Einleitung
Der politische Journalismus in Deutschland steckt in der Krise. Die Riege der politischen Kommentatoren verdammt sich in einem bislang unbekannten Maß. Selten zuvor gab es derart zornige Tiraden der Selbstbezichtigung, fast unisono heißt es, "der politische Journalismus funktioniere nicht mehr"
Über Monate hatte sich abgezeichnet, dass es in Deutschland zu einer Ablösung der rot-grünen Regierung kommen würde. Der Medientenor war einhellig: Die Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP werden die Wahl gewinnen, gemeinsam die neue Regierung stellen. Die einzig offene Frage schien zu sein, in welcher Höhe der Wahlsieg ausfällt. Die politische Publizistik und die Wahlforschung waren in dieser Frage d'accord. Warum gingen die politischen Journalisten mit ihren Einschätzungen derart fehl, dass sie konzedieren mussten, "dass in Wahrheit die Medien die Wahl verloren hätten"
Da abermals ein Fernsehwahlkampf geführt wurde, lautet die zentrale These: Der politische Fernsehjournalismus hat in großen Teilen versagt. Er hat sich von der Realität der Parteiendemokratie weit entfernt, zu der auch der Bürger als Mediennutzer gehört. Fernsehjournalismus konstruiert in wachsendem Maß eine Wirklichkeit sui generis. Diese zweite Wirklichkeit, die angesichts gravierender politischer Steuerungsprobleme im vergangenen Jahr einen kollektiven Wunsch nach einem politischen Wechsel propagierte, lässt sich auf eine selbstreferentielle Selbstkonditionierung der Fernsehmedien zurückführen. Die Medien rekurrierten zunehmend nur auf das von ihnen geschaffene Bild der politischen Wirklichkeit und auf Stereotypen der Berichterstattung, statt über aktuelle politische Entwicklungen zu berichten und sich von politischer Programmatik inspirieren zu lassen.
Für die These, dass Selbstthematisierung und Selbstbezüglichkeit der Berichterstattung für das Versagen des politischen Journalismus verantwortlich sind, gibt es drei wesentliche Indikatoren:
Die politische Berichterstattung wird immer unpolitischer. Selbst die genuine Wahlkampfberichterstattung entpolitisiert sich. Die Themenfelder der Policy, politische Sachthemen, werden immer weiter marginalisiert. Dagegen dominieren politische Prozessthemen (Politics) die Berichterstattung. Es geht unterdessen in fast allen mediengeprägten Demokratien im Vorfeld von politischen Wahlen um den Kampf, um das Rennen, um die Konkurrenzsituation. Dafür haben die US-Amerikaner den Begriff Horse-Race-Journalism geprägt. Wahlkampagne, Wahlwerbung oder der Wahlkampfverlauf mit seinen Stimmungswechseln und dem dialektischen Rhythmus von Angriff, Verteidigung und Gegenangriff besitzen im journalistischen Auswahlprozess hohen Nachrichtenwert. Eine Abfolge von routiniertem Unvorhergesehenem sind diese Prozessthemen; deshalb lassen sie sich so gut im Stile der Sportberichterstattung "framen", d.h. vom Regelsatz des Wettkampfs ungewissen Ausgangs rahmen. Der politische Wettbewerb der Parteien ist als selbstreferentielles Thema im Vergleich zu Politikinhalten so dominant, weil eine laufende Berichterstattung über Wahlkampfaktivitäten, Umfragen, neue Wahlkampfaktivitäten und Thematisierungsversuche für den politischen Journalisten im Wahlkampftross schnell, preisgünstig und ohne großen Rechercheaufwand neue Nachrichten liefert.
Fast drei Viertel der Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2005 bestand aus solchen politics issues (vgl. Abbildung1), handelte also von Themen wie innerparteilichen Konflikten, Kampagnen, Wahlkampfstrategien, Wahlumfragen, Prognosen, Herabsetzungsbestrebungen gegenüber dem politischen Gegner und Kandidatenprofilen.
Innerhalb dieser metapolitischen Themen nehmen unterdessen selbstthematisierende Beiträge stetig zu, in denen die Fernsehnachrichten nicht nur den politischen Wahlkampf darstellen, sondern die Rolle der Medien und ihren Einfluss auf die Wahl thematisieren, so die vermuteten Auswirkungen eines TV-Duells oder politischer Talk-Shows auf die Wahlentscheidung der Bürger. Es geht bei der so genannten Metakommunikation darum, wie die Nachrichtenmedien ihre Rolle bei der Inanspruchnahme der politischen PR durch Spin Doctors interpretieren und bewerten. Dieses meta coverage wird als dritte Stufe des politischen Journalismus bezeichnet, weil der Schwerpunkt der Berichterstattung unterdessen nicht mehr auf politischen Themen und Strategien liegt, sondern darauf, inwieweit Journalisten zu Akteuren der Kampagnen instrumentalisiert werden.
