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Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert | Postdemokratie? | bpb.de

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Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert

Axel Honneth

/ 21 Minuten zu lesen

Gesellschaftliche Konflikte ergeben sich dann, wenn das Anerkennungsversprechen verletzt wird. Verwildert ist heute der soziale Konflikt, weil der Kampf um Anerkennung seiner moralischen Grundlagen stark verlustig gegangen ist.

Einleitung

In den Debatten über soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Konflikte spielt die Kategorie der Anerkennung zumeist eine untergeordnete Rolle. Im Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, George Herbert Mead und Talcott Parsons lässt sich die Etablierung moderner Gesellschaften jedoch als ein Prozess der Ausdifferenzierung von verschiedenen Sphären der wechselseitigen Anerkennung beschreiben. Mit Hilfe des Begriffs der Anerkennung soll Aufschluss darüber gewonnen werden, welche Antriebe es sind, die die Gesellschaftsmitglieder zur Übernahme sozialer Verpflichtungen bewegen: Jeder Mensch ist, wie Parsons sagt, primär an der Wahrung einer Form von "Selbstachtung" interessiert, die auf die Anerkennung durch ihrerseits anerkannte Interaktionspartner angewiesen ist. Insofern ist es "einer der schlimmsten Schläge" für jeden Einzelnen, "die Achtung von Menschen zu verlieren, deren Achtung man erwartet". In dieser Perspektive wird davon ausgegangen, dass nicht nur die individuellen Mitglieder, sondern auch die wesentlichen Institutionen von Gesellschaften auf Praktiken und Ordnungen intersubjektiver Anerkennung angewiesen sind. Damit können soziale Sphären immer auch als Anerkennungsverhältnisse betrachtet werden, in denen wir uns nicht bewegen und verhalten können, ohne implizit auf das jeweils institutionalisierte Anerkennungsprinzip zurückzugreifen.

Diese Sicht auf die Architektur moderner Gesellschaften erzwingt folgenreiche Akzentverschiebungen gegenüber dem Gros soziologischer und politikwissenschaftlicher Ansätze: Zum einen wandelt sich die Vorstellung über die Eigenart gesellschaftlicher Subsysteme und Institutionen - diese müssen als ausdifferenzierte, um Normen der reziproken Achtung kristallisierte Handlungssphären begriffen werden, weil die ihnen innewohnenden Pflichten und Verantwortlichkeiten vor allem aus dem Streben nach sozialer Anerkennung heraus erfüllt werden. Die Normen und Werte, die als moralische Integrationsquellen in diesen Sphären dienen, müssen zugleich Standards liefern, in deren Licht sich die Teilnehmer wechselseitig anerkennen können. Zum anderen erhält die Beschreibung sozialer Konflikte eine neue Gestalt: Diese können, in Anlehnung an eine Denkfigur Hegels, als ein "Kampf um Anerkennung" begriffen werden, als das Ringen um eine Neubewertung, Neuinterpretation oder Neuformulierung der in den jeweiligen Sphären geltenden Normen der Anerkennung. Zu kurz greifen theoretische Versuche, soziale Kämpfe allein unter dem ökonomischen Paradigma der Umverteilung begreifen zu wollen - ihnen entgeht die tiefer liegende Schicht normativer Antriebe, die "moralische Grammatik sozialer Konflikte".

Im Folgenden soll nach der Klärung zentraler Elemente einer anerkennungstheoretischen Gesellschaftsanalyse einige der gesellschaftlichen Tendenzen herausgearbeitet werden, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer schleichenden Untergrabung maßgeblicher Anerkennungsnormen geführt haben. Das vorläufige Ergebnis dieser Auflösungserscheinungen soll im dritten Schritt vorgestellt werden. Die These lautet hier, dass von einer "Verwilderung" des sozialen Konflikts gesprochen werden kann. Gemeint ist damit ein gesellschaftlicher Zustand, in dem die Bestrebungen nach sozialer Anerkennung ausufern, weil sie in den systemisch vorgesehenen Handlungssphären keine normativ gerechtfertigte Befriedigung mehr finden.

Begriff der Anerkennung

Im täglichen sozialen Austausch entfaltet sich bereits eine zwischenmenschliche Ebene der Anerkennung, auch wenn die volle Bedeutung des Konzepts dabei noch nicht zur Geltung kommt. Anerkennung bezeichnet in dieser gesellschaftlichen Praxis den Akt, in dem "zum Ausdruck kommt, daß die andere Person Geltung besitzen soll [und] die Quelle von legitimen Ansprüchen ist". Aufgrund ihres intersubjektiven Charakters ist in die alltäglichen Praktiken zwischenmenschlicher Anerkennung ein Zwang zur Reziprozität eingelassen: Die sich begegnenden Personen sind gewaltlos dazu genötigt, auch ihr soziales Gegenüber in einer bestimmten Weise anzuerkennen, um sich in dessen Reaktionen selbst anerkannt zu finden - die Anerkennung des Gegenübers wird zur Bedingung des eigenen Anerkannt-Seins. Es ist jedoch nicht nur die Anerkennung aus dem persönlichen Umfeld, sondern auch die "vonseiten unterschiedlich generalisierter Anderer", die für die Identität der Gesellschaftsmitglieder und die Funktionserfordernisse der Gemeinwesen zentral ist. Moderne Gesellschaften kommen dann als Zusammenhang ausdifferenzierter Anerkennungssphären in den Blick - als sozial etablierte Interaktionsmuster, in denen jeweils unterschiedliche Prinzipien der Anerkennung verankert sind.

