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Creative Gaming Zum subversiven Potenzial digitaler Spiele

Andreas Hedrich Christiane Schwinge

/ 15 Minuten zu lesen

Games sind hervorragende Türöffner, um pädagogische, gesellschaftliche und kreative Prozesse zu initiieren. Das funktioniert nicht zuletzt deshalb so gut, weil Spielen konstitutiv für das Menschsein ist und der Regelbruch dabei eine essenzielle Rolle einnimmt.

Seit es digitale Spiele gibt, gibt es Menschen, die versuchen, Spielsysteme und ihre Technologien zu verändern, deren Grenzen auszuloten oder neu zu erfinden. Bisweilen unbewusst nehmen Spieler*innen ihre Spiele in Besitz, werfen einen Blick hinter die Kulissen der Programmierung oder der wirtschaftlichen Verwertung – und erschaffen auf diese Weise manchmal etwas ganz Neues. Diese Art der kreativen Aneignung, durch die sich die Perspektive auf ein Alltagsmedium komplett verändern kann und in deren Praktiken großes medienpädagogisches Potenzial liegt, nennt sich "Creative Gaming".

2007 schlossen sich in Deutschland Medienpädagog*innen, Medienkünstler*innen, Wissenschaftler*innen und Game-Designer*innen zur Initiative Creative Gaming zusammen, um ebendieses Potenzial nutzbar zu machen, subversive, künstlerische und pädagogische Zugänge rund um digitale Spiele zu erforschen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu tragen. Dies geschieht unter anderem durch aktive Medienarbeit, die – verkürzt ausgedrückt – darauf zielt, die Spiellust von Gamer*innen, den Perspektivwechsel von Künstler*innen und den bewussten Einsatz von Medienpädagog*innen miteinander zu verbinden. Das Ziel aller medienpädagogischen Angebote ist es dabei, Perspektivwechsel, Reflexion und eine praxisorientierte Übertragung des Gelernten in die Gesellschaft anzuregen. Auf diese Weise sollen Möglichkeiten geschaffen werden, scheinbar unveränderliche Systeme zu verstehen und diese durch das erworbene Wissen zu verändern – was nicht nur medienpädagogisch, sondern auch für die politische Bildung bedeutsam ist.

Digitale Spiele gehören heute zu den beliebtesten Unterhaltungsmedien. Die meistgenutzten Spiele, die sogenannten Triple-A-Titel, sind als Massenmedien nicht dafür bekannt, dass sie gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen oder zu einer medienkritischen Reflexion anregen. Games, die dies tun, fristen eher ein Nischendasein in der Indie-Szene, auch wenn die thematischen Spektren zunehmend aufgebrochen werden. Allerdings können bestimmte kulturelle Praktiken, die Gamer*innen auf "ihre" Games anwenden, zu ebenjener kritischen Auseinandersetzung führen. Im Folgenden wollen wir einige dieser Praktiken vorstellen, auf weitere Grundlagen des Creative Gaming eingehen und darauf aufbauend die pädagogischen Möglichkeiten aufzeigen, mit Games kreativ zu werden.

Kreativ werden

"Hey." – "Yeah?" – "You ever wonder why we’re here?" Mit diesem Dialog beginnt die Serie "Red vs. Blue". Erschienen ist die erste Folge "Why Are We Here?" am 1. April 2003. Das Besondere: Wir sehen in dieser Szene nicht zwei Menschen, die sich unterhalten, sondern zwei Computerspielfiguren aus dem Ego-Shooter "Halo" (2001). Die beiden Hauptcharaktere Grif und Simmons, zwei Soldaten des Teams Red, stehen mit gezückten Waffen in einem Canyon. Auf seine Frage erhält Simmons die existenzialistische Gegenfrage: "It’s one of life’s great mysteries, isn’t it? Why are we here? I mean, are we the product of some cosmic coincidence, or is there really a God watching everything?" Doch Grifs philosophische Abhandlung läuft ins Leere, und Simmons stellt klar, dass sich seine Frage darauf bezog, warum sich die beiden gerade inmitten eines Canyons befinden. Es folgt ein Dialog über die Sinnhaftigkeit ihres roten Stützpunkts, die sich letztlich ausschließlich durch die Präsenz des gegnerischen blauen Stützpunkts auf der anderen Seite des Canyons begründe.

