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Corona-Proteste und das (Gegen-)Wissen sozialer Bewegungen

Johannes Pantenburg Sven Reichardt Benedikt Sepp

/ 14 Minuten zu lesen

Seit dem Sommer 2020 protestieren überall in der Republik selbsternannte "Querdenker" gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Minimalkonsens der sehr heterogenen Bewegung ist ein grundlegendes Misstrauen gegenüber medialen, wissenschaftlichen und politischen Eliten. Die Protestierenden unterfüttern ihre Kritik mit Gegenwissen und tauschen sowohl online als auch auf ihren Kundgebungen "alternative" Einschätzungen zum Coronavirus und zu den Gegenmaßnahmen aus.

Die Tatsache, dass ihnen der Aufbau einer parallelen Wissenswelt gelingt, macht diese Bewegung für uns – ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universität Konstanz, das sich mit Wissensformen und -praktiken von sozialen Bewegungen beschäftigt – interessant. Erfahrungswissen, intuitives und gefühltes Wissen sowie deren Funktionen und die Mechanismen ihrer Bewährung sind im Kontext dieser "Querdenken"-Proteste von besonderer Relevanz.

"Querdenken"-Proteste in Konstanz

Zum ersten Oktoberwochenende 2020 lud die "Querdenker"-Bewegung zu einer "Friedenskette" um den Bodensee sowie anschließender "Erntedank-Demo" nach Konstanz ein. Im Gegensatz zu den Demonstrationen in Berlin Ende August, auf denen auch Rechtsradikale zwischenzeitlich Reichskriegsflaggen vor dem Reichstagsgebäude schwenkten, waren diese Gruppen am Bodensee – auch aufgrund eines städtischen Verbots solcher Flaggen – nicht unmittelbar identifizierbar. Die Veranstaltung am Seeufer hatte vielmehr einen zu Pandemiezeiten seltenen Eventcharakter: Familien auf Picknickdecken, Merchandise- und Getränkestände, Kostüme und Musik prägten das Bild. In den offiziellen Ansprachen und den Gesprächen, die wir mit Demonstrierenden führten, standen nachvollziehbare und sachlich vorgetragene Kritikpunkte an der Pandemiepolitik der Bundesregierung oft unvermittelt neben kruden und falschen Behauptungen: Anklagen gegen die "Merkel-Diktatur", Verurteilung der Mund-Nasen-Masken als "Kinderschändung", unterschiedlichste Vergleiche mit dem Widerstand und der Verfolgung während der Zeit des Nationalsozialismus.

Insgesamt lassen sich einige zentrale Argumente benennen: Erstens relativieren viele die Gefährlichkeit der Corona-Pandemie, vergleichen sie mit der Grippe und sprechen von "Panikmache"; zweitens verweisen Teilnehmende auf die (Gesundheits-)Schädlichkeit der Gegenmaßnahmen, wie Sauerstoffmangel und vermeintliche Todesfälle durch Alltagsmasken; und drittens wird vor der Einschränkung von Grundrechten und dem Abrutschen in autoritäre Verhältnisse gewarnt. Basis dieser Behauptungen ist ein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber der Darstellung und Bewertung der Pandemie durch die etablierten Medien, die Bundesregierung sowie renommierte Wissenschaftler:innen wie dem Berliner Virologen Christian Drosten.

Die grundsätzliche Haltung der Interviewten gegenüber den Wissenschaften erweist sich als ambivalent. Einerseits werden Uneinigkeiten der medial bekannten Wissenschaftler:innen als Argument gegen deren Verlässlichkeit angeführt: "Es sagt ja auch jeder Virologe etwas anderes, das verunsichert einen", beklagen sich etwa zwei Frauen mittleren Alters. Von der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion, die sich mit einem noch unterforschten Virus aus verschiedenen disziplinären Perspektiven beschäftigen muss, fordern die Protestierenden unterschwellig die Produktion eindeutiger Ergebnisse. Da dies nicht der Fall ist, nutzen sie die in wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen üblichen Unsicherheiten aus, um den gesamten von anerkannten Expert:innen getragenen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als ungültig zu erklären und ihm die Reputation einer rationalen Autorität zu nehmen. Sie verkennen dabei, wie wichtig trial and error und Kontroversen für wissenschaftliche Erkenntnisse sind: Frühere Einschätzungen zu korrigieren, beispielsweise hinsichtlich der Wirksamkeit von Alltagsmasken, gilt ihnen als Ausdruck mangelnder Kompetenz. Andererseits wird die vermeintliche Einseitigkeit des wissenschaftlichen Diskurses beklagt, die alternative Sichtweisen ausblende. Nicht zuletzt wird die Abhängigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse von wirtschaftlichen und politischen Interessen unterstellt.

