Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Es waren einmal Zuschauer | Medienfreiheit | bpb.de

Medienfreiheit Editorial Aktuelle Herausforderungen für die Medienethik Pressefreiheit durch Selbstkontrolle Bundestagswahlkampf 2005 in den Hauptnachrichtensendungen Medienereignis "Streik" Warum wir Rundfunkgebühren zahlen Es waren einmal Zuschauer

Es waren einmal Zuschauer

Matthias Spielkamp

/ 18 Minuten zu lesen

Obwohl der Begriff Web2.0 unscharf ist, kann er verdeutlichen, wie Publikationsmöglichkeiten durch das Internet verändert und erweitert werden. Weblogs spielen dabei derzeit eine besondere Rolle.

Einleitung

Der Begriff Web2.0 hat auch in Deutschland seinen Weg in eine größere Öffentlichkeit gefunden. Dennoch kann man davon ausgehen, dass kaum jemand, der sich nicht beruflich mit dem Internet und seinen Entwicklungen beschäftigt, eine Vorstellung davon hat, was damit gemeint ist. Doch auch unter Experten ist unklar und umstritten, was er bezeichnen soll. Das liegt einerseits in seiner Herkunft und Entwicklung begründet, andererseits in der Unschärfe, die allen Begriffen eigen ist, die ein inhaltlich sehr großes - und in diesem Fall auch noch sehr neues - Feld umreißen sollen.



Aus dieser Unschärfe heraus entstehen einige Probleme. So gibt es auf der einen Seite eine weit reichende Diskussion darüber, ob Weblogs (ein Teil des Web2.0) den Journalismus verändern. Vielen Beiträgen in dieser Auseinandersetzung kann man ansehen, dass sie das Prinzip des Bloggens nur unzureichend verstanden haben oder es so eingeschränkt fassen, dass die gezogenen Schlüsse zu kurz greifen. Auf der anderen Seite ist Web2.0 längst als Catch-All-Phrase einer Marketingmaschine einverleibt, die darauf ausgerichtet ist, jedes neue Produkt mit einem Etikett zu versehen, das darauf zielt, bei potenziellen Kunden oder Investoren für größtmögliche Aufmerksamkeit zu sorgen. So, wie in der Mode je nach Saison Blau oder Braun "das neue Schwarz" ist, so ist derzeit Web2.0 das neue Dotcom.

Darüber hinaus ist manchen Beiträgen, die sich mit dem Thema beschäftigen, ein Techno-Optimismus eigen, der ebenfalls zu kurz greift, indem er Technik allein als Befreiungsinstrument versteht - eine Erwartung, die historisch betrachtet ebenso weit verbreitet wie verfehlt ist. Dieser Art von Vereinfachung entgegen zu treten, endet jedoch in den deutschen Publikumsmedien zu oft in einer ausgeprägten Technikfeindlichkeit, die sich nicht darin ausdrückt, eine bestimmte Technik abzulehnen - sondern darin, sich erst gar nicht die Mühe zu machen, sie ausreichend zu verstehen. Dadurch versäumen es die Publikumsmedien bisher oft zu vermitteln, dass politische Auseinandersetzungen im Gang sind, in denen weit reichende Entscheidungen für das Funktionieren von Medien und Demokratie in einem weltweiten Maßstab getroffen werden. Die Unkenntnis über die Regulierung des Internets, immerhin das bedeutendste existierende Informationsnetz, ist ein schlagendes Beispiel für dieses Informationsdefizit. Wie das Internet reguliert wird, ist nicht zu trennen von der Frage, ob und in welchem Maße neue Publikationsmöglichkeiten die Meinungsfreiheit beeinflussen.

Das Ziel dieses Textes ist es daher, folgende Fragen - zumindest im Ansatz - zu klären: Was ist gemeint mit dem Begriff Web2.0? Was sind Weblogs, wie funktionieren sie? Wie verändern neue Publikationsmöglichkeiten den Journalismus? Tragen neue Publikationsmöglichkeiten dazu bei, die Meinungsfreiheit zu stärken?

Was bedeutet Web2.0?

