnischen Nationalismus.Fußball war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg keine Angelegenheit des Proletariats, sondern der neuen Klasse der Angestellten, die versuchte, sich im modernen Sport zu vergesellschaften.[7] Mit dem Ende des Krieges änderte sich diese Situation von Grund auf: Die polnische Kolonie an der Ruhr löste sich durch Rückwanderung in den wieder gegründeten polnischen Nationalstaat und in die Kohlengruben Nordfrankreichs, Belgiens und der Niederlande zum großen Teil auf.[8] Gleichzeitig erlebte der Fußballsport einen fulminanten Take-off. Der Westdeutsche Spielverband, zu dem die meisten Ruhrgebietsvereine gehörten, erhöhte seine Mitgliedszahl von 140.000 Mitgliedern in 900 Vereinen im Jahr 1920 auf 250.000 Mitglieder in 1700 Vereinen im Jahr 1925.[9] In der Nähe zu den großen Zechen des Ruhrgebiets entwickelten sich bald Mannschaften mit überwiegend proletarischen Mitgliedern und proletarischem Anhang, unter anderem aus dem Umfeld der polnischen und der masurischen Migration. In vielen Vereinen des Reviers finden sich jetzt Menschen mit polnischen beziehungsweise masurischen Namen. Ein Beispiel ist Rot-Weiss Essen: Dem Verein traten seit 1919 zahlreiche Mitglieder mit einschlägigen Namen bei. Diese stellten bis 1939 etwa zehn Prozent der Mitgliedschaft und rekrutierten sich häufig aus Arbeitern der Zeche Emscher in der Nachbarschaft.[10] Auch im sozialistischen Arbeitersport des Ruhrgebiets erscheinen jetzt Sportler mit polnischen Namen.[11] Die aktive Mitgliedschaft als Fußballer in einem Verein des Reviers gewann für die Nachkommen der Migranten aus dem 19. Jahrhundert den Charakter einer rationalen Wahl zur Verbesserung ihrer sozialen Situation und ihrer Wertschätzung.[12] Der höherklassige Fußball im Ruhrgebiet wurde bald stark von Spielern mit einer polnischen oder masurischen Migrationsbiografie geprägt: Von 15 Vereinen, die 1937/38 in den Ligen Westfalen und Niederrhein um die Gaumeisterschaft spielten, schickten alle "in mindestens einer Begegnung Spieler mit polnischen Familiennamen wie beispielsweise Rodzinski, Pawlowski, Zielinski, Sobczak, Lukasiewicz, Tomaszik oder Piontek auf das Spielfeld".[13] Unter allen Spielern, die eingesetzt wurden, führten in dieser Saison 68 einen polnischen Nachnamen. Auch die zeitgenössische deutsche Fußballnationalmannschaft hatte mit Szepan, Kuzorra, Gellesch, Urban, Kobierski, Zielinski und Rodzinski solche Spieler im Tableau.