Sound und Revolte
Konsumkultur und alternativer Alltag
Lange Haare, laute Musik und Drogen: Jugendliche schufen sich in den 68ern ihre eigene private Gegenkultur. Der wachsende wirtschaftliche Wohlstand machte es möglich. Wer etwas auf sich hielt, reiste ins Swinging London oder nach Kopenhagen.
Im Alltag der 68er sollte sich nicht nur ein alternatives Leben verwirklichen, er war auch Teil eines politischen Konzepts. Fritz Teufel, Mitglied der Kommune I, erklärte: "Man muss die Gesellschaft ändern, um sich selbst ändern zu können. Man muss sich selbst ändern, um die Gesellschaft ändern zu können."[1] In dieser Verschränkung konnte auch scheinbar Gegensätzliches zusammenfließen, wie sich im Leben vieler Akteure zeigte, die britische Popmusik und deutsche Liedermacher schätzten, radikale Ideen vertraten und Haschisch rauchten, politische Aktionen veranstalteten und im Sommer ans Mittelmeer trampten. Musik, Reisen und Drogenkonsum waren im Alltag verankerte Bindemittel der Gegenkultur, deren Anhänger sich durch einen spezifischen Habitus zu erkennen gaben. Entstehen konnte ein alternativer Alltag nur, weil sich die westdeutsche Gesellschaft seit den späten 1950er Jahren rasant wandelte. Wirtschaftlicher Wohlstand trieb die Erosion der traditionellen Sozialmilieus voran, und er gab Jugendlichen die Möglichkeit, ihre wachsenden Geldmittel in Schallplatten, Unterhaltungselektronik, Bekleidung, Kosmetik, Mode- und Musikzeitschriften zu investieren. Neue Lebensweisen konnten erprobt werden, weil sich Schul- und Universitätszeiten über einen wachsenden biografischen Zeitraum erstreckten. Der Besserstellungsschub wurde begleitet und kulturell überformt durch einen Wertewandel, der ungefähr 1964 einsetzte und zehn Jahre andauerte.[2] Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Teilhabe überlagerte traditionelle Normen wie Ordnung und Subordination; nicht mehr Aufsparen für ein erhofftes Glück im Erwachsenenalter bildete das Leitbild, sondern – von der Werbung nach Kräften forciert – Lebensgenuss hier und jetzt. Gegenkultur und alternatives Milieu waren ein Ergebnis dieses Wandlungsprozesses, der von den Akteuren selbst vorangetrieben und gestaltet wurde. Dabei waren Formen und Ausprägungen der Alltagskultur um 1968 umstritten. Sie stand in einem dreifachen Spannungsverhältnis – zwischen einem rationalen Aufklärungsdenken und einer emotional begründeten "neuen Sensibilität" (Herbert Marcuse), zwischen Kommerzialisierung durch die Kulturindustrie und den antikommerziellen Ansprüchen Jugendlicher, zwischen dem Ausgleich sozialer Unterschiede und der Entstehung neuer Distinktionsmechanismen.
Musik
Ein bedeutendes emotionales Bindemittel derjenigen Gruppen, die sich unter dem Sammelbegriff 'Gegenkultur' als Widerlager zu einer vermuteten Majorität verstanden, war Beat- und Rockmusik. Manche entdeckten schon in der nicht explizit politischen Beatmusik der frühen 1960er Jahre ein revolutionäres Potential. Sie konnte konsumiert werden, aber auch zur Bewusstseinsbildung beitragen. [3] In der musikalisch begründeten transnationalen Jugendkultur, die sich seit den späten 1950er Jahren in ganz Europa ausbreitete, wurde elektrisch verstärkte Populärmusik auch deshalb links kodiert, weil sie eine besonders demokratische Form der medialen Artikulation darstellte und Weltoffenheit, Eigenaktivität und Partizipation repräsentierte. Weil nicht vorrangig der Text, sondern der Sound ihre soziale Bindungs- und Mobilisierungsfunktion begründet, ist Beatmusik zeitgenössisch als 'sprachlose Opposition' bezeichnet worden. Sie war die am wenigsten artikulierte Form der Gesellschaftskritik, begleitete aber die aufkommenden politischen Proteste auf der symbolischen und habituellen Ebene.[4] Seit Mitte der 1960er Jahre wurde elektrisch verstärkte Musik darüber hinaus auch zu einem Medium politischer Botschaften. Frankfurter Provos betrachteten 1967 Beatmusik nicht nur als 'Kulturrevolution des Schaugeschäfts', sondern wünschten sich auch, die Beatles, Bob Dylan und andere Stars möchten eine 'internationale Beat-Partei' gründen, um Rassismus und Kolonialismus zu bekämpfen.[5]
Ursprungsorte der Beatmusik wie der Cavern Club (Liverpool) oder der Star-Club (Hamburg) boten ein Ambiente der Abweichung von gesellschaftlichen Konventionen, das auch als Protest aufgefasst werden konnte. Im Laufe der 1960er Jahre kamen Lokalitäten wie der Club Voltaire (Frankfurt), die Lila Eule (Bremen) und der Club Ça Ira (West-Berlin) hinzu, die Jazz und Beat, Kunst, Filme, Lesungen und politische Veranstaltungen anboten und so oppositionelle Kultur und Politik zu einem neuen Veranstaltungskonzept verknüpften. Im Aufschwung der Diskotheken seit 1967 entstanden Tanztempel wie Creamcheese (Düsseldorf), Grünspan (Hamburg) und Sound (West-Berlin), in denen sich psychedelische Musik, Drogenkonsum und politische Opposition diffus miteinander verbanden.