Dabei scheinen die meisten Teilnehmenden nicht prinzipiell wissenschaftsfeindlich. Sie eignen sich vielmehr selbst wissenschaftliche Autorität für ihre Argumentationen an, wenn sie auf eine kritische Prüfung der Zahlen des Robert Kochs-Instituts (RKI), auf Studien oder eigene Recherchen im Internet verweisen und die wissenschaftlichen Titel ihrer Gegenexpert:innen akzentuieren, wie etwa bei Sucharit Bhakdi – der emeritierte Professor für Mikrobiologie ist für die Bewegung zu einer Art Galionsfigur geworden. Expertentum ist dabei ebenso wichtig wie die Tatsache, dass es sich um "Überläufer", also ehemalige Insider aus der "Mainstream"-Wissenschaft handelt. Das gilt auch für die durchweg abgelehnten Medien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Renegatentum wird als eine besondere Qualität gefeiert, sei es bei der ehemaligen Nachrichtensprecherin Eva Herman oder dem ehemaligen RBB-Moderator Ken Jebsen. Letzteren schätzt ein 50-jähriger Unternehmer, "weil der sehr gut die Historie recherchiert, find ich super, der Mann ist sehr leidenschaftlich und gibt alles meiner Meinung nach, um die Wahrheit ans Licht zu bringen (…) und das sind ja auch Profis, die aus der Branche kommen und auch geächtet wurden."

Nichts bestätigt sich so durchgängig und vollumfänglich, wie diese resolut kritische Haltung gegenüber den etablierten Medien. Immer wieder begegnen uns Menschen, die dem über den Messenger-Dienst Telegram oder Youtube geteilten Wissen mehr vertrauten als den öffentlich-rechtlichen Kanälen oder der Bundesregierung. Den Vorwurf einer weitgehenden Fehlinformation formulieren zwei um die 40 Jahre alte Bankkauffrauen: "Hier werden Dinge verschwiegen, die Politik, es wird einseitig nur berichtet, es ist so viel zensiert worden." Das Eintauchen in die Welt der "alternativen" Medien beschreibt uns eine Frau als eine Art umfassendes Erweckungserlebnis: "Ja, im Prinzip hat sich mein ganzes Gedankengut verändert (…) weil das hier, was hier passiert, im Mainstream und was uns Politik vormacht, ist für mich nicht schlüssig, nicht rational, nicht nachvollziehbar, vor allem, die liefern uns ja gar keine richtigen Daten, die informieren uns nicht wirklich intensiv, gar nix (…) irgendwie habe ich gedacht, oh mein Gott, wie konnte ich nur so lange so blind sein."

Die Beschaffung, Produktion und Verteilung des Gegenwissens ist dabei ein höchst partizipatives Unterfangen, bei dem die Beteiligten große Eigeninitiative zeigen. Das vorgebrachte "kritische Denken" ist dabei strikt auf die bestehenden Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gerichtet – die eigene Position oder die der präferierten Gegenexpert:innen werden selten oder gar nicht überprüft. Stattdessen werden Positionen, die den eigenen Standpunkten zuwiderlaufen, abgekapselt: "Querdenker" argumentieren auf einer grundlegend anderen Wissensbasis und Einordnung von Fakten.