Der Begriff Web2.0 wurde geprägt von Dale Dougherty und Tim O'Reilly, die auf der Suche nach einer Überschrift waren für eine Konferenz zu neuen technischen Entwicklungen und Geschäftsmodellen im Web. Angelehnt an die aus der Softwarebranche bekannten Versionsnummern (wie Firefox 1.0, 1.5 usw.), sollte Web2.0 Doughertys und O'Reillys Ansicht verdeutlichen, dass im World Wide Web etwas grundlegend Neues passiert, das sich deutlich von dem gedachten Status eines Web1.0 unterscheidet.

In einem viel zitierten Aufsatz fasste O'Reilly, Gründer des in Internetkreisen legendären und äußerst einflussreichen O'Reilly-Fachbuchverlags, einige Konzepte zusammen, die diese Unterschiede verdeutlichen sollen. Zum einen ist das die Entwicklung zum "Web als Plattform", womit gemeint ist, dass nicht mehr Anwendungen auf dem eigenen Computer die Hauptrolle spielen, wie etwa eine Textverarbeitung oder eine Tabellenkalkulation. Alle diese Funktionen können von Web-basierten Diensten übernommen werden. Dadurch sind die Websites zunehmend nicht mehr einfach nur statische Informationsspeicher, wie etwa telefonbuch.de oder auch Spiegel Online, die ihren Nutzern bestimmte Inhalte zum Abruf anbieten - also hier Telefonnummern oder Artikel.

Zum anderen können Web-Angebote auf Dienste anderer Websites und Entwickler zugreifen. O'Reilly nennt das "innovation in assembly", also "Neuheiten durch Verbindungen". So ist Google Maps eine der erfolgreichsten Entwicklungen der jüngeren Web-Geschichte. Google Maps stellt Landkarten und Satellitenaufnahmen vieler Länder der Erde zur Verfügung, die Website-Entwickler in ihre eigenen Projekte einbauen können, etwa indem sie lokalisierte Suchfunktionen anbieten. Der Bilderdienst Flickr wiederum bietet Nutzern nicht nur Platz, um Fotos auf seinen Servern abzuspeichern und anderen zeigen zu können, sondern erlaubt es auch, dass Betreiber von Weblogs und anderen Websites bestimmte Bilder durch ein Zusatzprogramm in ihre Seiten einbinden können. Auf diese Art entstehen zahlreiche neue Kombinationsangebote, wie etwa Plazes.com, das - von Nutzern bei Flickr abgelegte - Fotos mit Google Maps und anderen Informationen verbindet, um den Ort zu beschreiben, an dem sich angemeldete Nutzer gerade aufhalten oder den sie besonders mögen. Diese Kombination, die von Plazes.com zusammengestellt wird, können Interessierte wiederum in ihr eigenes Weblog einfügen.

Wie man an dieser Beschreibung leicht erkennen kann, können nur überdurchschnittlich erfahrene Netz-Nutzer diese Angebote voll ausschöpfen, indem sie sie etwa in eigene Webseiten einbinden. Doch in den meisten Fällen gibt es abgestufte Möglichkeiten, die Dienste zu verwenden. So können auch unerfahrene Web-Surfer profitieren, weil andere Anwender Informationen zur Verfügung gestellt haben, die für alle nützlich sind - und seien es Fotos vom Lieblings-Biergarten.

Das verweist auf einen anderen Bestandteil dessen, was O'Reilly als Web2.0 fasst: die Netzeffekte, die durch eine "architecture of participation", also eine Mitmach-Architektur, entstehen. Das beste Beispiel dafür ist die Wikipedia-Enzyklopädie (Externer Link: No Titel ), die in nur fünf Jahren aus dem Nichts heraus größer geworden ist als Encyclopædia Britannica und Brockhaus zusammen. Die Wikipedia zeichnet aus, dass alle Beiträge von Nutzern erstellt wurden und jederzeit von ihnen geändert und weiter geschrieben werden können. Dieses offene System kam so gut an, dass innerhalb weniger Monate nach Beginn des Projekts bereits Tausende Beiträge zur Verfügung standen. Das wiederum war Anreiz genug für neue Nutzer, kein konkurrierendes System zu etablieren, sondern beim bestehenden mitzumachen, da der Nutzen dann für alle steigt. Selbstverständlich gibt es derzeit noch mehr Beispiele von Netzeffekten, die nicht darauf beruhen, dass Nutzer beim Aufbau partizipieren können, als solche, bei denen das der Fall ist - so ist etwa das Telefonsystem das klassische Beispiel eines Netzeffekts: je mehr Teilnehmer, desto nützlicher für alle. Die Behauptung O'Reillys und anderer Ideengeber des Web2.0 ist jedoch, dass es einen zusätzlichen Nutzungsanreiz darstellt, wenn man einen Dienst auch selber beeinflussen kann, und dadurch der Netzeffekt verstärkt wird.