unternehmen griffen den neuen Trend auf, als er noch umstritten war, und bedienten damit einen wachsenden Bedarf. Dass amerikanische Plattenfirmen wie CBS und Liberty oder die schwedische Firma Metronome über englischsprachige Populärmusik den Gedanken der Revolution popularisierten, bereitete jungen Nonkonformisten Kopfzerbrechen. Insbesondere CBS machte 'Underground' zu einem Warenzeichen und vermarktete damit den Sound der Gegenkultur.[7] Parallel dazu entstanden Plattenlabels wie Ohr, Kuckuck und David Volksmund Produktion, die selbstverwaltet waren oder zwischen Kulturindustrie und linker Szene schillerten. Im Laufe der 1960er Jahre entstand in jugendbezogenen Sektoren der Kulturindustrie ein neuer Managertypus, der Künstler nicht nur als auswechselbare Displays betrachtete, sondern als autonome Produzenten. Das Ethos des professionellen, moralisch korrekten und publikumsnahen Musikmanagements verkörperte schon früh die Frankfurter Konzertagentur Lippmann + Rau, die zwischen 1962 und 1969 das American Folk Blues Festival veranstaltete und damit nicht nur den aktuellen Musikgeschmack junger weißer Europäer bediente, sondern auch ihren gestiegenen Bedarf an Identifikation mit den Unterdrückten und Ausgegrenzten auf der ganzen Welt, ihre Kritik an der Entfremdung und ihr antirassistisches Selbstverständnis.[8]
Zwischen 1964 und 1969 gab es auf der Burg Waldeck einen europäischen Nukleus der Folkbewegung, auf der sich jährlich mehrere tausend Jugendliche trafen. Aus den Impulsen der Waldeck und des amerikanischen Underground entstanden die Internationalen Essener Songtage vom September 1968. Dieses bis dahin größte europäische Popfestival zog 40.000 BesucherInnen an und bot etwa 200 KünstlerInnen der verschiedensten Genres auf – darunter Alexis Korner, Franz Josef Degenhardt, Tangerine Dream, Mothers of Invention und The Fugs. 1970 rückte die Festivalkultur näher an den Alltag Jugendlicher heran, als in allen Teilen der Bundesrepublik erstmals eine Vielzahl von Gemeinschaftskonzerten abgehalten wurde – ein Zeichen dafür, dass die häufig noch unter dem Zeichen der Gegenkultur verhandelte Rockmusik immer weiter in die Gesellschaft diffundierte. In diesem Jahr nahmen etwa 500.000 Jugendliche an den Festivals teil, die allerdings nur begrenzt die hochgesteckten Erwartungen einer solidarischen Gemeinschaft der 'beautiful people' erfüllten.
Wohnung und Unterhaltungselektronik
Dass die zentrale Hardware der Jugendkultur in den 1960er Jahren der Plattenspieler war, zeigte schon die prominente Position, die er in vielen Jugendzimmern einnahm. Nun konnten Tonträger mit Popmusik selbstbestimmt gehört werden, allein und zu Hause, aber auch im Freundeskreis. Um 1968 wurden Stereoanlagen populär, die die feinen Unterschiede beim Musikkonsum hervortreten ließen. Nicht mehr der Besitz eines Gerätes zum Abspielen von Schallplatten allein verschaffte soziales Prestige, sondern die Verfügung über geschmacklich und technologisch avanciertes Material. Stereophone Wiedergabetechnik und die Einhaltung eines klanglichen Mindestniveaus definierten einen neuen Maßstab, der die in dieser Hinsicht nicht sonderlich anspruchsvollen Plattenspieler früherer Jahre ins Hintertreffen geraten ließ.[9]
Vor allem Männer profitierten von der Elektrifizierung des Alltags – nicht zuletzt, weil sie techniknäher sozialisiert waren als Frauen. Mit dem Popmusik-Diskurs besetzten sie ein Gebiet, auf dem die Geschlechterverhältnisse noch zehn Jahre zuvor ausgeglichener gewesen waren. Anfang 1975 besaßen 16,9 % der 15- bis 23jährigen Frauen eine Stereoanlage, während es bei den gleichaltrigen Männern 42,9 % waren.[10] In diesen kargen Zahlen wird eine massive Akkumulation kulturellen Kapitals auf der maskulinen Seite sichtbar, die erst im Prozess der Ausbreitung und Ausdifferenzierung der Popmusik und des ihr zugrundliegenden materiellen Ensembles entstanden war. Denn ein Vergleich mit den frühen 1960er Jahren zeigt, dass hier noch beide Geschlechter im Besitz von Plattenspielern fast gleichauf lagen – bei einem leichten Vorteil für die jungen Frauen.[11] Frauen hörten Popmusik, und sie tanzten nach ihr begeisterter als Männer, aber als Gegenstände von Fachdiskursen waren Schallplatten und Phonogeräte, auch Popkonzerte, ja Popmusik überhaupt, zu einem bevorzugten Terrain vor allem für junge Männer geworden. Verfeinerte technische Reproduzierbarkeit durch ein ausdifferenziertes Ensemble technischer Gerätschaften war die Basis für diese Verschiebung in der Geschlechterrelation. Auch Mädchen verschafften sich auf diesem Gebiet Meinungsführerqualitäten, allerdings mit Abstand zu den Jungen und nachrangig zu ihren Hauptkompetenzgebieten Mode und Kosmetik. Die Lektüre einer Jugendzeitschrift, die detailliert (auch) über Popmusik berichtete, war unverzichtbar, um hier mithalten zu können. Wer signifikante Informationsvorsprünge gewinnen wollte, musste sich durch Zeitschriften wie "Pop" oder "Musik- Express" informieren, die den gewachsenen Bedarf an Spezialwissen seit 1966 bedienten – die Ambitioniertesten griffen zu "Sounds".