Eine kritische Rekonstruktion und Aktualisierung der Hegelschen "Rechtsphilosophie" lenkt die Aufmerksamkeit auf drei institutionelle Komplexe, also drei Sphären moderner Gesellschaftssysteme: die Familie bzw. Beziehungen auf Grundlage liebevoller Zuwendung, das Recht und die Wirtschaft. Diese Komplexe übernehmen jeweils die doppelte Funktion einer Erbringung systemerhaltender Leistungen und der normativ geregelten Befriedigung von Anerkennungserwartungen. Jede der genannten Institutionen muss allgemein akzeptierte Werte in einer Weise verkörpern, die es den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern erlaubt, die von ihnen arbeitsteilig erwarteten Aufgaben mit der normativ verbürgten Aussicht auf eine bestimmte, sphärenspezifische Form der Anerkennung zu verrichten. Die in diesen Sphären erfahrene Anerkennung, so lautet eine weitere Pointe bei Hegel, soll es den Individuen ermöglichen, positive Selbstbeziehungen zu entwickeln, sich quasi im Lichte gewonnener Anerkennung zu betrachten. Drei Komponenten an den institutionellen Ordnungen sind daher von besonderer Bedeutung: Erstens müssen diese auf Normen beruhen, die eine nachvollziehbare Verknüpfung zwischen individueller Rollenbefolgung und sozialer Anerkennung herstellen, zweitens müssen solche Verknüpfungen in einem generalisierten Anerkennungsmedium auf Dauer gestellt sein, und drittens sollte das entsprechende Medium nach Möglichkeit in einem deutlich erkennbaren, generalisierten Symbol zum Ausdruck gelangen.

Anerkennungssphäre der Liebe

Die Verwendung der Begriffe "Familie" und "Liebe" soll nicht die falsche Annahme hervorrufen, es handle sich um die romantische Verklärung der bürgerlichen Ehe. Gemeint ist ein besonderes Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung: alle Primärbeziehungen, soweit sie nach dem Muster von erotischen Zweierbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen. Von einer eigenständigen Sphäre, in der eine spezifische Form der Anerkennung zur Geltung kommt, kann nur unter zwei Voraussetzungen gesprochen werden, die typischerweise erst in modernen Gesellschaften vorliegen: erstens der institutionellen Herauslösung der Kindheit aus dem Lebensweg als besonders schutzbedürftiger Phase, zweitens dem Wegfall ökonomischen und ständischen Zwangs bei der Wahl von Lebenspartnern. Damit erst entstehen die Bedingungen einer Form von Anerkennung, die das mit besonderen emotionalen Bedürfnissen ausgestattete Individuum in den Vordergrund rückt.

Auf dieser ersten Ebene reziproker Anerkennung soll der Einzelne in einem von Sorge, Zuneigung und emotionaler Bindung geprägten Umfeld sich selbst als Individuum erfahren lernen, das mit elementaren Bedürfnissen ausgestattet, aber auch auf andere und deren Zuwendung angewiesen ist, um ein intaktes Verhältnis zu sich selbst etablieren zu können. Die praktische Selbstbeziehung, die Menschen in dieser ersten Sphäre der Anerkennung entwickeln, ist die des Selbstvertrauens, eines elementaren Verständnisses der eigenen Bedürfnisnatur. Die Erfahrung dieser grundlegenden Form von Anerkennung erlaubt es, auch fremde Perspektiven als bedeutungsvoll zu erleben und so fundamentale Kompetenzen für die Partizipation am öffentlichen Leben zu entwickeln. Neben diesen emotionalen und sozialisatorischen Leistungen kommt der Anerkennungssphäre der Familie noch eine dritte Funktion zu: Für Anerkennungsverluste oder Missachtungserfahrungen, die Menschen in anderen Gesellschaftssphären erleben, soll ihnen im Nahbereich der Fürsorge- und Zuneigungsbeziehungen eine kompensatorische Form der Anerkennung zukommen können.

Anerkennungssphäre des Rechts

Als weitere Sphäre der Anerkennung in modernen Gesellschaften können wir die des Rechts betrachten. Auch dieser Gedanke findet sein Vorbild in der "Rechtsphilosophie" Hegels, wo bereits die unhintergehbare Prämisse dieser Sphäre anklingt: Die Mitglieder des Gemeinwesens erkennen sich als gleichwertige Rechtspersonen an. In der Rechtsgemeinschaft "wird der Mensch als vernünftiges Wesen, als frei, als Person anerkannt und behandelt; und der Einzelne seinerseits macht sich dieser Anerkennung dadurch würdig, daß er (...) gegen andere sich auf eine allgemein gültige Weise benimmt, sie als das anerkennt, wofür er selber gelten will - als frei, als Person". Die moralische Legitimität des modernen Rechts hängt von der Zustimmungsfähigkeit derjenigen ab, die in seinem Geltungsbereich leben, was wiederum voraussetzt, dass die Mitglieder des Gemeinwesens als moralisch urteilsfähige Menschen angesehen werden - "wenn eine Rechtsordnung nur in dem Maße als gerechtfertigt gelten und mithin auf individuelle Folgebereitschaft rechnen kann, in dem sie sich im Prinzip auf die freie Zustimmung aller in sie einbezogenen Individuen zu berufen vermag, dann muß diesen Rechtssubjekten zumindest die Fähigkeit unterstellt werden können, in individueller Autonomie über moralische Fragen vernünftig zu entscheiden. Insofern ist jede moderne Rechtsgemeinschaft (...) in der Annahme der moralischen Zurechnungsfähigkeit all ihrer Mitglieder gegründet."