Doch ist Web2.0 tatsächlich mehr als ein Marketing-Hype, eine Vereinfachung, die Publikum und Investoren vorgaukeln soll, hier passiert etwas wirklich Neues, nur weil ein anderes Etikett draufklebt? Oder ist es, wie der Programmierer und Essayist Paul Graham es ausdrückt, nur ein Scheinbegriff, der zwar mit einigem Recht zur Abgrenzung verwendet werden kann, davon abgesehen aber nichts anderes bedeutet, als Dinge so zu tun, wie sie eigentlich schon immer hätten getan werden sollen - "und es ein schlechtes Zeichen ist, wenn man dafür einen eigenen Begriff hat?"

Die Idee hinter dieser Kritik ist viel älter als das Web2.0; sie geht zurück auf den Beginn des Internets selbst - in dem Sinn, dass das Netz von seinen Erfindern von vornherein als ein Werkzeug der Zusammenarbeit gesehen wurde, so dass Ausdrücke wie "Participatory Net" (partizipatives Netz) oder "Writable Web" (schreibbares Web) ein Pleonasmus sind wie der weiße Schimmel. Der erste Webbrowser, von Tim Berners-Lee, dem Erfinder des World Wide Web, selbst entwickelt, war nicht nur ein Programm zum Anschauen von Webseiten, sondern auch zum Schreiben und Bearbeiten. In den Diskussionsforen des Usenet, das lange vor der grafischen Oberfläche des World Wide Web Millionen von Nutzern einen Ort des Austauschs bot, hatte jeder Teilnehmer das gleiche Recht zu lesen wie zu schreiben. Und die ersten Abenteuerreisen des Internets, die in die virtuellen Räume so genannter MUDs (Multi-User-Dungeons) führten, wären nicht möglich gewesen, wenn nicht alle Besucher die Welten erst erschaffen hätten, in denen sie sich dann tummeln konnten.

Mit der Kommerzialisierung des Internets, vor allem des World Wide Webs mit seinen immer aufwändiger programmierten Websites, die in erster Linie dazu gedacht sind, Geld zu verdienen, waren diese Möglichkeiten der Teilhabe zwar nie gestoppt, aber doch gebremst und verschüttet. Surfer, die erst im Jahr 2000 oder später den Weg ins Netz fanden, konnten nur mit viel eigener Recherche einen Eindruck davon bekommen, dass das Internet großartige Möglichkeiten der Zwei-Wege-Kommunikation bietet. Verstellt wurden (und werden) sie von den gigantischen Schaufenstern der Amazons und eBays dieser Welt mit ihrer immer wieder hervorgehobenen, aber nur vermeintlich vorhandenen "Interaktivität", die sich meist darauf beschränkt, Produktempfehlungen abzugeben oder Text B statt Text A zu lesen.

Damit soll keinem Naturalismus das Wort geredet werden, der von einer wie auch immer gearteten "Natur des Internets" ausgeht, zu der zurückgefunden werden könnte oder sollte. Ohnehin kann ein Netz mit mehr als einer Milliarde Nutzern, wie es heute existiert, nicht mehr nach den Regeln funktionieren, die seine Entwickler in den sechziger Jahren wahrscheinlich im Kopf hatten - als sie eine Kommunikations-Infrastruktur schufen, von der sie vielleicht hofften, dass sie im Idealfall einmal an allen Universitäten der USA zur Verfügung stehen würde.

Das spricht aber keineswegs dagegen zu versuchen, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die ein Kommunikationsnetz bietet, dessen hervorstechende Eigenschaft es ist, dezentral angelegt zu sein. Die bi-direktionale "viele-zu-vielen"-Kommunikation, die das Internet ermöglicht, transzendiert die Idee des Rundfunks und seiner uni-direktionalen "einer-zu-vielen"-Kommunikation so weit und so grundlegend, dass man mit gutem Grund von etwas nie dagewesenem sprechen kann. Oft genug ist in diesem Zusammenhang Bertolt Brecht zitiert worden, der bereits vor mehr als 80 Jahren schrieb: "Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur zu hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen."