Ein knappes Viertel der Policy-Themen entfiel in den Nachrichtensendungen zum Bundestagswahlkampf 2005 auf diese Form der Metakommunikation, stellt also den politischen Wahlkampf vorzugsweise als Medienwahlkampf oder als mediatisierte Politik dar. Davon zeugten 2005 speziell die Blitzumfragen, von den Fernsehsendern im Anschluss an das TV-Duell in Auftrag gegeben, die wiederum Anlass waren für eine ausführliche Berichterstattung über den Einfluss der politischen Fernsehkommunikation auf die Wahlabsichten der (fernsehenden) Bevölkerung. Auch wenn dieses Phänomen in Europa noch nicht so verbreitet ist wie in den Vereinigten Staaten, gehört dieses Merkmal allgemein zur Amerikanisierung des Wahlkampfs.
Der zweite Indikator für die mediale Selbstkonditionierung im Prozess der Wahlkampfberichterstattung betrifft die Tatsache, dass prominente Journalisten als Akteure auftreten. Journalisten fragen Journalisten - dieser Trend ist zwar nicht neu, aber dennoch spielten Journalisten aus allen Medienbereichen als Interpreten des Wahlkampfs 2005 in Deutschland im Fernsehen eine zunehmend große Rolle. Diese zusätzliche Dimension des mediatisierten Wahlkampfs, die es in früheren Wahlkämpfen in dieser Intensität und Extensität nicht gab, "lässt sich als ein eigenständiges Element in der Gesamtdramaturgie der Wahlthematisierung betrachten"
Der vermutlich einschlägigste Indikator für journalistische Selbstkonditionierung, durch die eine zweite, von der politischen Realität entkoppelte Wirklichkeit konstruiert wird, betrifft den Trend zum Wahlumfragejournalismus. Meinungsumfragen sind in den vergangenen Jahren durch ihre mediengerechte Aufbereitung zu einem zentralen Element der politischen Kommunikation geworden.
Wahlumfragen gelten als besonders berichterstattenswert - nicht nur, weil sie problemlos den medialen Aktualitätserfordernissen entsprechen, sondern weil sie darüber hinaus wesentliche Nachrichtenfaktoren auf sich vereinigen können.
Nicht nur ist Deutschland zu einer zahlengläubigen Republik geworden, auch das Fernsehen verlässt sich zunehmend auf die Prognosen der Wahlforscher; diagnostiziert wird eine "Umfragehörigkeit" der politischen Journalisten.
In 136 von 658 Beiträgen (21,3 Prozent) der analysierten Nachrichtenbeiträge zum Wahlkampf 2005 wurden derartige Ergebnisse von Wahlumfragen thematisiert (vgl. Abbildung2). Spitzenreiter der Thematisierung von Wahlumfragen nach Anzahl der absoluten Fälle ist RTL mit 48, gefolgt von SAT.1 (34), ARD (28) und ZDF (26). Da SAT.1 nur einen vergleichsweise geringen Anteil an der gesamten Wahlkampfberichterstattung hat (101 Beiträge = 15,3 Prozent), verbucht dieser Sender den höchsten relativen Wert an Wahlumfragen von 35,1 Prozent vor RTL (196 Wahlkampfbeiträge = 29,8 Prozent) mit 24,5 Prozent Umfragethematisierung. Die öffentlich-rechtlichen Sender ARD (198 Wahlkampfbeiträge = 30,1 Prozent) und ZDF (163 Beiträge = 24,8 Prozent) verfügen mit 14,5 Prozent und bzw. 17,1 Prozent über den geringsten relativen Anteil an demoskopisch geprägter Berichterstattung. Betrachtet man die gesamte Wahlkampfberichterstattung im Monat vor der Wahl, so stieg der Anteil der umfragebasierten Berichterstattung zwischen der viertletzten Woche und der letzten Woche vor der Wahl von zunächst 11,9 Prozent kontinuierlich auf 32,1 Prozent an.