Das moderne Recht fußt mithin auf einem moralischen Gleichheitsversprechen für alle Gesellschaftsmitglieder, weshalb die hier normativ ermöglichte Reziprozität der Anerkennung strikt symmetrisch oder egalitär ist, also eine Abstufung sozialer Ränge gar nicht erst erlaubt ist. Konflikte oder Spannungen können sich nur dort entwickeln, wo Inklusionen verweigert oder Benachteiligungen als solche nicht erkannt werden, also Individuen oder Gruppen der gleiche Zugang zum Rechtssystem nicht eröffnet wird. Von dieser normativen Voraussetzung des modernen Rechts lässt sich auf die Form der Selbstbeziehung schließen, die in dieser Anerkennungssphäre entstehen soll: Das positive Selbstverhältnis, das dem Individuum aus der Anerkennung in der Rechtssphäre erwachsen soll, ist das der Selbstachtung, die daraus hervorgeht, das eigene Handeln als Ausdruck individueller Autonomie verstehen zu können. Insofern liegt der ethische Wert der Anerkennung hier, in dieser zweiten Sphäre, im Selbstverständnis aller Beteiligten, sich als "Rechtsträger mit moralischer Urteilskraft" verstehen zu können.

Allerdings ist modernen Rechtssystemen aufgrund ihres eigenen Prinzips ein Moment historischer Dynamik eigen, das in Form sozialer Kämpfe zum Tragen kommt: Das ihnen innewohnende Versprechen des moralischen Universalismus wird von den Beteiligten immer wieder mobilisiert, um eine weitere Verallgemeinerung und Konkretisierung des Staatsbürgerstatus einzuklagen. Ist eine bislang ausgeschlossene Gruppe einmal in das positive, staatlich verbürgte Rechtsverhältnis einbezogen, so können in dieser Sphäre mit glaubwürdigem Legitimitätsanspruch wechselseitige Beziehungen gleicher Achtung gedeihen, die überdies in der Zuerkennung subjektiver Rechte über ein markantes symbolisches Ausdrucksmittel verfügen.

Anerkennungssphäre der Wirtschaft

Anders verhält es sich jedoch in einem weiteren entscheidenden Institutionengefüge der modernen Gesellschaft: Auch im kapitalistischen Wirtschaftssystem ist die Erfüllung funktional erforderlicher Aufgaben an den Erwerb sozialer Anerkennung gebunden. Während in der Anerkennungssphäre des Rechts das generelle menschliche Vernunftpotenzial anerkannt wird, so sind es im Gegensatz dazu die besonderen, individuellen Merkmale und Talente eines Menschen, die in dieser dritten, im kapitalistischen System der Wirtschaft angesiedelten Sphäre Achtung einbringen sollen. Als Anerkennungsnorm, anhand derer das Maß an legitimerweise zu erwartender Anerkennung bestimmt wird, dient in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften das Leistungsprinzip. Historische Voraussetzung dafür, dass das Leistungsprinzip in Geltung treten kann, ist der Durchbruch von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung, denn erst unter diesen Bedingungen löst sich die Vergabe sozialer Achtung von vorgegebenen Kategorien wie Stand und Herkunft, um auf die Anerkennung individueller Beiträge überzugehen. Mit der Ablösung der feudalen durch die bürgerliche Gesellschaft wird das Leistungsprinzip "neben den Menschenrechten und der Anerkennung der Bedürftigkeit (...) eine dritte Fundamentalnorm im Selbstverständnis moderner Gesellschaften"; damit einher geht der Anspruch, "Einkünfte, Zugänge, Ränge und Ämter allein nach den Maßstäben von Wissen und Können zu vergeben".

Offensichtlich übernimmt das Leistungsprinzip, anders als der moralische Universalismus der Rechtssphäre, keine egalisierende Funktion. Vielmehr stellt es eine normative Rechtfertigungsgrundlage für soziale Ungleichheit, für abgestufte Teilhabe am wirtschaftlichen Reichtum dar. Diese Anerkennungssphäre ist - allein schon wegen der ungleichen Chancen auf Zugang zum Bildungssystem - einem dauerhaften Konflikt um die Auslegung des Leistungsprinzips und um die Interpretation von Beiträgen unterworfen, für die soziale Gruppen oder Individuen Achtung einfordern. Auch die wachsende Komplexität und Differenzierung der ökonomischen Sphäre vernebelt den Zusammenhang von individuell erbrachter Leistung und erfahrener Anerkennung immer stärker. Im Unterschied zum Rechtssystem besteht also sowohl eine intrinsische Unsicherheit über das zugrundeliegende Anerkennungsmedium als auch eine Abstufung der Achtung infolge seiner Anwendung - und beides führt zu einer strukturellen Anfälligkeit dieser Institution für soziale Konflikte und Spannungen.