Nur konnte der Rundfunk genau das nicht leisten - zumindest nicht in dem Ausmaß und in der Qualität, wie es dem Internet als Kommunikationsmedium möglich ist. Darum ist die Aufforderung, zurückzukehren zum "writable web", zur "architecture of participation", viel mehr als die Vision einiger hippiesker Weltverbesserer. Sie ist eher die Aufforderung, das Medium so zu nutzen, wie es Hans Magnus Enzensberger sich bereits 1970 hellsichtig erträumt hatte: "Hinweise zur Überwindung dieses Zustandes könnten netzartige Kommunikationsmodelle liefern, die auf dem Prinzip der Wechselwirkung aufgebaut sind: eine Massenzeitung, die von ihren Lesern geschrieben und verteilt wird, ein Videonetz politisch arbeitender Gruppen usw." Welcher Zustand sollte überwunden werden? Der, in dem "das entscheidende politische Moment" der elektronischen Medien unterdrückt wird, so Enzensberger: "ihre mobilisierende Kraft". Dass das Internet dieser Überwindung tatsächlich einen Schritt näher gekommen ist, als es der Rundfunk je gekonnt hätte, kann man am Phänomen der Weblogs beobachten, die als ein Teil des Web2.0 angesehen werden können.

Was sind Weblogs?

Die Definition eines Weblogs (kurz auch Blog genannt) im Singular greift im besten Fall zu kurz, im schlimmsten Fall bleibt sie sinnlos und unverständlich. Weblogs können nur als Teil eines sozialen Systems verstanden werden, das durch eine Kombination verschiedener Programme ermöglicht wird. Eine Weblog-Software erlaubt es auf sehr einfache Art, Inhalte im Web zu veröffentlichen: Texte, Bilder, Töne, Videos. Ein Weblog einzurichten ist keine größere Herausforderung, als sich ein kostenloses E-Mail-Postfach bei Yahoo, GMX oder einem anderen Anbieter anzulegen. Von diesem Zeitpunkt an ist es vom Nutzer abhängig, was daraus wird: vom Tagebuch mit (un)denkbar trivialen Einträgen zu Zahnpflege und Stuhlgang bis hin zur Bühne für investigativen, politischen Journalismus ist alles möglich und existiert auch.

Der Grund für den phänomenalen Erfolg von Weblogs ist zum einen, dass sie es Nutzern so leicht machen, im Internet zu veröffentlichen. Zum anderen ist es die Idee, dass das Weblog nur dann einen Sinn hat, wenn es mit vielen anderen Weblogs verknüpft ist und Autoren und Leser miteinander kommunizieren. Darum sind Kommentare und so genannte Trackbacks von vornherein grundlegende Bestandteile. Ein Blog-Eintrag kann üblicherweise von allen Lesern kommentiert werden. Diese Kommentare sind nicht nur für den Inhaber des Blogs sichtbar, sondern für alle Leser, die wiederum auch die Kommentare kommentieren können. So kann über die Kommentarfunktion eine Diskussion unter den Lesern entstehen, die dadurch selber zu Schreibern werden. Bei populären Blogs ist es nicht ungewöhnlich, einige Dutzend - oder sogar Hunderte - Kommentare zu finden. Dan Gillmor, ein Vordenker des Bürgerjournalismus, spricht daher von der "former audience", den ehemaligen Zuschauern, die eben nicht mehr nur Zuschauer sind, sondern Mitschreiber, Autoren, Beteiligte an der Auseinandersetzung.

Zu den Kommentaren kommen die so genannten Trackbacks, die es erlauben, per Mausklick vom eigenen Blog auf einen Eintrag in einem anderen Blog zu verweisen. Dieser Verweis ist keine Einbahnstraße, sondern wirkt zurück: Auch im Blog, auf das verwiesen wird, erscheint ein Hinweis darauf, dass es von einem anderen Blog verlinkt wurde. Dadurch erfahren Autor und Leser des verlinkten Blogs davon, dass jemand anders auf sie verweist und können herausfinden, was der Grund dafür ist - in vielen Fällen ähnliche Interessen, die sich nicht auf das gesamte Blog beziehen müssen, sondern eventuell nur auf den einen Artikel, auf den hingewiesen wird. Durch Kommentare, Trackbacks und andere Verlinkungen entstehen Verknüpfungen, die Diskussionen und Auseinandersetzungen anspornen und Blogs einen Vorsprung innerhalb dessen verschaffen, was treffend mit dem Begriff Aufmerksamkeitsökonomie bezeichnet wird.

