Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wissenschaftliche Politikberatung in Krisenzeiten | Wissen | bpb.de

Wissen Editorial Was ist Wissen? Einige philosophische Überlegungen Geschichtetes und Geschichtliches. Alte und neue Ordnungen des Wissens Von Enzyklopädien zu Wikipedia und zurück? Corona-Proteste und das (Gegen-)Wissen sozialer Bewegungen Wissenschaftliche Politikberatung in Krisenzeiten Migrationswissen. Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland aus zeithistorischer Sicht

Wissenschaftliche Politikberatung in Krisenzeiten

Peter Weingart

/ 13 Minuten zu lesen

Die Covid-19-Pandemie hat die Funktionsweisen wissenschaftlicher Politikberatung ins Licht medialer Aufmerksamkeit gerückt. Zwar ist nicht zu erwarten, dass grundsätzlich neue Erkenntnisse zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik zutage gefördert werden, aber ein paar Aspekte der durch das Virus geschaffenen Krisensituation unterscheiden diese ausreichend von vorherigen, um das neuerlich geweckte Interesse zu begründen.

Zuallererst ist die durch das Virus gegebene unmittelbare Gefahr für das Leben vieler Menschen zu nennen, die durch die täglichen Berichte in den Medien im allgemeinen Bewusstsein gehalten wird. Die Unmittelbarkeit der Gefahr wird durch den Umstand gesteigert, dass sie nicht greifbar ist. Die Unsichtbarkeit des Virus verhindert eine eigenständige Abwehr jedes Einzelnen und macht alle Gesellschaftsmitglieder vom Rat der wenigen Expertinnen und Experten abhängig, die sich mit Virusinfektionen auskennen. In dieser – hier extremen – Abhängigkeit von dem Wissen der Wissenschaft steht auch die Politik, die Maßnahmen ergreifen muss, um kollektives Handeln so zu koordinieren und zu steuern, dass die Ausbreitung des Virus verhindert und weitere gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Folgeschäden vermieden werden.

Damit fokussiert das öffentliche Interesse, vor allem (aber nicht nur) gesteuert durch die Medien, einzelne Wissenschaftler. Sie werden, zumindest zeitlich begrenzt, zu Repräsentanten der Wissenschaft schlechthin. Das mit der Abhängigkeit einhergehende notwendige Vertrauen in sie, ebenso wie die nahezu ausschließliche mediale Aufmerksamkeit, macht sie zugleich jedoch angreifbar und verletzlich. Das gilt umso mehr, als das für die wirksame Bekämpfung des Virus erforderliche Wissen zunächst nur eingeschränkt vorhanden ist und die Experten noch neues Wissen generieren müssen. Dieses Wissensdefizit hat zu Beginn der Pandemie Maßnahmen begründet, deren Radikalität sich im Nachhinein wenigstens teilweise als zu undifferenziert erwiesen hat. Die zunächst tiefgreifenden Einschränkungen grundgesetzlich garantierter Freiheitsrechte haben der Politik erhebliche Legitimationsrisiken aufgebürdet. Erst im weiteren Verlauf und unter dem Druck ökonomischer Folgeschäden konnten die Maßnahmen auf der Grundlage neuen Wissens verfeinert werden. Im Verlauf dieses "Lernprozesses", den sowohl die Wissenschaft als auch die Politik durchlaufen haben, hat eine Politisierung der wissenschaftlichen Diagnosen eingesetzt.

Bezeichnenderweise ist die Covid-19-Pandemie im Hinblick auf die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik wiederholt mit dem Klimawandel verglichen worden. Der Vergleich ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zunächst wichtige Unterschiede: Der Klimawandel ist potenziell weitaus gefährlicher als die Pandemie, aber die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist – zumindest in großen Teilen Mitteleuropas – nicht unmittelbar, sondern liegt in einer unbestimmten Zukunft. Die Politik steht bezüglich ihrer Entscheidungen zur Bewältigung des Klimawandels auch nicht unter demselben Zeitdruck – nicht zuletzt, weil die Komplexität der gefragten Entscheidungen und deren gesellschaftliche, politische und ökonomische Folgen längere Zeiträume betreffen. Schließlich ist die Abhängigkeit der Politik von der Wissenschaft nicht in derselben Weise eng geführt wie im Fall der Pandemie.