Ein Kampf um Anerkennung findet nicht nur, aber aus den genannten Gründen doch am augenfälligsten im Institutionengefüge des modernen Wirtschaftssystems statt. Die Münze, in der sich die im Wirtschaftssystem gewährte Achtung für den Einzelnen auszahlen soll, besteht, so lassen sich auch die Ausführungen Parsons interpretieren, in der Zurechnung eines bestimmten, vor allem durch die Höhe des Einkommens festgelegten Status; daher übernimmt das "Geld" hier die sphärenspezifische Rolle eines symbolischen Mittels der öffentlichen Veranschaulichung erworbener Anerkennung.

Zu den positiven Selbstverhältnissen des Selbstvertrauens und der Selbstachtung, die durch Anerkennung in den Sphären der Liebe und des Rechts gewonnen werden, tritt nun ein weiterer Persönlichkeitsaspekt hinzu: Mit der Erfahrung, für individuelle Talente und Fähigkeiten anerkannt zu werden, erwächst das praktische Selbstverhältnis der Selbstschätzung. Es sind diese drei positiven Selbstverhältnisse, die es Individuen erlauben, sich als bedürftige, vernünftige und wertvolle Personen zu begreifen. Die Möglichkeit, diese aus Anerkennung hervorgehenden Persönlichkeitsaspekte zu etablieren, ist eine normative Voraussetzung dafür, die Einrichtung einer Gesellschaft als gerecht bezeichnen zu können. Die Gewährleistung und Institutionalisierung dieser Anerkennungsprinzipien ist demnach entscheidend für die gesellschaftliche Integration und Stabilität, denn die Unterstützung der sozialen und politischen Ordnung durch die Gesellschaftsmitglieder hängt, ebenso wie die Erbringung funktional erforderlicher Leistungen, von der Aussicht auf reziproke Anerkennung ab.

Bevor nun einige folgenreiche, ja dramatische Verschiebungen in der Architektur der damit umrissenen Anerkennungsordnung im Laufe der vergangenen Jahre und Jahrzehnte thematisiert werden sollen, kann ein Zwischenfazit an dieser Stelle noch einmal das bisher Gesagte verdeutlichen: Der Durchbruch zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wird hier als das Resultat einer Ausdifferenzierung von drei Anerkennungsformen verstanden. All den damit sich entwickelnden Sphären liegt insofern ein jeweils besonderes Anerkennungsprinzip zugrunde, in dessen Licht die Beteiligten unter glücklichen Umständen einen für sie bedeutenden Aspekt ihrer Person bestätigt finden können: in der Sphäre der persönlichen Beziehungen die fürsorgende Wertschätzung der unantastbaren, leiblichen Integrität eines jeden Menschen, in der des Rechts die Achtung als Vernunftperson mit moralischen Kapazitäten und in der Sphäre des marktwirtschaftlichen Handelns schließlich die Anerkennung sozial wertvoller Eigenschaften und Fähigkeiten.

Die Gewährleistung dieser Anerkennungsarchitektur ist elementar für die individuellen Entwicklungschancen und die Stabilität der politischen Ordnung - die Mitglieder einer Gesellschaft bringen nur dann die Motive zur Erfüllung sozial erforderlicher Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf, wenn ihnen die Befolgung der entsprechenden Handlungsnormen zugleich eine Befriedigung ihrer Selbstachtung in Aussicht stellt. Ein Anlass für gesellschaftliche Konflikte ergibt sich immer dann, wenn soziale Gruppen oder Schichten Gründe für die Vermutung erkennen, dass die normativen, regulierenden Standards ihre eigenen Beiträge benachteiligen oder ihnen überhaupt keine Chance zum Achtungserwerb vermitteln, dass dem entsprechenden Handlungssystem innewohnende Anerkennungsversprechen also gesellschaftlich verletzt wurde.

Tendenzen seit dem späten 20. Jahrhundert

Die politischen, kulturellen und ökonomischen Umbrüche im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben dem gesamten Netzwerk institutionalisierter Anerkennungsbeziehungen eine neue Gestalt verliehen. Die empirischen Voraussetzungen, unter denen noch Parsons seine Überlegungen anstellte, beschreiben nur noch sehr eingeschränkt die soziale Realität der Gegenwart. Verschoben haben sich auch die normativen Deutungen, die in den drei institutionellen Komplexen der Familie, des Rechts und der Wirtschaft den konstitutiven Prinzipien jeweils ihren aktuellen, anwendungsrelevanten Sinn verleihen.

... im Hinblick auf Familie

Sinnfällig sind die Veränderungen, die in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Gestaltwandel in der Institution der Familie geführt haben. Angestoßen durch die überfällige Emanzipation der Frauen ist mittlerweile der enge, sittlich gestützte Motivationszusammenhang, der noch vor fünfzig Jahren zwischen sexueller Zuneigung und Ehe, Ehe und Zusammenleben, Zusammenleben und Kinderzeugung bestanden hatte, in seine einzelnen Bestandteile zerbrochen, so dass von einer "postmodernen" Vervielfältigung der Familienformen gesprochen werden kann. In diesem Prozess der "Deinstitutionalisierung der Kleinfamilie" (Hartmut Tyrell) ist auf der Strecke geblieben, was etwa Parsons in seinen Analysen noch als den institutionellen Kern ihrer Verankerung in der Gesellschaft angesehen hat: die "symbolische" Funktion des Vaters nämlich, dem unabhängig von seinem jeweils spezifischen Auftreten und Verhalten die objektive Aufgabe zufallen sollte, die außerhäuslichen Wertprinzipien innerhalb der Familie zu repräsentieren und durchzusetzen. Auch wenn es dabei geblieben sein sollte, wie immer wieder behauptet wird, dass eine derartige autoritative Vermittlungsleistung für die kindliche Sozialisation unverzichtbar bleibt, so wird sie heute doch längst nicht mehr ausschließlich von Männern, sondern in zunehmendem Maße auch von Frauen erbracht. Damit aber hat sich das Autoritätsgefälle zwischen den Geschlechtern innerhalb des symmetrischen Anerkennungsverhältnisses der Familie, von dem Parsons gesprochen hatte, endgültig aufgelöst und an seine Stelle ist die prinzipielle Norm einer durchgängigen Gleichbehandlung getreten.