Wie wichtig also sind Weblogs als eine neue Art der Publikation? Zuerst einmal scheint die schiere Masse zu zeigen, dass sie nicht ignoriert werden können. "Weltweit mehr als 50 Millionen Weblogs", behauptete im vergangenen Jahr die Website "The Blog Herald", basierend auf Angaben und Umfragen einiger Marktforschungsinstitute und Weblog-Anbieter. Derartige Zahlen sind ebenso bedeutungslos wie bedeutungsvoll. Bedeutungslos deshalb, weil es zum einen technisch äußerst schwierig ist zu bestimmen, ob es sich bei einer Website um ein Weblog handelt. Zum anderen ist es auch für unerfahrene Webnutzer inzwischen vergleichsweise trivial, bei einem Dienstleister ein Weblog einzurichten. Wer es geschafft hat, sich eine Webmail-Adresse anzulegen, den wird ein Weblog-Dienst nicht vor unüberwindbare Hindernisse stellen. Das führt dazu, dass eine enorme Anzahl von unbenutzten Blogs existiert, die zum Ausprobieren eingerichtet, dann aber sich selbst überlassen wurden. Zahlen zur Verbreitung von Weblogs sollten daher mit äußerster Skepsis betrachtet werden. Bedeutungsvoll sind die Zahlen dennoch. Denn selbst wenn man sie einfach um den Faktor zehn reduziert, um den Ungenauigkeiten in der Erhebung Rechnung zu tragen, bleibt noch immer eine gewaltige Menge neuer Publikationen übrig, auf denen veröffentlicht wird und die auch gelesen werden, was man an der Anzahl der Kommentare, Links und Zitate erkennen kann.

Verändern Weblogs den Journalismus?

Zunächst: Die heiß diskutierten Fragen, ob Weblogs Journalismus sind oder Blogger Journalisten, ergeben keinen Sinn. Zu Recht würde auch die Frage, ob eine Videokamera oder eine Druckerpresse Journalismus sind, für unsinnig gehalten. Eine berechtigte Frage ist allerdings, ob das Online-Publizieren via Weblogs den klassischen Journalismus ersetzen kann, der in redaktionellen Zusammenhängen nach bestimmten Konventionen entsteht. Auf kurze Sicht ist das zumindest unwahrscheinlich. Doch die Frage, ob "Weblogs den Journalismus verändern werden", ist von der Realität längst überholt. Weblogs haben den Journalismus bereits jetzt nachhaltig beeinflusst.

Vor allem in den USA entwickelten sich etliche große Stories, die entweder von den Mainstream-Medien ignoriert oder selber von ihnen verbockt worden waren, entwickelten sich zu Sternstunden (oder Tiefpunkten) der Blogosphäre. Zwei Bespiele:

Rathergate

Dan Rather, legendärer CBS-Nachrichtenmann, präsentierte in der angesehenen US-Fernsehsendung für investigativen Journalismus 60 Minutes Dokumente, die belegen sollten, dass George W. Bush in seiner Zeit bei der Nationalgarde Befehle missachtet habe und sein Vorgesetzter dazu genötigt worden sei, ihm unverdient gute Beurteilungen zu geben. Innerhalb von Stunden nach der Sendung wurden die Dokumente von Bloggern aufgrund von Indizien wie der Typographie als Fälschungen bezeichnet. Etliche von ihnen begannen zu recherchieren, was auch etablierte Medien dazu bewog, die Herkunft der Dokumente zu prüfen. Zwei Wochen lang hielt CBS den Standpunkt aufrecht, es handele sich um echte Dokumente, dann musste der Sender eingestehen, dass es sich um Fälschungen handelte. Nach 44 Jahren bei CBS trat Dan Rather zurück, die Produzentin der Sendung wurde gefeuert.