Die Serie "Red vs. Blue" ist ein gutes Beispiel dafür, wie Games als kreatives Werkzeug genutzt werden können und dadurch – indem die eigentlichen Spielregeln ignoriert werden – ein gänzlich neues Medium produziert wird. Denn ihre Produzent*innen bedienten sich einer bis dato eher unbekannten Technik des Animationsfilms: dem "Machinima". Diese Wortschöpfung aus Machine, Animation und Cinema, bezeichnet Filme, die mit dem Herzstück eines Games, der sogenannten Engine, die unter anderem die Physik eines Spiels bestimmt, produziert werden. Bei "Red vs. Blue" wurden Sequenzen aus dem Computerspiel "Halo" im Multiplayer-Modus mithilfe eines Bildschirmaufnahmeverfahrens gefilmt und anschließend vertont. Da die Figuren Helme mit heruntergeklappten Visieren tragen, entstehen erst durch die nachträglich produzierten Dialoge richtige Charaktere. Bereits damals fand die Serie einige Beachtung, wenn auch in einem kleineren Rahmen als heute – mittlerweile sind mehrere Staffeln unter anderem beim Streamingdienst Netflix abrufbar. Die Produktionsfirma Rooster Teeth rund um ihren Gründer Michael Justin "Burnie" Burns bringt dabei immer wieder Metaperspektiven auf Games und Filme ein, etwa durch den häufigen Einsatz klassischer filmischer Stilmittel.

Einen anderen subversiven Zugang in der Auseinandersetzung mit digitalen Spielen eröffnet der Medien- und Konzeptkünstler Aram Bartholl: Mit Installationen und Interventionen, die Elemente aus populären digitalen Spielen in den öffentlichen Raum transferieren, lässt er Digitales analog werden. So bezog er sich mit seiner Arbeit "WoW" (2006–2009, Abbildung 1) auf das massively multiplayer online roleplaying game (MMORPG) "World of Warcraft" (2004), das zu den beliebtesten Online-Spielen überhaupt gehörte. In dem Spiel geht es darum, mit einem Spielcharakter bestimmte Aufgaben, sogenannte quests, zu lösen, wofür man sich mit anderen zu "Gilden" zusammenschließen kann. Um die jeweiligen Charaktere identifizieren zu können, wird ihr Name in Form eines grünen Schriftzugs oberhalb der Spielfigur angezeigt. Bartholl knüpfte genau hier an, indem er Workshopteilnehmenden die grüne WoW-Typografie in Form ausgeschnittener Pappbuchstaben zur Verfügung stellte, woraus anschließend Namensschriftzüge im angepassten Maßstab produziert wurden – allerdings mit den echten Namen der Teilnehmenden. Mit diesen scheinbar über den Köpfen schwebenden Namensschriftzügen begaben sich die Teilnehmenden anschließend in die Öffentlichkeit. In einem anderen Werk namens "Dust – Excerpt 1, Winter Prison" (2013) verarbeitete Bartholl Elemente aus dem Ego-Shooter "Counter-Strike" (2000). Hierfür baute er quadratische Kisten aus dem Spiel nach, die dort zuhauf vorkommen und unter anderem Schutz vor gegnerischen Angriffen bieten sollen. Die maßstabsgetreu nachgebildeten, "verpixelt" bedruckten Kisten platzierte Bartholl im öffentlichen Raum auf einem ehemaligen Gefängnishof. Beiden Arbeiten ist gemein, dass sie zur Reflexion über die jeweiligen Spiele sowie über die Wechselwirkungen zwischen analoger und digitaler Welt anregen, indem sie Spielelemente dekontextualisieren und in eine andere Umgebung übertragen.