Allerdings, und hier beginnen die Ähnlichkeiten, ist eine Abhängigkeit durchaus gegeben: Die Diagnosen der Klimaforschung sind alarmierend genug, um politisches Handeln nahezulegen und im Detail zu begründen. Die geforderten Entscheidungen hätten zum Teil tiefe Eingriffe zur Folge, sowohl in die wirtschaftliche Freiheit als auch in die individuelle Lebensführung. Klimaexperten genießen anlassbezogen große mediale Aufmerksamkeit, beispielsweise durch Klimakonferenzen, Extremwetterlagen, wissenschaftliche Studien und neuerdings auch durch soziale Bewegungen wie Fridays for Future. Seit einiger Zeit werden die von ihnen beschriebenen Gefahren konkreter und anschaulicher, etwa in bildlich belegten Berichten über den Rückgang des Polareises.

Mit dieser kurzen Skizze verschiedener Aspekte der Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik im Kontext aktueller Krisen ist der Rahmen geschaffen, in dem die unterschiedlichen Ausprägungen dieser Beziehung beschrieben und analysiert werden sollen. Diese Fragen sind zu verfolgen: Welche Regeln beziehungsweise Prinzipien gelten allgemein für wissenschaftliche Politikberatung? Wer berät die Politik mit welchem Wissen? Wer findet Gehör und warum? Welchen Einfluss hat die öffentliche Kommunikation?

Regeln und Prinzipien

Für diesen Kontext genügt es, nur kurz auf die grundlegende Differenz zwischen Wissenschaft und Politik und die sich daraus ergebenden Regeln für die Politikberatung einzugehen. Ausgangspunkt ist die idealtypische Bestimmung der unterschiedlichen Systemrationalitäten von Wissenschaft und Politik. In der Wissenschaft geht es um die Produktion möglichst gesicherten, das heißt von einer Vielzahl von Forscherinnen und Forschern geprüften Wissens. Die Leitfrage aller wissenschaftlichen Betätigung ist: Was ist wahr? In der Politik geht es dagegen darum, Unterstützung für Entscheidungen zu gewinnen. Dazu ist es erforderlich, unterschiedliche Interessen und Werthaltungen der Wählerinnen und Wähler zu berücksichtigen, es müssen also Kompromisse gesucht werden. In der Mehrzahl der Entscheidungen gibt es jedoch wenigstens Teilfragen, die nur durch den Rückgriff auf Wissen beantwortet werden können.

Daraus ergibt sich der für moderne Demokratien geltende Sachverhalt, dass sie auf einer doppelten Legitimation beruhen: der Legitimation durch Wahlen, also durch die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung, sowie der Legitimation durch gesichertes Wissen. Für die Politik folgt daraus eine potenziell dilemmatische Konstellation, nämlich immer dann, wenn im Hinblick auf anstehende Entscheidungen wissenschaftlich basierter Expertenrat im Widerspruch zu politischen Interessen und ideologischen Überzeugungen steht. Fortgesetzte Missachtung wissenschaftlicher Evidenz kann ebenso zum Verlust von Legitimität führen wie eine verlorene Wahl. Daraus folgt darüber hinaus, dass wissenschaftliches Wissen politische Entscheidungen ebenso legitimieren wie delegitimieren kann. Dieser Zusammenhang begründet die stets präsente Möglichkeit, dass wissenschaftliches Wissen politisiert wird.

Damit sind die Bedingungen genannt, aus denen sich die vier Prinzipien ableiten, die das idealtypische Gerüst bilden, an dem sich Organisation und Praxis der Politikberatung orientieren sollten: Distanz, Pluralität, Transparenz und Öffentlichkeit. Distanz sichert die Unabhängigkeit der Wissenschaft von Politik und verhindert eine Vermischung von Interessen und wissenschaftlichen Urteilen. Pluralität gebietet die sachgerechte Einbeziehung von Disziplinen sowie Beraterinnen und Beratern. Transparenz der Beratungs- und Entscheidungsprozesse sichert das Vertrauen in sie. Und Öffentlichkeit bedeutet den Zugang zu relevanten Informationen und ist die Voraussetzung des Vertrauens.