Eason Jordan

Der CNN-Nachrichtenchef hatte beim World Economic Forum in Davos im vergangenen Jahr behauptet, das US-Militär habe im Irak gezielt Journalisten getötet. Ein Blogger veröffentlichte diese Aussage, andere griffen sie auf und zwangen Jordan, der sagte, seine Aussage sei falsch zitiert worden, schließlich zum Rücktritt. Die Tatsache, dass die Berichterstattung der Blogger in diesem Fall eher einer Hetzjagd denn einer Recherche glich, veranlasste einige Kommentatoren, von Bloggern als Lnych-Mob zu sprechen.

Einen vergleichbaren Fall hat es in Deutschland bisher nicht gegeben. Das kann daran liegen, dass politische Auseinandersetzungen nicht mit der gleichen Schärfe und Verbissenheit wie in den Vereinigten Staaten geführt werden, aber auch daran, dass es bisher wenige Weblogs gibt - zumindest im Vergleich mit dem Cyberspace-Mutterland USA. Sicher hat es auch etwas mit einer journalistischen Tradition zu tun. Wenn schon die Mehrheit der Profi-Journalisten in Deutschland kaum etwas mit dem Ideal des Journalisten als "mudraker", als "Dreckwühler", anfangen kann, der Geschichten hartnäckig und gegen Widerstände nachspürt, um sie ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, wäre es etwas viel verlangt, genau diese Arbeit von Bloggern zu fordern - und sie als Online-Tagebuchschreiber abzutun, wenn sie nicht das leisten, was eigentlich Aufgabe der etablierten Medien sein sollte. Somit hat die deutsche Medienbranche gegenüber der amerikanischen einen unschätzbaren Vorteil: mehr Zeit um herauszufinden, was sie von Weblogs halten soll.

Viel ist in dieser Nachdenkphase bisher nicht heraus gekommen - was angesichts hierarchischer Strukturen in den Medienkonzernen nicht weiter überrascht. Immerhin binden große Zeitungsgruppen wie der Holtzbrinck-Verlag ("Handelsblatt", "Zeit", "Tagesspiegel") Blogger in ihre Online-Angebote ein, und manche von ihnen haben sogar bisweilen etwas Interessantes zu sagen. Blogger, die auch von den klassischen Medien wahrgenommen werden, weil sie monatlich mehrere Hunderttausend Leser haben, gibt es in Deutschland bisher nicht. Aber in einigen Branchen - darunter wenig überraschend Computer-, Software- und Webentwicklung, aber zunehmend auch andere Gebiete - gibt es kaum noch einen Journalisten, der nicht auch liest (und lesen muss), was die Fachblogger zu sagen haben.

So kann man sich der Kolumnistin des "Wall Street Journal", Peggy Noonan, anschließen. "Mainstream-Medien sind nicht vorbei", ist ihre Zwischenbilanz. "Sie können nur nicht mehr auftreten als Der Wächter der Unzweifelhaften Wahrheit. Die Mainstream-Medien sind jetzt nur noch ein Akteur unter vielen. Ein großer, aber eben nur ein Akteur." Das ist weniger, als viele Großsprecher der Blogger-Szene behaupten, die die Mainstream-Medien bereits als Dinosaurier im Angesicht des Kometen sehen: als Ausgestorbene in spe. Aber doch entschieden mehr, als viele Chefs großer Medienkonzerne wahrhaben wollen.

Stärkung der Meinungsfreiheit?

Kann man angesichts dieser neuen Entwicklungen also davon sprechen, dass das Internet die Meinungsfreiheit stärkt? Die Vorstellung ist fast so alt wie das Medium selbst. Sie beruhte zu Beginn auf der Idee, dass es sich beim Netz um eine Art Ort handelt, der sich von "realen" Räumen unterscheidet - daher die Rede vom Cyberspace (dem Cyber-Raum) gegenüber dem Real Space oder "Meat Space" (dem realen Raum oder "Fleischraum") - und auch nicht der Regulation unterliegt, der diese "realen" Orte kennzeichnet. Niemand hat diese Vorstellung je emphatischer in Worte gefasst als der Rinderzüchter und Songschreiber für die "Grateful Dead", John Perry Barlow, einer der ersten Digerati oder Cyber Citizens, also Bürger des Cyberspace: "Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft fordere ich Euch auf, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, habt Ihr keine Hoheitsgewalt." So lautet der berühmt gewordene erste Absatz der "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace", zuerst als E-Mail an Freunde und Bekannte verschickt im Februar 1996.