Abbildung 1: Aram Bartholl, Workshop und öffentliche Intervention "WoW", 2006–2009 (Externer Link: https://arambartholl.com/de/wow) Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de

Sich dem System Computerspiel subversiv zu nähern und es aufzubrechen, kann auch bedeuten, Eingabemöglichkeiten beziehungsweise Schnittstellen zu verändern. Ein Beispiel hierfür lieferte 2015 der Gamer und Streamer Benjamin Gwin ("bearzly") mit einer Modifikation der "DK Bongos" für das Fantasy-Rollenspiel "Dark Souls" (2011). Die "DK Bongos" sind ein Spielecontroller in Form einer kleinen Bongo-Trommel, der für die Musikspielereihe "Donkey Konga" auf der Konsole Game Cube entwickelt wurde und unter anderem durch Händeklatschen bedient wird. Die sechs Steuerungsfunktionen, die die "DK Bongos" bieten, reichen nicht annähernd aus, um sich erfolgreich in einem Spiel wie "Dark Souls" zu bewegen, das als eines der schwierigsten Spiele überhaupt gilt. Doch Gwin passte den Controller technisch so an, dass zwischen drei verschiedenen Zuständen mit jeweils sechs Funktionen gewechselt werden kann und stellte sein Können in einem der herausforderndsten Gefechte des Spiels unter Beweis. Insbesondere hier wird deutlich, dass die Übergänge zwischen subversiven Zugängen zum Medium Game und kreativen Nutzungsformen fließend sind.

Creative Gaming als pädagogisches Prinzip

Ob nun die Serie "Red vs. Blue", die Kunst von Aram Bartholl oder die modifizierten Bongo-Controller: In allen drei Beispielen spiegeln sich Kernideen von Creative Gaming wider, das genau an diese subversiv-künstlerische Ausdrucksformen anknüpft, diese weiterführt und in pädagogische Prozesse überführt. Im Laufe der Jahre haben sich für diese pädagogischen Prozesse vier Leitlinien herauskristallisiert:

  1. Spielregeln ignorieren (Beispiel "Red vs. Blue": Philosophieren statt Kämpfen)

  2. Virtuelles real werden lassen (Beispiel Aram Bartholl: Analogisierung des Digitalen)

  3. Spiele als Spielzeug und Werkzeugkasten nutzen (Beispiel Machinimas: die technischen Grundlagen und Elemente einer Game-Engine für neue Zusammenhänge nutzen)

  4. Spiele neu denken (etwa durch alternative Steuerungsmöglichkeiten)

Die genaue Ausgestaltung dieser Leitlinien ist nicht starr, sie ist vielmehr eng verbunden mit den allgemeinen Veränderungen im Gaming. Konzepte zu revidieren, neue Strömungen aufzunehmen und sich gesellschaftlichen Aufbrüchen zu öffnen, ist und bleibt dabei das zentrale Ziel. Die Halbwertszeit subversiver Ideen wird unter anderem daran deutlich, dass diese heutzutage mitunter als normale Spielmechanismen auch in populären Games auftauchen.

Die Zielperspektive, Heranwachsende zu Emanzipation und Mündigkeit zu befähigen und ihnen somit mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, ist für diese Bildungsarbeit essenziell und beruht auf dem Konzept der Medienkompetenz des Erziehungswissenschaftlers Dieter Baacke. Demnach umfasst Medienkompetenz die folgenden vier Dimensionen: Medienkunde (Wissen über das Mediensystem und Handhabung von Endgeräten), Medienkritik (Reflexion und Analyse dieses Wissens), Mediennutzung (Wissen darüber, welche Medien für welche Zwecke benutzt werden können, das interaktive Handeln in und mit Medien) sowie Mediengestaltung (innovative und kreative Veränderungen, Mitwirkung an der Entwicklung von Mediensystemen).

Einer der zentralen pädagogischen Zugänge, Medienkompetenz zu vermitteln, ist die handlungsorientierte, aktive Medienarbeit. Diese folgt den Grundprinzipien, handelnd und exemplarisch zu lernen, sich in ein selbst gewähltes Thema zu vertiefen und im Team zu arbeiten. Dabei knüpft die aktive Medienarbeit auf dem Vorwissen der an einer Maßnahme beteiligten Menschen über ein Medium an (Sprache, Gestaltung, Eigenheiten und anderes mehr). Die Zielgruppe medienpädagogischer Creative-Gaming-Angebote sind daher in der Regel Jugendliche, da diese über ein fundiertes Vorwissen über Games verfügen – womit eine wichtige Voraussetzung dafür erfüllt ist, dass sie Games entschlüsseln, über sie reflektieren und selbst kreativ werden können.