Die Folge dieser Machtverschiebungen für die kompensatorische Funktion, welche die Familie doch auch in Hinblick auf die Versagungen und Kränkungen in der Arbeitswelt übernehmen sollte, sind unübersehbar: Die Männer könnten heute für ihre Vaterrolle zu Hause nicht mehr auf das Mehr an Wertschätzung und Respekt rechnen, welches sie für all die Anerkennungsverluste entschädigen sollte, die sie in den Ungerechtigkeiten des Leistungswettbewerbs haben erdulden müssen. Das feinmaschige Ausgleichssystem sozialer Anerkennung, das noch vor fünfzig Jahren durch Benachteiligung der Frauen gegeben war, ist an dieser Stelle zerrissen: Mit der Entkoppelung des "Vatersymbols" vom männlichen Geschlecht haben die Männer die Chance verloren, innerhalb ihrer Familien das Übermaß an intersubjektiver Anerkennung zu erwerben, durch das sie bislang ihre Missachtungserfahrungen in der Wirtschaftssphäre zu kompensieren vermochten.

... im Hinblick auf Recht

Wie ist es dagegen um die Anerkennungsordnung in der Sphäre des Rechts bestellt, dessen moralischer Universalismus für alle Gesellschaftsmitglieder eine Quelle der Selbstachtung darstellen soll? Das egalisierende Gleichheitsversprechen der Rechtssphäre müsste für eine qualitative Ausweitung seiner Geltung sorgen; soziale Gruppen, die sich von der jeweils aktuellen Auslegung des Gleichheitspostulats ausgeschlossen oder benachteiligt fühlen, können mit Verweis auf die Bedingungen vollwertiger Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen ihre umfassende Anerkennung beanspruchen. Für so gut wie alle erwachsenen Mitglieder der modernen Gesellschaften müsste es auf diesem Weg allmählich möglich sein, sich im Spiegel der ihnen zuerkannten Freiheits-, Teilhabe- und Teilnahmerechte einer Selbstachtung zu erfreuen, die im Bewusstsein der wechselseitig eingeräumten, staatlich geschützten Privatautonomie begründet ist.

Zwei intervenierende Entwicklungen jedoch lassen es heute weitaus schwieriger erscheinen, das egalitär angelegte Rechtsverhältnis als ungehindert sprudelnde Quelle der Selbstachtung aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu begreifen: Zum einen hat sich gerade infolge der siegreichen Kämpfe kultureller Minderheiten um rechtliche Gleichstellung die aktive, ermächtigende Bedeutung der Bürgerrechte weitgehend abgenutzt, so dass sie häufig nicht länger als symbolische Zeichen einer wechselseitigen Achtung, sondern privatistisch als Instrumente der individuellen Leistungsabsicherung gedeutet werden. Zum anderen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Kreis derjenigen kontinuierlich gewachsen, die an den inneren und äußeren Rändern der europäischen und nordamerikanischen Rechtsgemeinschaften als Immigranten, Asylsuchende oder "illegale" Einwanderer um rechtliche Aufnahme kämpfen, ohne über einen hinreichend geschützten Rechtsstatus zu verfügen. Je deutlicher die Hilfsbedürftigkeit solcher exkludierten Gruppen den Einwohnern wohlhabender, grundrechtlich gesicherter Gesellschaften zu Bewusstsein kommt, je weniger sie ihre Augen vor deren Notlage verschließen können, desto stärker scheinen sie heute das, was ihnen einmal vielleicht als eine Quelle der Anerkennung dienen konnte, in ein bloßes Mittel zur Abwehr von als unzumutbar empfundenen Ansprüchen Dritter umzudeuten.

Das Rechtssystem in den hochentwickelten Gesellschaften des Westens bietet daher heute ein höchst befremdliches Bild: Ein dessen Zentrum besetzt haltender, großer Kreis von rechtlich gut bis zufriedenstellend abgesicherten Bürgerinnen und Bürgern, die ein Bewusstsein ihrer sozialen Einbeziehung aber immer weniger aus den ihnen gewährten Rechten beziehen, steht einem anwachsenden Kreis von Ausgeschlossenen gegenüber, die nichts stärker ersehnen und zu erkämpfen versuchen als überhaupt nur die Aufnahme in dieses Verhältnis rechtlicher Anerkennung. Während die einen die Bedingungen ihrer Selbstachtung zunehmend außerhalb der Rechtssphäre zu suchen scheinen, die ihnen doch eigentlich eine elementare Form sozialer Anerkennung gewähren sollte, bemühen sich die anderen mit wachsender Verzweiflung darum, überhaupt erst in jene Sphäre einbezogen zu werden.