Nun, mehr als zehn Jahre später, steht fest, was Barlow und viele seiner reichen und einflussreichen Freunde, die "Cyber Libertarians" des Silicon Valley, nicht akzeptieren wollten (und wollen): Das Internet kann sich der Regulierung des realen Raums nicht entziehen. Zwar hat es Regierungen weltweit vor Schwierigkeiten gestellt, Internet-Kommunikation unter Kontrolle zu bekommen, und tut es noch. Diese Schwierigkeiten sind vergleichbar mit denen, die schon früher von neuen Kommunikationstechniken hervorgerufen wurden - dem Telegrafen, dem Telefon, dem Radio, dem Fernsehen. All diese Technologien, argumentieren Tim Wu und Jack Goldsmith in ihrem gerade erschienenen buch: "Who controls the Internet?", haben die Geschwindigkeit der Kommunikation dramatisch erhöht und ihre Kosten gesenkt. Sie "haben zu radikalen Änderungen geführt in der Art, wie Menschen sich organisieren und interagieren, und damit Regierungen genötigt, neue Strategien zu entwickeln, wie menschliche Beziehungen geregelt werden können", schreiben die Autoren. Aber, und das ist das entscheidende in deren Argumentation: "Sie haben nicht die Territorial-Regierungen aus ihrer zentralen Rolle der Regulierung und des Regierens verdrängt. Genauso wenig wird es das Internet tun."

Dass es noch nicht lange her ist, dass diese Vorstellung einen bedeutenden Einfluss hatte, lässt sich am besten am Fall "Yahoo vs. La Ligue Contre le Racisme et L'Antisemitisme" zeigen. Noch im Jahr 2000 dachte Yahoo-Gründer Jerry Yang in dieser Auseinandersetzung, er könne ganz Frankreich die Stirn bieten. Über sein Portal wurden Nazi-Andenken versteigert, was in Frankreich illegal ist. Auf die Anzeige eines französischen Aktivisten der Liga gegen Rassimus und Antisemitismus verhandelte ein Gericht in Paris den Fall. "Das französische Gericht will ein Urteil auf einem Gebiet fällen, über das es keine Kontrolle ausüben kann", sagte Yang im typisch trotzigen Ton der Internet-Granden seiner Zeit. Ein Jahr später verhängte der vorsitzende Richter Jean-Jacques Gomez ein Strafgeld von 100 000 Franc (mehr als 15 000 Euro) für jeden Tag nach Ende Februar, an dem Yahoo sich nicht der französischen Entscheidung beugen und die Auktionen aus dem Netz nehmen werde. Mit einem Mal war das französische Rechtssystem nicht mehr so machtlos, wie Yang es gerne gesehen hätte. Yahoo sperrte die Auktionen.

Drei Jahre später, im Herbst 2005, schickte der chinesische Journalist Shi Tao von seiner Yahoo-Mailadresse Informationen an ausländische Websites, die von der chinesischen Regierung als streng geheim eingestuft wurden. Nun war Yahoo-Gründer Yang nicht mehr so trotzig wie noch im Angesicht der französischen Richter: Ohne dass die chinesischen Behörden überhaupt ein Verfahren anstrengen mussten, gab Yahoo die Identität Shi Taos preis. Im April 2006 wurde der Journalist zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Yangs Kommentar: "Um in China Geschäfte zu machen - oder sonst wo in der Welt - muss man sich an die örtlichen Gesetze halten. Ich mag das Ergebnis dieser Dinge nicht, aber wir müssen uns an die Gesetze halten."

Man kann Yahoos Jerry Yang mit gutem Grund für einen heuchlerischen Opportunisten halten. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in drei Jahren Rechtsprechung und Rechtsentwicklung einiges geändert hat. Noch einmal Wu und Goldsmith: "Was wir wieder und wieder gesehen haben ist, dass physischer Zwang durch Regierungen, das Kennzeichen aller traditionellen Rechtssysteme, wichtiger bleibt als alle erwartet haben. Das mag krude klingen, hässlich und sogar deprimierend. Aber auf eine grundlegende Art ist es das, was alle Voraussagen darüber, wohin die Globalisierung führen wird, vermissen lassen, und die bedeutendste Leerstelle in allen Voraussagen zur zukünftigen Gestalt des Internets."