Creative-Gaming-Formate

Zur Vermittlung dieser Ideen bietet die Initiative Creative Gaming unter anderem medienpädagogische Workshops, Projektwochen und Unterrichtsbegleitungen an. In den Projekten werden die Teilnehmenden dazu angeleitet, selbst kreativ zu werden und subversive Umgangsweisen mit Games anzuwenden. Zugleich werden ihnen gemäß der verschiedenen Dimensionen der umfassenden Medienkompetenzförderung Anregungen und Reflexionsanlässe eröffnet. Die folgenden Formate sind nur einige Beispiele von vielen, wie sich Creative Gaming anregen und in einem medienpädagogischen Kontext nutzen lässt.

Machinima: Die Familiensimulation "Die Sims" (2000), eines der beliebtesten Games des Publishers Electronic Arts, bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für aktive Medienarbeit. So enthält das Spiel eine Funktion, Videos mit zuvor platzierten "Kameras" aufzuzeichnen. In den vielen kurzen Filmen, die in Workshops bisher entstanden sind, kann vor allem beobachtet werden, dass sich Jugendliche in den Produktionen mit Rollenübernahmen befassen. Sie erschaffen und nutzen für ihre filmischen Erzählungen digitale Erwachsene, deren Handlungen nach ihren Vorstellungen und Ideen in Geschichten überführt werden. Echte erwachsene Schauspieler*innen zu inszenieren, ist für Jugendliche hingegen oft sehr schwierig. In dem Spiel können sie mit Perspektiven und Verhalten "spielen" und die Figuren alle (un)möglichen Dinge tun lassen. So setzen sie sich mit Rollen auseinander und ergründen das Handeln anderer Menschen. Zudem eignet sich ein Game mit den Gestaltungsmöglichkeiten der "Sims" auch gut dazu, historische Gegebenheiten nachzustellen und gleichzeitig neue Interpretationswege zu eröffnen. Daneben gibt es viele weitere Möglichkeiten, das Spiel als Werkzeugkasten zu nutzen: So ließen sich etwa Fotos machen und Bildergeschichten produzieren oder historische Figuren nachempfinden und modellieren. In der Projektarbeit mit den "Sims" wird neben der Auseinandersetzung mit sozialen Verhaltensweisen auch die Auseinandersetzung mit dem Game und seiner Machart selbst angeregt.

Streetgames: Die in digitalen Spielen grundlegenden Beziehungen und Verknüpfungen sind komplex und auf den ersten Blick häufig nicht zu durchschauen. Dabei beruhen die meisten Games auf einfachen Spielmechanismen. In Streetgames können diese Mechanismen in Handlungen in der analogen Welt überführt werden: Sich nach bestimmten Vorgaben zu bewegen, ausschließlich Handlungen ausführen zu können, die ein Regelwerk vorgibt, oder sich die Verknüpfungen von verschiedenen Eigenschaften der Spielfiguren selbst auszudenken, macht viel Spaß und ermöglicht es zugleich, sich über Zusammenhänge und programmierte Systeme Gedanken zu machen. Der Effekt bei der Überführung von digitalen Spielen in ein analoges Setting ist vor allem darin zu sehen, die Verhältnisse der Elemente zueinander zu ermitteln oder die zum Teil ebenso einfachen wie wirkungsvollen Spielmechanismen zu verstehen und sie zugleich auch veränderbar zu machen – und das ganz ohne Programmierkenntnisse.