Bemerkenswert ist das Selbstbewusstsein, mit dem dieses Gegenwissen, das tatsächlich "quer" zu vorherrschenden wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Positionen steht, von zahlreichen Demonstrationsteilnehmer:innen vertreten wird. Die Protestierenden ermächtigen sich selbst dazu, einen fortlaufenden und komplexen epidemiologischen und virologischen Forschungsdiskurs einschätzen und als falsch widerlegen zu können. Dabei sind "Hausverstand" und persönliches Erfahrungswissen gängige Argumentationsgrundlagen, nach denen beispielsweise das Immunsystem, ein gesunder Lebensstil und eine entsprechende Ernährung ausreichenden Schutz gegen das Virus böten. Ein 33-jähriger Vater, der als Rigger durch den Zusammenbruch der Veranstaltungsbranche arbeitslos wurde, meint: "Also ich bin aufgewachsen bei anthroposophischen Eltern, ich wurde nie geimpft, ich habe ständig Verletzungen an den Händen und überall gehabt, habe immer im Dreck gespielt, hab nie irgendwas bekommen, bin, wie gesagt, gegen nix geimpft, und ich sehe das nicht ein, dass mein Sohn ’ne Impfpflicht gegen Corona kriegen soll, weil ich die ganzen Impfungen so ablehne."

Als Erkenntnisform sowie Ausgangspunkt für die Suche nach alternativen Erklärungen und als Kriterium für deren Auswahl führen viele "Querdenker" ihr "Bauchgefühl" an, das etwa ein 50-jähriger Unternehmer dezidiert dem akademisch-abstraktem Wissen entgegenhält: "Ich habe (…) nie studiert, weil ich jemand bin, der eine sehr gute Intuition hat. Eigentlich immer, wie es sich in der Vergangenheit bewiesen hat, hat mein Bauchgefühl immer zu einhundert Prozent recht gehabt. Das liegt aber daran, dass ich irgendwie ein Bewusstsein dafür habe, um das beurteilen zu können, und das ist einfach so." Auch eine 35-jährige Naturheilpädagogin betont die Intuition, mit der sie Informationen als stichhaltig einstuft: "Ich [habe] sehr intuitiv meiner inneren Stimme sozusagen zugehört, welches Video sich stimmig für mich anfühlt und welches nicht, und dann habe ich auch nur die angeschaut, die sich für mich, für meine Wahrheit, also die sich wahrheitsgetreu für mich angefühlt haben." Solche "emotionalen Beweisführungen" schließen über das Gefühl auf Fakten: Was sich nicht richtig anfühlt, kann nicht richtig sein.

(Gegen-)Wissen und soziale Bewegungen

Die Mobilisierung von Gegenwissen ist kein neues Phänomen, sondern vielmehr ein wesentliches Charakteristikum sozialer Bewegungen. Diese müssen gesellschaftliche Missstände zunächst einmal identifizieren und ein entsprechendes Problembewusstsein verbreiten, um gegen die wahrgenommene Malaise zu mobilisieren. Seit jeher fungieren soziale Bewegungen deshalb nicht nur als Indikatoren sozialer und politischer Missstände, sondern sie produzieren, verbreiten und popularisieren auch Wissen in unterschiedlicher Form: von Wissen über den Status quo über erstrebenswerte Alternativen bis hin zu konkretem Know-how der politischen Organisation, zu Mobilisation und Protestpraktiken. Wie unterschiedlich die Wissensbestände und auch das Verhältnis zu den Wissenschaften dabei sein können, zeigt ein Blick auf die Fridays-for-Future-Bewegung, die sich als explizit wissenschaftsaffin versteht. Sie ist bestrebt, die Erkenntnisse der Klimaforschung zu verbreiten und politisch stärker zur Geltung zu bringen. Im Gegensatz zu den "Querdenken"-Protesten besteht in diesem Anliegen ein Konsens mit der überwiegenden Mehrheit der Wissenschaften, deren Vertreter:innen als Scientists for Future selbst aktiver Teil der Proteste sind.