... im Hinblick auf Wirtschaft

Jeder optimistischen Prognose am gröbsten zu widersprechen scheinen die Entwicklungen im Wirtschaftssystem, in dem ein leistungsbezogener Wettbewerb die Chance eröffnen soll, sich im Lichte einer Anerkennung selbst wertzuschätzen, die durch Fähigkeiten und Talente verdient wird. Eine Reihe aktueller Tendenzen lässt es inzwischen fragwürdig erscheinen, in der Sphäre wirtschaftlichen Handelns überhaupt noch genügend Raum für die Gewinnung individueller Selbstschätzung zu vermuten. Das Leistungsprinzip, als Anerkennungsmedium in der Wirtschaftssphäre weithin akzeptiert, ist durch Usurpationen von Seiten kurzfristig auf dem kapitalistischen Markt erfolgreicher Schichten bis zur Unkenntlichkeit ideologisch überformt worden. Die gesellschaftliche Arbeit selbst hat in den wenig qualifizierten Bereichen infolge von Prozessen der Deregulierung und Entberuflichung ihren Charakter als vertraglich abgesicherte, verlässliche Einkommensquelle weitgehend verloren. Die Zahl der dauerhaft Arbeitslosen scheint nach jeder konjunkturellen Entspannung der ökonomischen Lage auf ein noch höheres Niveau anzuwachsen, so dass der Kreis derer, die überhaupt an einem normativ geordneten Leistungswettbewerb partizipieren können, immer schmaler wird. Weil aber keine dieser Entwicklungen dazu geführt hat, den Wunsch nach sozialer Anerkennung durch eine gesellschaftlich wertgeschätzte Arbeit geringer werden zu lassen, steht ein ständig wachsendes Heer von Gesellschaftsmitgliedern inzwischen vor der alltäglichen Herausforderung, überhaupt erst Zugang zu geregelten Chancen einer solchen Selbstschätzung zu finden. Der Kampf um berufliches Ansehen und leistungsvermittelte Anerkennung findet weitgehend nicht mehr innerhalb der Wirtschaftssphäre selbst statt, sondern in ganz anderen Formen vor ihren zunehmend verschlossenen Toren.

Um den neuen Zustand der Anerkennungsordnung zu beschreiben, wäre von einem Prozess der wachsenden Exklusion aus den Anerkennungssystemen bei einem gleichzeitigen Bedeutungsverlust ihrer tragenden Prinzipien zu sprechen: Im Kapitalismus der Gegenwart scheint ein wachsender Teil der Bevölkerung von jeder Möglichkeit abgeschnitten, überhaupt nur Zugang zu den achtungssichernden Sphären der Erwerbswirtschaft und des Rechtssystems zu gewinnen, während der andere, sich darin befindende Teil aus den hier gewährten Entlohnungen in immer geringerem Maße soziale Anerkennung zu schöpfen vermag, weil sich die zugrunde liegenden Prinzipien verunklart oder verdunkelt haben. Dieses grobe Bild wird vervollständigt durch das Schwinden der Möglichkeit eines Anerkennungstransfers zwischen Familie und Wirtschaftssphäre: Anerkennungsverluste im Leistungswettbewerb können immer weniger durch ein Surplus an Wertschätzung innerhalb der Familien ausgeglichen werden. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Veränderungen für den Zustand des sozialen Konflikts in der Gegenwart?

Verwilderung

Unter sozialen Konflikten soll an dieser Stelle mehr verstanden werden als Auseinandersetzungen, die sich innerhalb der politischen Öffentlichkeit in Form von thematisch fokussierten Debatten und Kontroversen abspielen. In solchen Streitigkeiten mag sich zwar widerspiegeln, was die Gesellschaftsmitglieder moralisch bewegt und aufbringt, aber eine sichere Auskunft über die tatsächlichen Kampfplätze und Frontlinien liefern sie aufgrund ihrer vielfältigen Beschränkungen nur selten. Soziale Konflikte entstehen vielmehr dort, wo Menschen glauben, in Ansprüchen benachteiligt oder beschnitten zu werden, die sie im Lichte von allgemein akzeptierten Prinzipien für gerechtfertigt halten. Auf der Grundlage ihrer eigenen normativen Prinzipien kann so in der Gesellschaft eine soziale Dynamik entfacht werden, die auf die Verwirklichung eines in ihr selbst angelegten Potenzials auf moralischen Fortschritt drängt. In Anlehnung an Hegel können wir hier von "Kämpfen um Anerkennung" sprechen. Ihr Spektrum reicht von Mikrokonfrontationen im Alltag, in denen eine Person gegenüber einer anderen auf uneingelöste Ansprüche in ihrer wechselseitig verpflichtenden Sozialbeziehung besteht, bis hin zum militanten Aufbegehren ganzer Kollektive, die sich um Rechte betrogen fühlen, welche ihnen aufgrund implizit geltender Normen zustehen müssten. Das Gemeinsame an diesen verschiedenen Formen des sozialen Konflikts ist jeweils der Ausgang von einer moralischen Empörung, die aus der Erfahrung stammt, nicht in der Weise anerkannt zu werden, wie es die institutionell verankerten Prinzipien nach eigener Auffassung gerechtfertigt erscheinen lassen. Daher vollzieht sich der Kampf um Anerkennung gewöhnlich in Form von Auseinandersetzungen um die Interpretation und Durchsetzung eines historisch noch uneingelösten Anerkennungsversprechens. Nicht beliebige Ansprüche werden geltend gemacht, nicht irgendwelche Forderungen nach Anerkennung erhoben, sondern nur solche, die im Lichte gemeinsam geteilter Überzeugungen und Normen als intersubjektiv begründungsfähig gelten können.