Tanzen in Ego-Shootern: Die Welt auf den Kopf zu stellen, ist ein im Alltag oft gehegter Wunsch. Digitale Spiele bieten die Möglichkeit dazu. In Games kann ein Regelwerk ohne schlimme Konsequenzen ignoriert werden – zum Beispiel indem ein Rennen in entgegengesetzter Richtung gefahren wird. Statt in einem Adventure-Game die nächste Aufgabe zu lösen, erkundet man einen Seitenweg, oder man tanzt gemeinsam in einem Ego-Shooter, statt aufeinander zu schießen. Für die letztere Variante ist es notwendig, im Team die Bewegungsmöglichkeiten der Figuren innerhalb des Spiels kennengelernt und diese anschließend selbst ausprobiert zu haben, indem einzelne Tanzschritte und Bewegungen zunächst im analogen Raum erarbeitet und dann auf die Figuren im Spiel übertragen werden. Es braucht Menschen, die nach den richtigen Drehorten im Spiel suchen, Choreograf*innen, die sich die Abfolge der Bewegungen überlegen, und auch Regie, Kamera, Musikauswahl oder Kostümausstattung sind Aufgaben, die besser im Team umzusetzen sind. Die fertigen Tanzvideos sind oft skurril und lustig. Zugleich stellen sie den Sinnzusammenhang des jeweiligen Games auf den Kopf. Die Figuren erscheinen menschlicher, als sie sind, und die Teilnehmenden lernen, was passiert, wenn man Regeln bewusst nicht einhält. Es entsteht etwas Neues, ein neuer Bedeutungszusammenhang.

Basteln: Games bestehen aus zahlreichen Objekten, Figuren, Hintergründen und Texturen. Diese sind scheinbar fest verankert, bewegen und verhalten sich nach einer festgelegten Logik. Aber es gibt Modifikationen, die es ermöglichen, alle diese Elemente auf einer großen Spielfläche neu zusammenzusetzen. Objekte wie Düsen, Räder, Feuer, Luftballons und viele andere Items können neu kennengelernt werden. Zum einen wird deutlich, dass die Beschaffenheit vieler Bestandteile eines Games nur entfernt die Eigenschaften ihrer analogen Entsprechungen haben, zum anderen, dass die Programmierung digitaler Spiele einem großen Werkzeugkasten entspricht, mit dem viele neue Sinnzusammenhänge (egal wie sinnvoll sie sind) hergestellt werden können.

Steuern: Wie das erwähnte Beispiel des Bongo-Controllers zeigt, können digitale Spiele auch anders gesteuert werden als mit den herkömmlichen Schnittstellen wie Maus, Joystick oder Tastatur. Dies selbst auszuprobieren und eine alternative Steuermöglichkeit zu designen, ermöglicht die Platine "Makey Makey" (Abbildung 2). Diese kann bestimmte Maus- und Tastaturtasten ersetzen, indem leitfähige Materialien – etwa Knete, Obst oder Menschen – durch Drähte mit den entsprechenden Anschlüssen der Platine verbunden werden. So kann zum Beispiel mit Bananen virtuell Klavier gespielt oder durch das Anfassen verschiedener Blumen "Super Mario" gesteuert werden. Durch die Erfahrung, selbstwirksam in ein Spiel, seine Elemente oder die Steuerung eingreifen zu können, werden Jugendliche in die Lage versetzt, die üblichen Spielmechanismen zu hinterfragen und gegebenenfalls sogar dazu angeregt, neue zu entdecken oder eigene zu schaffen.

Abbildung 2: Hier wird ein funktionierender Controller gebastelt: Auf dem Papier links sind bereits einige Tasten zu erkennen. (© Bente Stachowske/Initiative Creative Gaming e. V.)

Creative Gaming als Konventionsbruch

Ist die pädagogische Rahmung nicht gegeben, oder setzt sich die Zielgruppe aus eher unerfahrenen Gamer*innen zusammen, braucht es deutlichere Konventionsbrüche, um zu zeigen, welches Anregungspotenzial in Games steckt. Denkanstöße über gesellschaftliche Konventionen zu geben, gelingt mit Creative Gaming vor allem dann, wenn Artefakte oder Formen digitaler Spielewelten in tradierte, alte Kulturformen eindringen.