Je nach Standpunkt mag man diese Einschätzung für optimistisch, realistisch oder pessimistisch halten, eins ist sie gewiss: gut begründet. Ist damit allen Hoffnungen auf eine gestärkte Meinungsfreiheit der Boden entzogen? Kaum. Die beschriebenen neuen Publikationsformen ermöglichen Arten der Äußerung und Zusammenarbeit, die bis vor kurzem noch nicht denkbar waren. Der amerikanische Ausspruch "Pressefreiheit ist die Freiheit derjenigen, die eine (Drucker-)Presse besitzen", gilt zumindest nur noch derart abgeschwächt, dass durchaus von einer neuen Ära gesprochen werden kann. Dass die Erwartung verfehlt war, Regierungen würden sich in die Rolle fügen, die ihnen von den Ultra-Liberalen des Silicon Valley zugewiesen wurde, mag für einige überraschend kommen. Dass das jedoch bedeutet, alles bleibe wie gehabt, wäre ein Fehlschluss vergleichbaren Ausmaßes.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Tim O'Reilly, What is Web 2.0, http://www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html (5. 8. 2006).

  2. Paul Graham, Web 2.0, http://www.paulgraham. com/web20.html (5. 8. 2006).

  3. Für eine detaillierte Analyse vgl. Sherry Turkle, Who Am We?, in: Wired, (1996) 4, http://www.wired.com/wired/archive/4.01/turkle.html (5. 8. 2006).

  4. Bertolt Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in: ders., Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, Frankfurt/M. 1967, S. 134.

  5. Hans Magnus Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch, 20 (1980), S. 159 - 186.

  6. Für eine kurze Übersicht von Weblog-Anbietern vgl. Christiane Rosenberger, Weblog Hoster und Dienste in der Übersicht, http://www.drweb.de/ weblogs/hoster-weblog-liste.shtml (5. 8. 2006).

  7. Dan Gillmor, We the Media, Sebastopol 2006, S. 136ff.

  8. Vgl. Michael H. Goldhaber, The Attention Economy and the Net, in: First Monday, 2 (1997), http://www.firstmonday.org/issues/issue2_4/goldhaber (5. 8. 2006).

  9. Vgl. Duncan Riley, Number of blogs now exceeds 50 million worldwide, in: The Blog Herald vom 14. 4. 2005, http://www.blogherald.com/2005/04/14/number-of-blogs-now-exceeds-50-million-worldwide (5.8. 2006).

  10. Vgl. Jim Rutenberg/Mark J. Prendergast, CBS Asserts It Was Misled by Ex-Officer on Bush Documents, in: New York Times vom 20. 9. 2004, http://www.nytimes.com/2004/09/20/politics/campaign/20CND-GUAR.html (5. 8. 2006).

  11. Vgl. Howard Kurtz, CNN's Jordan Resigns Over Iraq Remarks, in: Washington Post vom 12. 2. 2005, http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/articles/A17462 - 2005Feb11.html (5. 8. 2006).

  12. Vgl. Frank Esser, Gehemmter Investigativgeist. Enthüllungsjournalismus im internationalen Vergleich, in: Message, 2 (1999), S. 26 - 31.

  13. Peggy Noonan, The Blogs Must Be Crazy, in: WallStreet Journal vom 17. 2. 2005, http://www.opinionjournal.com/columnists/pnoonan/?id=110006302 (5. 8. 2006).

  14. Vgl. John Perry Barlow, A Declaration of the Independence of Cyberspace, http://homes.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html (5. 8. 2006).

  15. Jack Goldsmith/Tim Wu, Who controls the Internet?, New York 2006, S. 180.

  16. Vgl. ebd., S. 1 ff.

  17. Vgl. Reporters sans frontières, Information supplied by Yahoo! helped journalist Shi Tao get 10 years in prison, http://www.rsf.org/article.php3?id _article=14884 (5. 8. 2006).

  18. Peter S. Goodman, Yahoo Says It Gave China Internet Data, in: Washington Post vom 11. 9. 2005, http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2005/09/10/AR2005091001222.html.

  19. J. Goldsmith/T. Wu (Anm. 15), S. 180.

Geb. 1970; freier Journalist und Berater mit dem Schwerpunkt Recht und Regulierung in der digitalen Welt.
E-Mail: E-Mail Link: Spielkamp@autorenwerk.de