Von einer Situation, in der eine "Grundversorgung" größter Teile der Bevölkerung mit institutionell vermittelter Anerkennung aus den Quellen persönlicher Fürsorge, rechtlicher Bestätigung und leistungsbezogener Achtung als gesichert angesehen werden könnte, hat sich die spätkapitalistische Gesellschaft denkbar weit entfernt: Ein wachsender Kreis von Personen hat als "Unterklasse", bestehend aus Unterbeschäftigten, Schulabbrechern und "illegalen" Ausländern, überhaupt keinen Zugang zum Rechtssystem oder zur Wirtschaftssphäre, im schlimmsten Fall sind beide Anerkennungssphären gleichzeitig verschlossen. Eine andere, ebenfalls wachsende Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern, bestehend vor allem aus prekarisiert Beschäftigten und alleinerziehenden Müttern, verfügt zwar über Teilnahmechancen an allen drei Sphären der Anerkennung, kann aber aus dieser Teilnahme kaum mehr irgendeine stabile Form von Selbstachtung beziehen, weil die Beschäftigungsverhältnisse zu durchlöchert und fragmentiert, die Familienverhältnisse zu zerrüttet oder beziehungsarm sind. Nur ein dritter, immer geringer werdender Kreis von Personen kann unbeschränkt an den Teilsystemen der Familie, des Rechts und der Wirtschaft partizipieren, ohne die dadurch erhaltene Anerkennung allerdings noch als eine Einbeziehung in die Gesellschaft zu verstehen, weil die entsprechenden Statusmittel verstärkt zur Befestigung von gegen die anderen Gruppen gerichteten Barrieren genutzt werden. Aber trotz dieser tiefgreifenden Veränderungen, durch welche die etablierten Sphären wechselseitiger Anerkennung an ihren Rändern extrem porös geworden sind und immer mehr Menschen von gesellschaftlich begründeter Selbstachtung ausschließen, blieb die moralische Empörung bislang weitgehend aus. Für einen Anstieg öffentlichen Aufruhrs gibt es nur wenige Anzeichen. Der Kampf um Anerkennung scheint sich eher in das Innere der Subjekte verlagert zu haben, sei es in Form von gestiegenen Versagensängsten, sei es in Formen von kalter, ohnmächtiger Wut. Was also ist inmitten all dieses beklemmenden, nur an der publizistischen Oberfläche gelegentlich unterbrochenen Schweigens aus den Konflikten um soziale Selbstachtung geworden, welche Formen hat der Kampf um Anerkennung inzwischen angenommen?

Ausdrucksformen des sozialen Konflikts

Das Streben nach Selbstachtung durch die Gesellschaft stirbt ja nicht einfach ab, sobald einmal keine normativ regulierten Sphären für seine verlässliche Befriedigung vorhanden sind, aber es kann sich an kein legitimierendes Prinzip anlehnen, wird also eigentümlich ortlos und begibt sich auf die Suche nach alternativen Formen der Entäußerung. Wir können diese gesellschaftliche Lage als eine soziale Pathologie bezeichnen: Für diejenigen, die vom Zugang zu den etablierten Anerkennungssphären abgeschnitten sind, bedeutet eine derartige Situation, über keine Wege mehr zu verfügen, um Selbstachtung aus der Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu schöpfen. Ein Teil des Kampfes um Anerkennung, nämlich derjenige, der von unten, von den Mitgliedern der sogenannten "Unterklasse", geführt wird, findet daher heute in der verwilderten Form eines bloßen Erkämpfens von öffentlicher Sichtbarkeit oder kompensatorischem Respekt statt: Weil man in die gesellschaftlich sanktionierten Arenen des Achtungserwerbs nicht mehr einbezogen ist, gilt es, vor deren Pforten mit nicht-normierten Mitteln soziale Anerkennung zu erstreiten. Jeder sozialen Rechtfertigbarkeit verlustig gegangen, jeder geteilten Symbolisierung entkleidet, nehmen solche Formen des Kampfes um Anerkennung häufig die bizarrsten Gestalten an. Sie finden sich in den heute massenhaft unternommenen Versuchen, die eigene Unsichtbarkeit in Augenblicken einer obszönen Präsenz in den Medien abzustreifen, verkörpern sich in Gegenkulturen des Respekts, in denen gesellschaftlich abgekoppelte Anerkennungsregeln herrschen, und sind selbst dort noch zu vermuten, wo Jugendliche in den Banlieus durch gewaltförmige Aktionen soziale Aufmerksamkeit erregen wollen.

Aber nicht nur in den Schichten der "Überflüssigen" und Ausgeschlossenen haben sich die Ausdrucksformen des sozialen Konflikts erheblich verändert. Auch in den beiden Großgruppen, die in die sozial etablierten Anerkennungssphären heute noch integriert sind, herrschen inzwischen gewisse Tendenzen einer Verwilderung des Kampfes um Anerkennung vor. Die "Gewinner" des neoliberalen Strukturwandels des Kapitalismus haben es in den letzten Jahrzehnten erfolgreich vermocht, die zentralen Standards der Sphären des Rechts und der Wirtschaft semantisch so umzudeuten, dass sie in ihrer normativen Lesart beinah ausschließlich auf die jeweils eigenen Erwerbschancen zugeschnitten sind. Das Prinzip der subjektiven Rechte hat auf diesem Weg seinen einbeziehenden Sinn verloren und ist weitgehend zu einem Instrument der Abwehr von statusbedrohenden Ansprüchen geworden. Über Rechte zu verfügen bedeutet immer weniger, sich einer wechselseitig eingeräumten Ermächtigung zur individuellen Freiheit zu erfreuen, sondern beinhaltet vor allem, die Begehrlichkeiten anderer mit legitimen Mitteln zurückweisen zu können.