Zum Beispiel Theater: Wenn vom Hamburger Ohnsorg-Theater die Rede ist, denken viele Menschen an traditionsreiches Mundarttheater, an plattdeutsche Witze oder die Schauspielerin Heidi Kabel. Was aber passiert, wenn eine etablierte Theaterinstitution zum Ort der Auseinandersetzung mit einem der populärsten Gaming-Phänomene wird und dadurch gleichermaßen die Regeln des Mundarttheaters und der Gaming-Welt gebrochen werden? Um dies herauszufinden, inszenierte die Initiative Creative Gaming 2015 ein sogenanntes Let’s Play auf Plattdeutsch und brachte auf diese Weise bekannte Vertreter*innen beider Welten zusammen. Dafür wurden populäre digitale Spiele ins Plattdeutsche übersetzt, Vorurteile aufgegriffen und persifliert und mit vielen anderen Bestandteilen ein neuer Bedeutungsrahmen für das Theater, das Plattdeutsche sowie für Games geschaffen. Die ebenfalls aus beiden Welten stammenden Zuschauer*innen konnten sich den Sichtweisen der jeweils anderen Welt annähern, sie kennenlernen und über die Brüche sowie die vielen Gemeinsamkeiten austauschen und reflektieren.

Zum Beispiel Museum: Im Rahmen der Vorbereitungen zum Creative-Gaming-Festival "Play" wurden 2015 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg an unterschiedlichen Stellen in der Dauerausstellung – beispielsweise im Bereich "Kunst des alten Ägyptens" – Interventionen geschaffen. An diesen wurden Indie-Games, Filmausschnitte aus Computerspielen oder andere Dinge aus der Gaming-Welt gezeigt, die in einem inhaltlichen oder strukturellen Zusammenhang mit den Exponaten stehen. Durch den Kontrast konnte das Interesse vieler Museumsbesucher*innen für beide Welten gesteigert und zugleich die Ähnlichkeit der verschiedenen Kunstformen verdeutlicht werden. Als Fortsetzung dieser Aktion folgte ab Oktober 2016 eine mehrmonatige Ausstellung, die durch die Präsentation von Gameart, ungewöhnlichen Spielkonzepten und biografischen Eckpunkten von Games-Entwickler*innen Einblicke in die kreativen Potenziale der Hamburger Gaming-Szene gewährte. Im Kontext des Museums wurde all dies von einem Publikum rezipiert, das sonst möglicherweise weniger aufgeschlossen für Games und deren Artefakte ist.

Zum Beispiel Poetry Slam: Diese mittlerweile schon etablierte Form des lyrischen Vortragswettbewerbs hat es geschafft, Wort- und Sprachkunst neu zu popularisieren und vielen Nachwuchspoet*innen eine Bühne zu bieten. Kombiniert mit dem Thema Gaming finden sich Auseinandersetzungsformen mit dem Medium, die nicht nur unterhaltsam oder lustig sind, sondern auch viele Anknüpfungspunkte für Reflexion bieten. Veranstaltungen dieser Art wurden schon mehrfach begeistert aufgenommen.

Zum Beispiel Kino: Machinimas müssen nicht zwangsläufig auf einem Bildschirm gezeigt werden. Geschichten, Inszenierungen, Technik und Handlungen bieten sich an, diese auch im Kinoformat zu zeigen. Machinima-Vorführungen im Kino ermöglichen es immer wieder, klassische Cineast*innen zu erreichen und Einblicke in eine andere Filmproduktionswelt zu geben.

Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass auch aus gerahmten Prozessen, zum Beispiel aus Theaterworkshops mit Jugendlichen, Anstöße im Sinne einer ungerahmten Anregung werden können. So geschehen etwa bei einem choreografischen Workshop der Initiative Creative Gaming an einer Hamburger Schule ("Level1") oder im Jungen Schauspielhaus in Hamburg ("Playgrounds"). Angeregt durch Erfahrungen von Spielhandlungen und Steuerungsmöglichkeiten inszenierten Jugendliche dort ihre eigenen Theaterstücke, die wiederum von einem Publikum gesehen wurden, das nicht mit der Gaming-Welt der Jugendlichen vertraut ist. Dass dadurch Parallelen in der Struktur kultureller Darstellungspraktiken sichtbar werden, ist gewollt – und im Sinne einer umfassenden Medienkompetenzförderung ein weiteres Ziel von Creative Gaming.