Wissenspolitik war schon ein zentraler Bestandteil der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen: Die Studentenbewegung der 1960er Jahre etwa erhielt ihre politische Sprengkraft nicht zuletzt aus dem wissenschaftlichen Selbstbewusstsein, mit denen die Akteur:innen ihre Standpunkte vortrugen und eine Gegenöffentlichkeit aufbauten. In ihrem Selbstverständnis setzten sie die nüchternen Erkenntnisse kritischer Soziologie und des wissenschaftlichen Marxismus den "irrationalen" Autoritäten in Politik und Wirtschaft entgegen. Aus einer von der Anti-AKW-Bewegung gegründeten "Volkshochschule" im Wyhler Wald entstand im November 1977 letztlich das Freiburger Öko-Institut, das professionelle Expertise aufbaute, Sachverständige vermittelte und eigene Forschungsprojekte vorantrieb. Alternative Energieforschung, Kritik an der Atomindustrie und unser Wissen über die Umweltschäden der industriellen Welt sind ohne solche Gegeninstitute gar nicht denkbar. Auch die Kritik der Frauenbewegung an der herkömmlichen Medizin und Gynäkologie wurde in Frauenläden und auf Frauenuniversitäten erarbeitet und vertieft. Ihre Kritik an patriarchalen Sichtweisen zeigte nicht nur die Standortgebundenheit der Medizin und ihrer bildgebenden Verfahren auf, sondern auch alternative Formen der Selbsterfahrung. Die subkulturellen Impulse aus dem Alternativmilieu waren essenziell für ein Wissen, das sich als basisdemokratisch erarbeitet und von Wirtschaftsinteressen befreit verstand.

Das von sozialen Bewegungen vertretene Wissen ist in der Regel gegen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs präsente Wissensbestände sowie die daraus folgende Politik gerichtet und hat die Funktion, diese zu delegitimieren, verändern oder gar abzulösen. Dabei betreiben soziale Bewegungen "knowledge empowerment", also einerseits eine Ermächtigung der Protestakteur:innen durch Wissen, andererseits eine Ermächtigung von Wissensinhalten, die im politischen Diskurs bislang unberücksichtigt oder stigmatisiert sind. Eine zentrale Rolle spielen dabei unterschiedliche Expert:innen, die entsprechendes Wissen für die Bewegung produzieren, identifizieren und bereitstellen sowie als legitimierende Referenzen fungieren. Die Figur des Gegenexperten ist dabei kein ausschließliches Phänomen der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre. So hatte sich beispielsweise die heute wenig bekannte Schweizer Chemikerin Gertrud Woker in den 1920er und 1930er Jahren innerhalb der Friedensbewegung zur führenden Vordenkerin und Stichwortgeberin für den Kampf gegen Giftgaswaffen und deren gängige Darstellung als "humane" Waffe entwickelt.

Beim Gegenwissen handelt es sich jedoch nicht nur um alternative Wissensinhalte, sondern auch um disparate Wissens- und Erkenntnisformen, wenn etwa dem als nüchtern und distanziert empfundenem Expertenwissen angeblich "ganzheitliche", etwa emotionale Beweisführungen und eine Argumentation aus subjektiver Betroffenheit entgegengehalten wird – so etwa in der Friedensbewegung der 1980er Jahre, die sich mit öffentlichen Angstbekenntnissen gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik und Westeuropa richtete. Solch emotionalisierte Wissensformen finden sich auch in der Frauenbewegung, in der Spiritualismus oder erfahrungsbezogenes Körperwissen stets auch auf die eigenen Gefühlslagen rekurrierte. Ebenso ist die Angst vor der ökologischen Apokalypse fester Bestandteil der Umweltbewegungen seit den 1970er Jahren.

Funktionen des Gegenwissens in der "Querdenken"-Bewegung

Die "Querdenker", die auf ihr Bauchgefühl und Erfahrungswissen verweisen, treiben den ohnehin hohen Stellenwert von Emotionalität in sozialen Bewegungen nochmals deutlich weiter. Ihre emotionale Beweisführung und gefühlten Fakten stehen einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit gegenüber, die die Maßnahmen gegen die Pandemie stützt und kein Verständnis für die Proteste aufbringt. Dass ihr Engagement durchaus mit persönlichen Beeinträchtigungen verbunden ist, spiegelt sich in vielen Aussagen der von uns Befragten wider, die von Spaltungen und eskalierenden Meinungsverschiedenheiten und Lagerbildungen im Freundes- und Bekanntenkreis berichten. Eine Frau mittleren Alters beklagt, "man wird abgestempelt als Verschwörungstheoretikern", und ergänzt, "also auf der Arbeit kann ich nicht groß kommunizieren". Das Gegenwissen hat also durchaus einen sozialen Preis. Worin liegt trotz allem dessen Attraktivität?