Was die Parteien- und Politikerpräsenz in der Wahlkampfberichterstattung betrifft, so gilt seit vielen Jahren die Faustregel, dass politische Akteure nach herrschendem Proporz befragt werden und entsprechend nach parlamentarischem Gewicht zu Wort kommen. Es wird eine formale Ausgewogenheit hergestellt, da in der Regel einer politischen Position der Regierungspartei automatisch die Gegenposition einer Oppositionspartei gegenübergestellt wird. Auf diese Weise kommt es in Konkurrenzdemokratien zu Neutralisierungseffekten, aber im Detail spiegelt sich der Vorsprung der Sitzverteilung im Parlament in der medialen Repräsentanz des politischen Fernsehjournalismus wider. Dies haben viele Studien unter dem Schlagwort "Kanzlerbonus" empirisch belegen können.
Logisch zwingend ist, wenn Inhouse-polls von Fernsehsendern verstärkt in Auftrag gegeben und, je näher die Wahl rückt, in immer höherer Frequenz publiziert werden, dass sich der Journalismus verstärkt auf diese demoskopischen Artefakte verlässt. Die demoskopischen Befunde werden redaktionell internalisiert und geben hinsichtlich der Fernsehpräsenz der Parteien den groben Rahmen für die folgende Berichterstattung ab. Deshalb bietet es sich an, die Verteilung der Fernsehpräsenz der Parteien detaillierter zu beobachten: Es zeigt sich, dass die von den Fernsehsendern in Auftrag gegebenen Umfragen zu journalistischen Sensoren geworden sind, die die kurzfristige politische Stimmungslage in der Berichterstattung der Vorwahlzeit widerspiegeln.
Zieht man von den 1 008 O-Ton-Statements, die in den vier Wochen vor der Wahl 2005 publiziert wurden (vgl. Abbildung3), die Aussagen von Experten, Journalisten und Bürgern ab und konzentriert sich auf die verbleibenden 624 O-Töne der später im Bundestag vertretenen Parteienvertreter, dann deckt sich der Proporz der Statements der Parteien fast punktgenau mit den letzten öffentlich publizierten Wahlumfragen vor der Wahl: Rund acht Prozentpunkte Vorsprung für die CDU/CSU gegenüber der SPD, statt einer auf einen Kanzlerbonus hinweisenden Orientierung am parlamentarischen Proporz. Und, weitaus gravierender: Sowohl die später stark kritisierten Umfragewerte aller großen Institute als auch die Parteienpräsenz in der Wahlkampfberichterstattung des Fernsehens weichen signifikant vom überraschenden amtlichen Endergebnis 2005 ab, und zwar - bis auf die in der Berichterstattung stark unterrepräsentierte Linkspartei - in gleichem Maße.
In der Praxis der Wahlkampfberichterstattung existiert zunächst ein im Rahmen der Agenda-Setting- und Agenda-Buildingprozesse generiertes Thema. Unabhängig von der Frage, ob das Thema einschlägig für alle Parteien auf der Sachebene ist, werden gemäß der Ausgewogenheits- und Proporzlogik der Medien alle Parteienvertreter zu diesem einen Thema reihum befragt. Es entstehen schematisierte O-Ton-Ketten, die der politische Journalist Marcus Jauer anlässlich der Koalitionsfrage "Jamaika-Koalition" oder "Israel-Lösung" pointiert beschrieben hat: "Was sagen sie dazu? So geht das hin und her. Mit einer Frage kommt man locker durch den Tag. Jede Äußerung erzwingt eine weitere, immer gibt es ein Thema, immer ist jemand am Zug."
Nachrichtensendungen des deutschen Fernsehens veröffentlichen aber nicht nur demoskopische Erhebungen, sondern beginnen mit diesem vergleichsweise stabilen redaktionellen Instrument selbst zu orakeln. Wahlumfragen werden nicht nur in festen Sendungsbestandteilen wie dem "ZDF-Politbarometer", dem "ARD-deutschlandtrend" oder "RTL-Wahltrend" publiziert, es wird auch in Moderationen und Beiträgen frei über den Einfluss von Prognosen spekuliert. Im Zuge der Veröffentlichung von Umfragedaten kommt es zu einer spezifischen Form von Wahlprognosen. In 106 Wahlkampfbeiträgenund Moderationen (16,2 Prozent dergesamten Wahlkampfberichterstattung) haben Journalisten eine solch autonome Wahlprognose formuliert und dabei über sinkende und steigende Chancen für Regierungskoalition und Opposition spekuliert (vgl. Abbildung4). Bei RTL lag der Anteil mit 27 Prozent am höchsten, beim ZDF mit 8,7 Prozent am niedrigsten. Von der beispiellosen Intensivierung demoskopischer Berichterstattung in den beiden letzten Wochen vor der Wahl, als sich der große Vorsprung der Opposition gegenüber der rot-grünen Regierung in den Umfragen allmählich verringerte, sind auch die journalistischen Prognosen betroffen. So gab es insgesamt mehr Thematisierungen steigender Chancen der Regierungskoalition als günstigerer Aussichten der Opposition. Umgekehrt überwiegen die negativen Einschätzungen der Chancen der Opposition diejenigen der Regierung Schröder - allerdings nicht in einem Umfang, der das überraschende Wahlergebnis auch nur annähernd erklären könnte.