Unvermeidliche Auswahl

Der überwiegende Teil der wissenschaftlichen Politikberatung findet routinemäßig in fest institutionalisierten Gremien statt, in Beiräten der Ministerien, in Sachverständigenräten oder Kommissionen der regulativen Verwaltung sowie durch die wissenschaftlichen Dienste der Parlamente. Zuweilen geht es um die Legitimierung umstrittener Entscheidungen wie etwa im Fall der "Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung", die 2011 nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie vorbereiten sollte. Zudem werden sogenannte Ad-hoc-Kommissionen eingesetzt, deren Lebensdauer eng begrenzt ist. Für all diese Gremien hat die Politik in den jeweiligen Mandaten Verfahrens- und Berufungsregeln, Zuständigkeitsbereiche sowie vor allem die beabsichtigten Verwendungsformen der Beratungsergebnisse fixiert.

Diese formalen Beratungsformate werden durch viele mehr oder weniger informelle Beratungen ergänzt, wenn Regierungsmitglieder oder Abgeordnete sich je nach Situation geplant oder spontan an Experten wenden, um sich zu informieren und spezifische Fragen mit ihnen zu diskutieren. Zur Auswahl stehen zahlreiche Thinktanks, private und parteiengebundene Forschungsinstitute, unabhängig agierende Politikberater sowie verschiedenste Wissenschaftsorganisationen und Akademien, die alle zu unterschiedlichen Anlässen mit ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Kompetenz (oder auch ohne eine solche) die Politik adressieren und um deren Aufmerksamkeit konkurrieren. Weil das Spektrum verfügbarer Informationen umfassender denn je ist, können Politikerinnen und Politiker nur einen Bruchteil davon wahrnehmen. Die unausweichliche Selektion, die jeweils stattfindet, wird durch eine Reihe von Faktoren gesteuert, von denen hier nur die wichtigsten zu nennen sind.

Erstens: die jeweils zur Diskussion stehende Fragestellung. Die Formulierung der Fragestellung entscheidet oft schon das Ergebnis der Beratung (mit), sie ist deshalb häufig politisch umstritten. Zuweilen werden etwa Fragen an potenzielle Berater aus Unkenntnis des Sachverhalts oder absichtlich eingeschränkt. Dadurch wird das zur Beantwortung relevante Wissen (und indirekt die Berater) ausgewählt, anderes Wissen ignoriert.

Zweitens: die jeweiligen Werthaltungen und Interessen sowie die politischen und ideologischen Überzeugungen. Die Rezeption wissenschaftlichen Wissens unterliegt dem, was in der Psychologie motivated reasoning genannt wird: Wissenschaftliche Informationen werden eher geglaubt, wenn sie die eigenen Überzeugungen bestätigen. So glauben etwa Anhänger (und Politiker) der Republikanischen Partei in den USA zu einem signifikant geringeren Prozentsatz an den anthropogenen Klimawandel als jene der Demokratischen Partei. Gleiches gilt für die Einschätzung der Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus.

Drittens: die strategische und legitimatorische Funktion des nachgefragten Wissens. In politischen Aushandlungsprozessen kann Wissen eingesetzt werden, um die eigene Position zu stärken beziehungsweise die gegnerische Position zu schwächen. Exemplarisch unter vielen einschlägigen Beispielen ist der strategische Einsatz von Wissen zur Verhinderung politischer Regulierungen durch die Tabakindustrie in den USA.

Viertens: die Wahl der Berater. Der strategische Umgang mit Wissen seitens der Politik wird in aller Regel über die Wahl der sie beratenden Personen umgesetzt. Die Beziehung zwischen politischen und wissenschaftlichen Positionen, die aus der Perspektive der Politik eine strategische Auswahl erst ermöglicht, ist nicht in allen Fällen gegeben, beruht manchmal auf Vermutungen. Dass wissenschaftliche Experten sich bestimmten politischen Positionen zuordnen lassen und entsprechend ihrer bekannten oder vermuteten Positionen ausgewählt werden, wird zum Beispiel in der Besetzung der Enquêtekommissionen des Deutschen Bundestages explizit anerkannt. Bei diesen Kommissionen handelt es sich um einen besonderen Typ wissenschaftlicher beziehungsweise sachverständiger Beratung des Parlaments und der darauf gründenden Vorbereitung von Entscheidungen. Bei der Auswahl der Sachverständigen durch die Parteien wird darauf geachtet, dass sie loyal gegenüber den Grundpositionen der jeweils vorschlagenden Partei sind und die Positionen der Fraktionen in der Kommissionsarbeit unterstützen.