Zunächst liegt die Anziehungskraft solcher Erzählungen darin, dass sie die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung obsolet erscheinen lassen. In dieser Argumentation ist keine Einschränkung des eigenen Lebensstils notwendig, ein Ende der Maßnahmen kann, ja muss direkt erfolgen und hängt nicht von der Verbreitung eines Impfstoffes und dem Abklang der Pandemie in ungewisser Zukunft ab. Diese Utopie manifestiert sich schon im Eventcharakter der Protestveranstaltungen. Der demonstrative Austausch von Umarmungen und die Ablehnung von Abstandsgeboten und Mund-Nasen-Bedeckungen tragen einen präfigurativen Charakter: Sie verwirklichen bereits im Kleinen und im Hier und Jetzt, was der Protest im Großen zukünftig erreichen möchte – die Rückkehr zu einem Leben ohne die pandemiebedingten Einschränkungen, zur "alte[n] Normalität". Die starke Eigeninitiative bei der alternativen Wissensbeschaffung, -produktion und -verbreitung sowie das Engagement bei entsprechenden Protestveranstaltungen kann also auch als Gegenstrategie zu dem in der Ausnahmesituation der Pandemie erfahrenen Kontrollverlust gesehen werden.

Weitere Aspekte werden mit einem Seitenblick auf Erkenntnisse über die Funktion von Verschwörungsmythen plausibel. Zwar flechten nur wenige Demonstrierende die Pandemiepolitik in elaborierte "Theorien" ein (Stichwort QAnon oder Reichsbürgertum), typische Elemente konspirationistischer Argumentationen finden sich aber auch bei den "Querdenkern" – der Kampf gegen eine verfälschte "offizielle Version", ein Dualismus von "denen da oben" und "uns", das Absetzen von einer gezielt fehlinformierten Mehrheit sowie radikal vereinfachende Deutungsmuster des "gesunden Menschenverstandes". Die in diesen Deutungsmustern aufscheinende Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die Existenz und Wirkmacht ungesteuerter, kontingenter Prozesse zu akzeptieren, schafft dabei Pfadabhängigkeiten, die zu extremeren verschwörungstheoretischen Überzeugungen führen: Irgendjemand muss ja von den Pandemietoten, dem Einbruch der Wirtschaft und der Maskenpflicht profitieren, und wenn man die Verantwortlichen nicht direkt identifizieren kann, dann muss man eben noch kritischer und "querer" denken.

Dass diese Wissensselbstermächtigung als "kritischer Querdenker" zunächst vor allem eine Aufwertung der eigenen Person und Gruppe bedeutet, ist evident: Die Rolle des informierten, aufgeklärten oder aufgewachten Selbst, das den offiziellen Darstellungen der Pandemie und den Regierungsmaßnahmen nicht mehr vertraut, versichert Exzeptionalität, Avantgardebewusstsein und Überlegenheit gegenüber einer fehlinformierten Mehrheit. Gerade in den komplexen Krisen einer globalisierten Welt – von der Finanz- und Klimakrise bis zur Pandemie – ist die einfache Suche nach Schuldigen, die der Unvorhersehbarkeit und Bedrohlichkeit ein Gesicht geben und zugleich pauschalisierte und kompromisslose Ablehnung ermöglichen, und die Rückbesinnung auf die eigene Intuition eine wirksame Form der Emotionspolitik.

Hintergründe des aktuellen "Querdenkens"

Tritt man einen Schritt zurück von Erklärungen, die auf die individuelle Funktion des Gegenwissens abzielen, werden auch größere Entwicklungslinien sichtbar. Mit ihrem Fokus auf die Maßstäbe des "gesunden Menschenverstandes" und ihrer antielitären Stoßrichtung lassen sich die "Querdenker" mit populistischen Bewegungen vergleichen, die die liberale Demokratie, die Parteien und die Verfahrensförmigkeit demokratischer und repräsentativer Institutionen kritisieren. Populist:innen und "Querdenker" haben dabei eine ähnliche erkenntnistheoretische Grundhaltung – sie gehen davon aus, dass Politik und Wissenschaft im Grunde auf einfachen, allgemeingültigen und intuitiv erspürbaren Wahrheiten beruhen. Die Kluft zwischen umfassender und komplexer, nicht zuletzt in statistischer Weise begriffener Realität einerseits und der individuell wahrgenommenen Situation andererseits wird nicht anerkannt; Intellektuelle und akademische Wissenschaftler:innen, die auf der Bedeutung dieser Kluft beharren, werden als Repräsentant:innen einer Welt abgelehnt, die mit dem richtigen und wahren Alltagswissen der "echten" Bevölkerung nichts mehr zu tun haben.

