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Lobbyismus Glossar Quiz: Was wissen Sie über Lobbyismus?

Zur Geschichte der (Unternehmens-)Verbände in Deutschland seit 1945

Prof. Dr. Werner Bührer

/ 4 Minuten zu lesen

Der Druck der Globalisierung und die zunehmende Pluralisierung von Interessen machen den Verbänden in Deutschland zu schaffen. Trotzdem hat das Verbandswesen hierzulande seit seiner Reorganisation nach Ende des Zweiten Weltkriegs erstaunliche Kontinuität gezeigt, meint Werner Bührer.

Politiker sind gerngesehene Gäste bei Veranstaltungen großer Verbände, wie hier der ehem. griechische Ministerpräsident Giorgos A. Papandreou (links) beim Bund Deutscher Industrieller (BDI). (CC) Lizenz: cc by-sa/2.0/de

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begannen einige Unternehmer/-innen zusammen mit früheren Verbandsfunktionären, das Verbandswesen zu reorganisieren. Teilweise ermuntert von den westlichen Besatzungsmächten, die ansonsten der deutschen Unternehmerschaft wegen deren Kooperation mit dem Naziregime kritisch gegenüberstanden. Dabei orientierten sie sich nicht an den gleichgeschalteten, staatlichen Strukturen während der NS-Zeit, sondern am bewährten deutschen Modell: Etwa gleichzeitig entstanden so die für lokale und regionale sowie teilweise öffentlich-rechtliche Belange zuständigen Industrie- und Handelskammern und die "freien", privatrechtlich und nach Branchen organisierten Wirtschaftsverbände, die sich um die wirtschaftspolitischen Interessen ihrer Mitglieder kümmerten. Etwas später wurden die Arbeitgeberverbände gegründet, die das sozial- und tarifpolitische Terrain für sich beanspruchten. Bereits vier Jahre nach dem Kriegsende war damit das traditionelle dreisäulige, horizontal nach Bundes- und Länderorganisationen und vertikal nach Industriezweigen und -sparten gegliederte Verbandssystem – auch unter Mithilfe einiger während des "Dritten Reiches" aktiver und deswegen politisch-moralisch belasteter Funktionäre – wieder hergestellt. Im planwirtschaftlichen System der DDR war für solche Unternehmerverbände dagegen kein Platz mehr. 


Das Ende der Harmonie

Die Entwicklung der Verbände war bis Mitte der 1960er Jahre durch das Bemühen gekennzeichnet, ihre Selbständigkeit gegenüber dem Staat zu betonen, um sich zum einen von planwirtschaftlichen Wirtschaftsmodellen abzugrenzen und zum anderen ihre Forderungen und Wünsche allein an den Interessen ihrer Mitglieder orientieren zu können. Manche Verbandsvorsitzende – allen voran der langjährige Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Fritz Berg – verfügten gleichwohl über privilegierte Beziehungen zur Regierung. Der von Berg und anderen praktizierte Lobbyismus nahm mitunter ziemlich "hemdsärmelige" Formen im Umgang mit "unbotmäßigen" Beamten, ja sogar Ministern, an. Ludwig Erhard beklagte sich beispielsweise einmal darüber, dass die Geschäftsführung des BDI mitunter den Anschein erwecke, als ob sie – und nicht er als Wirtschaftsminister – berufen sei, das Ministerium zu führen.

Mit der Bildung der ersten Großen Koalition Ende 1966 endete die Zeit der grundsätzlichen Harmonie mit der Bundesregierung in wirtschaftspolitischen Fragen. Aufgrund der Übereinstimmung in den Grundlinien der Marktwirtschaft, der Außenhandels- und Europapolitik hatte die Regierung bis dahin oft im Interesse der Wirtschaft gehandelt und deren Einflussnahme überflüssig gemacht. Der sozialdemokratische Koalitionspartner zwang die Unternehmerverbände nun dazu, ihr Verhältnis zur Regierung neu zu regeln. Dies geschah im Rahmen der "Konzertierten Aktion", die staatlichen Stellen, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften die Gelegenheit bieten sollte, ihre jeweiligen Ziele und Maßnahmen aufeinander abzustimmen. Vor allem die Wirtschaftsverbände zeigten sich jedoch bald unzufrieden mit dieser Form korporatistischer Interessenregulierung, auch wenn die "Konzertierte Aktion" erst 1977 formell beendet wurde. Spätere Versuche, dieses Muster der Zusammenarbeit wiederzubeleben, scheiterten, weil insbesondere der BDI auf der Notwendigkeit autonomer, vom Staat unabhängiger Verbände beharrte.

Vielfältigere Interessen und der Druck der Globalisierung

Ein weiteres Merkmal der Verbändegeschichte in der "alten" Bundesrepublik war der allmähliche, Mitte der 1950er Jahre einsetzende und Mitte der 1970er Jahre abgeschlossene Machtverlust der Schwerindustrie zugunsten des Maschinenbaus, der Chemie-, Elektro- und der Automobilindustrie. Damit einher ging eine Normalisierung des Verhältnisses zu den Gewerkschaften. Versuche einzelner Verbandspräsidenten wie Hans-Günther Sohl, die Stellung der Unternehmerschaft gegenüber Gewerkschaften und Staat durch eine Fusion etwa der Wirtschafts- und der Arbeitgeberverbände zu stärken, kamen aufgrund der Widerstände in den jeweiligen Verbandsbürokratien über Ansätze nicht hinaus.

Seit der Wiedervereinigung hat der Druck auf das deutsche Verbandsmodell infolge der rasanten Europäisierung und Globalisierung und des dadurch ausgelösten ökonomischen Strukturwandels deutlich zugenommen. Der bereits früher zu beobachtende Trend zur sektoralen Ausdifferenzierung und zur Pluralisierung von Interessen hat sich weiter verstärkt. Die Prägung des Verbandswesens durch bestimmte Branchen hat deshalb nachgelassen. "Klassische" Dienstleistungen der Verbände wie Sammlung, Auswahl und Artikulation von Interessen werden zumindest von einflussreichen Industriezweigen wie der Automobilindustrie oder dem Energiesektor nicht mehr so häufig nachgefragt. Exklusive Gespräche mit der Bundeskanzlerin oder dem Wirtschaftsminister sind für diese Branchen keine Seltenheit. Sie ersparen ihnen die mitunter komplizierte Abstimmung mit den Interessen anderer Branchen im Rahmen eines Dachverbands wie dem BDI. Auch wenn die Blockademacht und das Steuerungspotential der Verbände in jüngster Zeit insgesamt schwächer geworden sein mag – als überflüssig werden sie heute trotzdem keineswegs empfunden. Im Rückblick weist das unternehmerische Verbandswesen in Deutschland jedenfalls ein erstaunlich hohes Maß an Kontinuität auf. Das gilt sowohl für die herkömmliche Arbeitsteilung in Gestalt von Industrie- und Handelskammern, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, aber auch für ihre nach wie vor unverzichtbare Rolle als Sprecher gesamtwirtschaftlicher Interessen.

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Prof. Dr. Werner Bührer lehrt Politikwissenschaft an der Technischen Universität München.