Je unsicherer (unabgeschlossener) wissenschaftliches Wissen ist, desto leichter kann es von Politikern nach ihren jeweiligen Überzeugungen und Interessen strategisch interpretiert und argumentativ eingesetzt werden. In der Corona-Krise ist das besonders deutlich geworden, nicht zuletzt, weil die Beratung der Politik durch Gesundheitsexperten zu einem guten Teil öffentlich war. Es ging in diesem Fall um Einschätzungen geeigneter Strategien zur Bekämpfung des Virus. Die Mehrheit der Virologen und Epidemiologinnen setzte dabei auf die Unterbrechung der Infektionsketten. Eine Minderheit empfahl dagegen eine Strategie der sogenannten Herdenimmunität. Sie wird vor allem von Wissenschaftlern und Politikern vertreten, die in einer wirtschaftlichen Rezession aufgrund der Beschränkungen des öffentlichen Lebens eine größere Gefahr sehen als in der gesundheitlichen Bedrohung durch das Virus. Während in Deutschland die Mehrheitsposition tonangebend war (und ist), stützten sich Regierungen anderer Länder zu Beginn der Pandemie (zunächst) lieber auf die Empfehlungen von Verfechtern der Herdenimmunität – etwa in Schweden oder im Vereinigten Königreich, haben diesen Weg mittlerweile jedoch verlassen. Dennoch wurden auch in Deutschland unterschiedliche Positionen zwischen prominenten Virologen medienwirksam ausgeschlachtet, was zeigt, dass der innerwissenschaftliche Konflikt in der Politik (und in der Öffentlichkeit) erhebliches Politisierungspotenzial eröffnet.

Rolle öffentlicher Kommunikation

Der weitaus überwiegende Teil wissenschaftlicher Politikberatung vollzieht sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es lässt sich deshalb nur spekulieren, warum welche Berater Gehör finden (und warum andere nicht). Die Corona-Krise und vorangegangene Pandemien wie die Schweinepest 2009/10 oder die Vogelgrippe ab 2004 bilden insofern eine Ausnahme, als viele Ratschläge der betreffenden Experten öffentlich gemacht wurden. Allerdings ist offen, ob und gegebenenfalls welche weiteren Empfehlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit kommuniziert wurden und werden.

Seit die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 Deutschland erreicht hat, saß der Direktor des Instituts für Virologie der Berliner Charité, Christian Drosten, bei diversen Pressekonferenzen neben Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, was demonstrierte, dass er das Ohr des Ministers hatte. Zugleich verlieh diese Form der Präsentation seinen Ratschlägen politisches Gewicht. Ähnlich wurden in den USA der Immunologe Anthony Fauci und die Ärztin Deborah Birx bei den regelmäßigen Pressekonferenzen im Weißen Haus von US-Präsident Donald Trump vorgestellt, bevor er ihnen das Wort erteilte. Diese Form der wechselseitigen Legitimierung von Wissenschaft und Politik vor den Augen einer großen Öffentlichkeit findet sich in dieser zugespitzten Form eher selten und ist wohl besonders geeignet, öffentliche Akzeptanz für die zum Teil drastischen Maßnahmen zu erlangen. Allerdings zeigte sich in den USA auch die Kehrseite davon, nämlich dass wissenschaftliche Beratung, insbesondere wenn sie öffentlich stattfindet, politische Positionen ebenso delegitimieren kann – in diesem Fall mit fatalen Folgen für die Wissenschaft: Weil ihm die andauernden negativen Meldungen zur Entwicklung der Pandemie politisch nicht passten, stellte Trump die regelmäßigen Pressekonferenzen mit Fauci und Birx schließlich ein und beschimpfte Fauci in der Endphase des Präsidentschaftswahlkampfes 2020 gar als Idioten.