Der "Trumpismus" – das Wirken des US-Präsidenten Donald Trump in den vergangenen vier Jahren – hat dabei eine Realitätsverweigerung salonfähig gemacht, die bei den "Querdenkern" Widerhall findet. "Fake News" beziehungsweise "alternative Fakten" zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie gängigen Regeln der Überprüfbarkeit entzogen sind – wahr ist, was als wahr behauptet wird und in einer konkreten Situation eine soziale Funktion erfüllt. Auch bei den "Querdenkern" zeigt sich ein solcher Hang zur Postfaktizität: Wenn sie mit fundiertem Widerspruch konfrontiert werden, geht ihre Behauptung unwiderlegbarer Wahrheiten oft in einen überdrehten Relativismus über, nach dem jedes Wissen nur Meinung sei.

Befeuert werden diese Entwicklungen nicht zuletzt durch die medialen Bedingungen: Das Internet in seiner heutigen Form, Social-Media-Kanäle, Imageboards und andere Online-Foren sind partizipatorisch auf das Teilen, die Interaktion und Kommentierung von Wissensbeständen ausgelegt und bilden die strukturelle Grundlage der geschilderten Wissensselbstermächtigungen. Eine zunehmende Fragmentierung der Öffentlichkeit in den Kommunikationsräumen des Internets begünstigt die Entstehung von Wissensparallelwelten, denen professionelle Gatekeeper und kompetente Wissensmoderatoren wie die Redaktionen der "klassischen" Medien fehlen. Hier kann jedwede Information hierarchiefrei neben eine andere gestellt und jederzeit niedrigschwellig zugänglich gemacht werden. Während Youtube, Twitter und Facebook erste Strategien zum Umgang mit Falschmeldungen entwickeln und entsprechende Maßnahmen umsetzen, verzichtet das unter "Querdenkern" beliebte Telegram weitgehend auf solche Interventionen. In den Echokammern der sozialen Medien können Gleichgesinnte Konfrontationen mit der Mehrheitsgesellschaft auffangen, verarbeiten und als Kampf für die richtige Sache positiv umdeuten.

Ausblick

Spätestens seit Anfang November 2020 deuten sich die Gefahren und Tendenzen einer politischen Radikalisierung der Corona-Proteste an. Zunehmend ist auch ein gewaltbereites Vorgehen zu beobachten, wie ein Anschlag von Unbekannten auf das RKI oder die Ausschreitungen gegen Journalist:innen und Polizist:innen auf "Querdenken"-Demonstrationen in Leipzig, Frankfurt am Main oder Berlin zeigen. "Querdenker" bedrängen und instrumentalisieren Schüler:innen, die fehlende Abgrenzung gegenüber Rechtsradikalen wird immer deutlicher. Maßnahmenverschärfungen dürften in diesem angespannten Klima zu weiteren Eskalationen beitragen. Die moderateren "Querdenker", die vor allem aus "freiheitlichen" oder egozentrischen Motiven gegen ihre persönlichen Einschränkungen protestieren, könnten stärker in den Hintergrund geraten – oder sich radikalisieren. Auch die extremeren Teile der Bewegung, deren Systemkritik an Politik und Medien erbitterter ist, könnten sich noch weiter radikalisieren, ebenso könnte deren Gewaltbereitschaft steigen. Das in der Bewegung kursierende Gegenwissen, das sich aus einem fundamentalen Misstrauen gegen politische, wissenschaftliche und mediale Eliten sowie aus emotionalen Beweisführungen und konspirationistischen Unterstellungen speist, weist diesbezüglich keine inhärenten Stopp-Mechanismen auf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Neben unserer zeitgeschichtlichen Arbeitsgruppe beschäftigt sich eine Gruppe um den Politologen Sebastian Koos mit repräsentativen Umfragen zu den Protestteilnehmer:innen, die Gruppen um den Soziologen Boris Holzer und die Medienwissenschaftlerin Isabell Otto befassen sich mit der digitalen Kommunikation. Schließlich arbeitet eine Gruppe des Kultursoziologen Christian Meyer an einer visuellen Ethnographie der Konstanzer Corona-Proteste. Siehe Externer Link: http://www.geschichte.uni-konstanz.de/reichardt/aktuelles/ag-wissenspraktiken-und-soziale-bewegungen. In Planung ist u.a. Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der Querdenker. Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt/M. 2021.