Ähnlich ist es dem Leistungsprinzip ergangen: Einst von bürgerlichen Schichten als moralisches Bollwerk gegen das unverdiente, leistungslos erworbene Vermögen der Aristokratie aus der Taufe gehoben, ist dieses Anerkennungsprinzip mittels ideologischer Kampagnen so uminterpretiert worden, dass es nicht mehr Fähigkeiten und tatsächlichen Aufwand, sondern nur noch den monetären Berufserfolg und die faktische Einkommenshöhe zu honorieren scheint. Auch hier hat mithin der tragende Grundsatz inzwischen jede Bedeutung einer moralischen Regel verloren, ist nicht mehr gesellschaftlicher Garant eines prinzipiellen Anspruchs auf Anerkennung der eigenen Leistung, sondern Stützpunkt eines Abwehrkampfes gegenüber Forderungen von unten. Ein trauriges Zeugnis dieser Entwicklung legen auch die Kampagnen gegen die "Nutzlosen" und "Faulen" ab, mit denen in jüngster Zeit versucht wurde, jede gesellschaftliche Verantwortung für das massenhafte Scheitern in der Sphäre der Wirtschaft abzuweisen. Für diejenigen, die zwar über alle Bürgerrechte verfügen, deren Erwerbspositionen aber mittlerweile prekär geworden sind, bedeuten diese semantischen Entleerungen der institutionell verankerten Anerkennungsprinzipien, dass sie keine Chance mehr besitzen, Statusansprüche unter Rückgriff auf gemeinsam akzeptierte Normen geltend zu machen. Sie haben unter den Bedingungen einseitig verzerrter Anerkennungsnormen keine legitimen Mittel mehr an der Hand, diese in öffentlich einklagbare Ansprüche umzumünzen.

Welche Sektoren des gesellschaftlichen Lebens wir auch immer zur Kenntnis nehmen, überall beginnen sich Tendenzen einer Verwilderung des sozialen Konflikts breit zu machen. Die institutionalisierten Sphären der wechselseitigen Anerkennung scheinen an ihren Rändern wie zugemauert und in ihrem Inneren jedes allgemeinen, achtungssichernden Prinzips beraubt. Immer mehr Gesellschaftsmitglieder sind auf kompensatorische, nicht-öffentliche Wege des Erwerbs der Selbstachtung angewiesen. Verwildert ist heute der soziale Konflikt demnach, weil der Kampf um Anerkennung in den vergangenen Jahrzehnten seiner moralischen Grundlagen so stark verlustig gegangen ist, dass er sich in einen Schauplatz unkontrolliert wuchernder Selbstbehauptung verwandelt hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Talcott Parsons, Die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns, in: ders./Dietrich Rüschemeyer (Hrsg.), Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied-Berlin 1964, S. 136-159, hier: S. 146; vgl. auch: ders., Ansatz zu einer analytischen Theorie der sozialen Schichtung, in: ebd., S. 180-205, hier: S. 184f.

  2. Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 1994.

  3. ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt/M. 2003, S. 15, S. 22, S. 27.

  4. ders., Umverteilung als Anerkennung, in: ders./Nancy Fraser, Umverteilung oder Anerkennung?, Frankfurt/M. 2003, S. 204.

  5. Georg Wilhelm Friedrich Hegel [1830], Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Werke 10, Frankfurt/M. 1970, Zusatz zu §423, S. 221f.

  6. A. Honneth (Anm. 2), S. 184.

  7. Diese Formulierung verdanke ich Patrick Pilarek, Dimensionen der Anerkennung, Freiburg 2007, S. 43, online: www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7552 (21.12.2010).

  8. Sighard Neckel/Kai Dröge, Die Verdienste und ihr Preis: Leistung in der Marktgesellschaft, in: Axel Honneth (Hrsg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 93-116, hier: S. 94.

  9. Vgl. zur symbolischen Rolle des Geldes: Talcott Parsons, Ansatz zu einer analytischen Theorie der sozialen Schichtung, a.a.O., S. 200f.

  10. Vgl. T. Parsons (Anm. 1), S. 144.

  11. Vgl. Kurt Lüscher/Franz Schultheis/Michael Wehrspaun (Hrsg.), Die "postmoderne" Familie. Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit, Konstanz 1990; vgl. auch den Überblick, den ich zu geben versucht habe: Axel Honneth, Strukturwandel der Familie, in: ders., Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt/M. 1994, S. 90-99.

  12. Zu dieser Dreiteilung zwischen "Gewinnern", "Verlierern" und "Nicht-Teilnahmeberechtigten" vgl. den vorzüglichen Aufsatz von Claus Offe, Moderne "Barbarei": Der Naturzustand im Kleinformat?, in: Max Miller/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1996, S. 258-289.

Dr. phil., geb. 1949; Professor und geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS) an der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Senckenberganlage 26, 60325 Frankfurt/M. E-Mail Link: honneth@em.uni-frankfurt.de