Dass das Arrangement zwischen Wissenschaft und Politik sensibel ist, zeigt sich in der Corona-Krise auch daran, dass die Einschränkungen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens angesichts hoher Infektionszahlen insbesondere in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit vielfach allein auf die bekannten Experten zurückgeführt werden – mit dem Effekt, dass auch der Unmut der Gegner der Maßnahmen auf diese abgelenkt wird. Für so manchen wissenschaftlichen Berater ging die gestiegene Prominenz mit Schmähungen und Angriffen von Verschwörungstheoretikern bis hin zu Todesdrohungen einher. Dies ist ein Beleg dafür, wie zweischneidig die Berufung auf wissenschaftlichen Rat sein kann. Einerseits kann sie vor allem dann geboten sein, wenn komplexe Entscheidungen von hoher Dringlichkeit anstehen – denn der Bezug auf die Wissenschaft trägt zur Legitimation der politischen Lagebeurteilungen und Entscheidungen bei. Andererseits kann derselbe Sachverhalt als eine Verschiebung der politischen Verantwortung auf den wissenschaftlichen Berater interpretiert werden – oder dies faktisch auch sein, um Kritik an unpopulären Entscheidungen zu vermeiden.

Auf die Frage schließlich, warum manche Wissenschaftler mehr Gehör finden als andere, gibt es folglich mehrere Antworten. Die genannten Beispiele verweisen auf zwei Faktoren. Erstens: Abhängig von der anstehenden Problemlage werden zunächst die Experten gehört, deren Kompetenz am relevantesten erscheint. Was als relevant gilt, kann sich jedoch ändern. Bestes Beispiel dafür ist die Verschiebung des Pandemieproblems von der virologischen und epidemiologischen Verbreitungs- und Ansteckungsgefahr hin zur Wahrnehmung der wirtschaftlichen Auswirkungen und damit vom Rat der Virologen zu dem der Ökonomen. Zweitens: Die mediale Sichtbarkeit des Beratungsprozesses und damit die, die den Beratern von Politik (und Medien) gewährt wird, entscheidet über die Bedeutung, die deren je individuelle Fähigkeit zur Kommunikation ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse erlangen kann.

Lehren aus der Pandemie?

In Deutschland hat insbesondere Christian Drosten während der Covid-19-Pandemie eine Sonderrolle eingenommen – nicht nur als Politikberater, sondern über einen Podcast des Norddeutschen Rundfunks auch als Wissenschaftserklärer für eine breitere Öffentlichkeit. Bereits im April 2020 erhielt er dafür von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft einen Sonderpreis "für herausragende Kommunikation der Wissenschaft in der Covid-19-Pandemie". Begründet wurde die Preisverleihung damit, dass er "den Menschen auf anschauliche, transparente und faktenbasierte Weise [erkläre], was die Wissenschaft weiß, wie sie arbeitet und welche Unsicherheiten bestehen. Drosten korrigiere aber auch wissenschaftlich nicht belegte Thesen, kommuniziere die Grenzen seines eigenen Wissens" und erreiche so "Vertrauen bei einer großen Zahl an Menschen und auch in der Politik". In einer Studie einer Kommunikationsagentur war bereits von einem "Drosten-Effekt" die Rede, der möglicherweise einen neuen Kommunikationsstil geschaffen habe: "Eine Kommunikation, die durch eine neue Offenheit, durch die Verbindung von Expertise und Empathie, von Dynamik und Fehlerkultur Vertrauen aufbauen und Verständnis schaffen kann für den Umgang mit komplexen Herausforderungen – z.B. auch im Klimawandel."

Tatsächlich könnte ein offener Umgang mit Unsicherheiten und ein entsprechender Kommunikationsstil auch für die öffentliche Vermittlung der Klimaforschung von Nutzen sein. Doch auch hier, und besonders vor dem Hintergrund des neuerlichen Hypes über die Wissenschaftskommunikation und die Hinwendung der Wissenschaft zur Öffentlichkeit, sollten Ambivalenzen nicht übersehen werden. Klimaforscher sehen die Gefahren der Erderwärmung auf der Basis jahrzehntelanger Forschung konkreter und somit dringlicher als die allgemeine Öffentlichkeit, für die die Bedrohung noch weitgehend abstrakt ist. Skepsis stellt sich jedoch leichter ein als Vertrauen und ist schwerer zu entkräften. Damit ist es für Klimaforscher auch ungleich schwerer als für Epidemiologen während einer akuten Pandemie, Politiker von unpopulären Maßnahmen zu überzeugen.