  2. Grundlage unserer Erhebung – und Quelle sämtlicher Zitate in diesem Text – sind halbstandardisierte "problemzentrierte Interviews", die am 3. und 4. Oktober 2020 in Konstanz geführt wurden. Zur Methode siehe Uwe Flick, Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften, Reinbek 19994, S. 94–150; Andreas Witzel, Das problemzentrierte Interview, in: Gerd Jüttemann (Hrsg.), Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder, Weinheim 1985, S. 227–255.

  3. Bereits in den 1980er Jahren hatte Ulrich Beck vor diesen Formen eines "Irrationalitätsverdachts" gegenüber der Wissenschaft gewarnt: Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 274–280.

  4. Diesen Begriff führte der Psychiater Aaron T. Beck Ende der 1970er Jahre ein. Vgl. Sascha Lobo, Wie die Blitzradikalisierung der Corona-Leugner funktioniert, 28.10.2020, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-eb3231e1-d3b5-46b3-b01e-309f9fa92891.

  5. Vgl. Sebastian Haunss/Moritz Sommer (Hrsg.), Fridays for Future – Die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen einer weltweiten Protestbewegung, Bielefeld 2020.

  6. Vgl. Max Stadler et al., Gegen|Wissen, Zürich 2020; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 20142. Demnächst dazu auch Daniel Eggsteins Dissertation: Entstehung und Entwicklung ökologischer Forschungsinstitute in den 1970er und 1980er Jahren, Universität Konstanz.

  7. Steven Epstein, Impure Science. AIDS, Activism, and the Politics of Knowledge, Berkeley–Los Angeles–London 1996, S. 234.

  8. Dazu die derzeit entstehende Dissertation von Johannes Pantenburg, Bedrohungswissen. Formierung und Kommunikation von Kriegsbedrohungen und -ängsten in deutschen Friedensbewegungen des 20. Jahrhunderts, Universität Konstanz.

  9. Vgl. Isabella Reichert, Große Mehrheit verurteilt Proteste gegen Corona-Politik, 1.9.2020, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-2e920864-7f07-420f-b46c-6dbf55c05aac; Carsten Korfmacher, Corona-Maßnahmen – Kippt die Stimmung in Deutschland?, 9.9.2020, Externer Link: http://www.nordkurier.de/politik-und-wirtschaft/corona-massnahmen-kippt-die-stimmung-in-deutschland-0940640309.html.

  10. Die Ausführungen sind angelehnt an Michael Butter, "Nichts ist, wie es scheint". Über Verschwörungstheorien, Berlin 20204, S. 22–29, S. 53, S. 59–65, S. 103–139; Katharina Nocun/Pia Lamberty, Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln 2020, S. 29–32, S. 273.

  11. Vgl. Pierre Rosanvallon, Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte, Theorie, Kritik, Hamburg 2020, S. 89–156; Sven Reichardt, Gegenwart und Geschichte des Rechtspopulismus, in: Hedwig Richter/Stefanie Coché (Hrsg.), Legitimation staatlicher Herrschaft in Demokratien und Diktaturen. Festschrift für Ralph Jessen, Bonn 2021 (i.E.).

  12. Vgl. Romy Jaster/David Lanius, Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart 20193.

  13. Vgl. Simona Stano, The Internet and the Spread of Conspiracy Content, in: Michael Butter/Peter Knight (Hrsg.), Routledge Handbook of Conspiracy Theories, New York 2020, S. 483–496.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Johannes Pantenburg, Sven Reichardt, Benedikt Sepp für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Mitarbeiter und Doktorand an der Professur für Zeitgeschichte der Universität Konstanz. E-Mail Link: johannes.pantenburg@uni-konstanz.de

ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz. E-Mail Link: sven.reichardt@uni-konstanz.de

ist Doktorand an der Professur für Zeitgeschichte der Universität Konstanz. E-Mail Link: benedikt.sepp@uni-konstanz.de