Weiterdenken als Prinzip

Sich nicht mit dem Status quo abfinden, über scheinbar festgelegte Systeme nachdenken und Stellschrauben entdecken, die Veränderungen ermöglichen: Das sind die Mechanismen von Creative Gaming. Das dafür notwendige kreative Potenzial kann nur durch fortlaufende Anregungen aus der Gaming-Szene, der Kunst und den Zielgruppen aufrechterhalten und immer wieder erneuert werden. Das erfordert Experimentierfreude und offene Zugänge, die sich unter anderem auch in zwei besonderen Projekten der Initiative Creative Gaming wiederfinden: im Creative-Gaming-Festival "Play" und in der Computerspielschule Hamburg.

Wenn von Games im Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen gesprochen wird, dann wird dabei meist an Messen gedacht, bei denen die neusten Triple-A-Games präsentiert werden. Anders beim viertägigen "Play – Creative Gaming Festival": Hier stehen seit 2007 der Austausch, die Unterhaltung, die Anregung und das Selbermachen im Fokus. Besonders wichtig ist es den Organisator*innen, dass im Rahmen der Veranstaltungsteile experimentiert und diskutiert werden kann, dass Games in ihren unterschiedlichen Ausprägungen akzeptiert werden und dass neben der ernsten wissenschaftlichen Auseinandersetzung die amüsanten Bestandteile nicht zu kurz kommen. Zudem wird in offenen Laboren zu den Schwerpunktthemen der jeweiligen Festivaljahre gearbeitet und das praktisch umgesetzt, was in und mit Games gestaltbar ist. Der Creative Gaming Award ist seit 2015 wichtiger Bestandteil des Festivals. Mit ihm werden Games prämiert und gefördert, deren Zugänge und Prinzipien schon im Grundsatz subversiv sind. Zugleich werden Spiele nominiert, in denen gesellschaftspolitische Themen wie Diversität oder Accessibility aufgegriffen werden und die damit Anregungen und Impulse in die Gaming-Szene selbst ermöglichen. Letztlich schließt sich bei "Play" ein Kreis: Die Methoden und Ansätze von Creative Gaming fließen zurück in die Gaming-Szene und setzen dort wiederum Impulse, zum Beispiel für neuartige Spielideen.

Weniger spektakulär als ein Festival, aber wesentlich stärker im Alltag verankert ist das Projekt Computerspielschule Hamburg: Einmal wöchentlich treffen sich Jugendliche in einem offenen Angebot in der Jugendbibliothek der Bücherhallen Hamburg. Dabei bekommen die Teilnehmenden die Möglichkeit, Aufgaben rund um Games zu lösen und sich zugleich offen über die Spiele auszutauschen. Die Jugendlichen werden hier in ihrer Medienpraxis ernst genommen und steigern durch den Austausch und das Durchlaufen verschiedener Übungen ihre Medienkompetenz.

Letztlich zeigt sich sowohl an diesen beiden Projekten als auch an all den zuvor geschilderten Beispielen, dass Games hervorragende Türöffner sind, um pädagogische, gesellschaftliche, kreative und subversive Prozesse zu initiieren. Creative Gaming trägt dazu bei, dass Games in ihrer Vielschichtigkeit wahrgenommen und Jugendliche dazu befähigt werden, die Gaming-Kultur aktiv mitzugestalten. Das funktioniert nicht zuletzt deshalb so gut, weil Spielen konstitutiv für das Menschsein ist und der Regelbruch seit jeher eine essenzielle Rolle beim Spielen einnimmt. Dabei bedürfen die Methoden und Zugangsweisen einer kontinuierlichen Weiterentwicklung – denn was heute als subversiv gilt, kann morgen schon etabliert sein.

ist Medienpädagoge und Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Lehre an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Er ist zudem Mitgründer und Sprecher der Initiative Creative Gaming sowie Leiter des Creative-Gaming-Festivals "Play". E-Mail Link: andreas.hedrich@uni-hamburg.de

ist Diplompädagogin und arbeitet als freie Medienpädagogin und Lehrbeauftragte. Sie ist zudem Mitgründerin und Sprecherin der Initiative Creative Gaming sowie Mitglied des Leitungsteams der Computerspielschule Hamburg. E-Mail Link: christiane.schwinge@creative-gaming.eu