Blickt man allerdings auf die einzelnen Sender, offenbart sich ein sehr uneinheitliches Bild der Spekulationen und Prognosen. Die ARD hat fast in jedem zweiten einschlägigen Beitrag steigende Chancen der Opposition verkündet, während RTL in jedem dritten prognostischen Beitrag sinkende Chancen der Opposition thematisierte. Am erstaunlichsten verhalten sich die journalistischen Prognosen zum Wahlausgang bei SAT.1: Der nicht gerade als SPD-nah geltende Sender verwies in 45 Prozent der prognosegeprägten Beiträge auf bessere Aussichten für die rot-grüne Regierung.
Insgesamt handelt es sich bei den in Berichten und Moderationen en passent vermittelten Prognosen um journalistisch geformte Interpretationen statistischer Erhebungen, durch die zusätzliche mediale Einflüsse in die Berichterstattung gemengt werden. Das bindet "polls" und "media" noch stärker zusammen und beeinflusst den politischen Journalismus in einer Weise, die normativ-demokratietheoretisch bedenklich ist. Kurzum: Primat und Logik der Daten werden vom nachrichtenjournalistischen Personal nachhaltig verinnerlicht. Die Folge: Es wird in einer Logik publiziert bzw. thematisiert, die sich am Ergebnis und der zu unterstellenden Wirkung der Veröffentlichung - nämlich den Umfrageergebnissen - orientiert. Damit kommt es zur Schließung des selbstreferentiellen Zirkels.
Zusammenfassend konnten anhand der Analyse der Nachrichtensendungen zum Bundestagswahlkampf einige wichtige Hinweise auf eine selbstbezügliche Funktionsweise der Meta-Kommunikation im politischen Fernsehjournalismus gegeben werden. Medien beobachten, wie sich unter ihrem Einfluss, nämlich der mediatisierten Berichterstattung, die Akzeptanz und Wahlabsichten verändern, und sie kontinuieren ihre Beobachtungen damit. Die Folge ist zum einen eine simplifizierende Horse-Race-Berichterstattung, zum anderen eine bemerkenswerte Kongruenz zwischen den durch inhouse-Demoskopie ermittelten Wahlpräferenzen und der medialen Auswahl der für die Berichterstattung einschlägigen Aussagensubjekte. Die Konzentration auf die notorische Sonntagsfrage lähmt aber die Urteilskraft politischer Journalisten. Es ist zweifelsfrei einfacher, mit Zahlen zu hantieren, als die konkurrierenden Modelle der Sozialversicherungssysteme zu diskutieren. Die Sach- und Ressortpolitik ist zu kompliziert geworden. Wie lassen sich die konkurrierenden Modelle der Steuerreform und der Gesundheitsreform vermitteln - wenn man sie selbst kaum versteht und auch nicht die Zeit hat, sich auf eine Weise einzuarbeiten, dass man diese Sachthemen den Bürgern und Wählern in einem Fernsehbeitrag so vermitteln kann, dass Wissen "Ah" macht.
Insofern sind "Bet & win"-Berichterstattung und Horse-Race-Journalismus als zeitgemäße Strategie wider die Tyrannei der komplizierten Entscheidungszwänge zu verstehen. Ganz nüchtern betrachtet lässt sich darin ein schlichtes evolutionäres Moment erkennen. Ein Primat aufmerksamkeitsökonomischer Logik: Medien sind gezwungen, die unfassbare Komplexität gesellschaftlicher Regulierungsprozesse in ein attraktives Format umzurechnen, das die Illusion aufrecht erhält, jeder könne alles verstehen. Das läuft zum einen über die Sichtbarkeit von Personen, zum anderen über nackte Zahlen. Und wenn schon Wirtschaftsprognosen und Geschäftsklimaindizes, Steuerschätzungsprognosen und Arbeitsmarktzahlen nicht immer eindeutig sind und von interessierter Seite oftmals angezweifelt werden: Wahlumfragen lassen keinen Zweifel aufkommen - oder besser: Massenmedien lassen keinen Zweifel daran zu, diese Zahlen könnten manipuliert, falsch oder schlicht bedeutungslos sein.