Zudem ist bei der Kommunikation von der Wissenschaft in die Öffentlichkeit noch ein weiterer Befund zu berücksichtigen: Forschungen zum anthropogenen Klimawandel sind interdisziplinär und behandeln ein hochkomplexes Thema, deshalb ist Uneinigkeit unter den Wissenschaftlern zumindest noch für längere Zeit wahrscheinlich. Die Situation in der Virologie und in der Epidemiologie ist vergleichsweise homogener – und Untersuchungen haben gezeigt, dass innerwissenschaftlicher Konsens die Glaubwürdigkeit der entsprechenden Erkenntnisse steigert. Somit bleibt es eine Daueraufgabe der wissenschaftlichen Politikberatung, ihren Adressaten in Politik und Öffentlichkeit nicht nur "fertiges Wissen" zu vermitteln, sondern stets auch die Funktionsweisen und Logiken des Wissenschaftsbetriebs nahezubringen, gegebenenfalls Widersprüche zu erläutern und die Grenzen der jeweiligen disziplinären Erkenntnis und des eigenen Wissens transparent zu machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Weingart, Wissensgesellschaft und wissenschaftliche Politikberatung, in: Svenja Falk et al. (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, Wiesbaden 2019, S. 67–78, hier S. 69f.

  2. Vgl. ders., Zur Aktualität von Leitlinien für "gute Praxis" wissenschaftlicher Politikberatung, in: Der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Leitlinien Politikberatung, Berlin 2008, S. 11–18, hier S. 14f.

  3. Für einen Überblick über unterschiedliche Beratungsarrangements vgl. Justus Lentsch/Peter Weingart (Hrsg.), Scientific Advice to Policy Making. International Comparison, Leverkusen 2009.

  4. Vgl. Stephan Lewandowsky/Klaus Oberauer, Motivated Rejection of Science, in: Current Directions in Psychological Science 4/2016, S. 217–222.

  5. Vgl. Joshua M. Blank/Daron Shaw, Does Partisanship Shape Attitudes toward Science and Public Policy? The Case for Ideology and Religion, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 1/2015, S. 18–35.

  6. Vgl. Chuck Todd et al., On Coronavirus Trust, Republicans Are Outliers, 4.8.2020, Externer Link: http://www.nbcnews.com/politics/n1235739.

  7. Vgl. Naomi Oreskes/Edward Conway, Merchants of Doubt: How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming, London 2010.

  8. Vgl. Peter Weingart/Justus Lentsch, Wissen – Beraten – Entscheiden. Form und Funktion wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland, Weilerswist 2008, S. 148.

  9. Siehe etwa die Diskussion um die "Great Barrington Declaration". Vgl. Christina Berndt, Coronavirus: Erklärung mit Hintergedanken, 14.10.2020, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.5068325.

  10. Dass dies im Zuge der ersten Phase der Corona-Krise zumindest in Deutschland gelang, belegen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gestiegene Umfragewerte zum Vertrauen in die Wissenschaft sowie zur Zustimmung zu wissenschaftsbasierter Politik. Vgl. Wissenschaft im Dialog, Wissenschaftsbarometer Corona Spezial, Mai 2020, Externer Link: http://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wissenschaftsbarometer/wissenschaftsbarometer-corona-spezial.

  11. Ein Beispiel hierfür bot etwa Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 2002, als er konstatierte, dass er die Vorschläge der Hartz-Kommission "eins zu eins" umsetzen werde – was letztlich unzulässig war, weil er damit die politische Verantwortung an nicht legitimierte Berater abzugeben plante. Ein solches Vorgehen verletzt auch das Prinzip der Distanz, wonach wissenschaftliche Beratung von politischer Entscheidung zu trennen ist.

  12. Communicator-Preis 2020 geht an Robert Arlinghaus – einmaliger Sonderpreis für Christian Drosten, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Pressemitteilung, 20.4.2020, Externer Link: http://www.dfg.de/service/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung_nr_11/index.html.

  13. Zit. nach Marc Bartl, Vom Drosten-Effekt und einer neuen Offenheit, 3.6.2020, Externer Link: https://kress.de/news/detail/beitrag/145222.

  14. Vgl. Stephan Lewandowsky/Gilles E. Gignac/Samuel Vaughan, The Pivotal Role of Perceived Scientific Consensus in Acceptance of Science, in: Nature Climate Change 3–4/2012, S. 399–404.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Peter Weingart für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. E-Mail Link: weingart@uni-bielefeld.de