Orgasmen wie Chinaböller
Sexualität zwischen Politik und Kommerz
Liberalisierung und Radikalisierung
Statt das Gewicht auf die sexuelle Freizügigkeit im Nationalsozialismus zu legen, wie christliche Wortführer es in der unmittelbaren Nachkriegszeit getan hatten, begannen nun junge Neulinke und ihre älteren liberalen und linken Mentoren, die konservativen und sexuell repressiven Elemente des Nationalsozialismus hervorzuheben. So basierte beispielsweise der letztlich erfolgreiche Versuch, die Einführung eines neuen, sehr konservativen Sexualstrafrechts zu hintertreiben (der Entwurf war 1962 fertiggestellt und sollte 1963 im Bundestag diskutiert werden), auf der rhetorischen Strategie, das Dritte Reich als im Kern sexualfeindlich darzustellen. Zugleich erörterten Studentenzeitungen – so z. B. die Frankfurter Unizeitung "Diskus" –, wie sexuelle Unterdrückung zu rassistischer Gewalt verleiten könnte. "Ohne Tabus kein Triebverzicht, ohne diesen keine aufgestauten Aggressionen, die sich zu gegebener Zeit gegen Minoritäten oder äußere Feinde – Juden, Kapitalisten, Kommunisten – dirigieren ließen."[2] Der Bundestag legte den konservativen Entwurf tatsächlich ad acta; stattdessen wurde in den späten 1960er Jahren ein von progressiven Juristen vorgelegter 'Alternativentwurf' zur Diskussions- und dann zur Gesetzesbasis.
Die heute etablierte Vorstellung eines durchwegs sexualfeindlichen 'Dritten Reichs' wurde hier rhetorisch entwickelt. Das 'Dritte Reich' wurde – in Dutzenden von Variationen – als Inbegriff der sexuellen Unterdrückung und der Holocaust als pervertiertes Produkt dieser Unterdrückung dargestellt. In seinem viel diskutierten Buch "Die Gesellschaft und das Böse" (1967) erklärte der Philosophiedoktorand Arno Plack unumwunden und mit direktem Bezug auf den Frankfurter Auschwitz-Prozess, es wäre "kurzschlüssig zu meinen, alles das, was in Auschwitz geschah, sei typisch deutsch. Es ist typisch für eine Gesellschaft, die die Sexualität unterdrückt."[3] Hier wird auch der enorme Einfluss der wiederentdeckten Schriften des marxistischen Freudianers Wilhelm Reich deutlich. Die neulinke Begeisterung für Reich hatte vor allem mit seiner zentralen Aussage zu tun, dass sexuelle Befriedigungsfähigkeit und Sadismus sich gegenseitig ausschlössen. Insbesondere half Reich, den moralischen Spieß gegenüber der Elterngeneration umzudrehen und die konventionellen Weisheiten über den Zusammenhang zwischen der Lust und dem Bösen neu zu formulieren. Außerdem bestand Reich darauf, insbesondere die kindliche Sexualität müsse nicht nur toleriert, sondern aktiv gewürdigt werden, um Faschismus und Neurosen gleichermaßen abzuwenden. Solche Überlegungen hatten auch ganz konkrete Auswirkungen, z. B. bei der Entwicklung der antiautoritären Kindererziehung. "In der Familie", so neulinke AktivistInnen in einem Kinderladen in Berlin-Lankwitz, wurde das Kind "zugerichtet, dressiert als Untertan, als gläubiger Christ, als sexualfeindlicher späterer 'Herr und Frau Saubermann', als sich fügender Arbeitnehmer". Um ihrer antiautoritären Sichtweise mehr Nachdruck zu verleihen, stellten die Lankwitzer die anale Phase und den Holocaust gemeinsam ins Zentrum ihrer Reflexion: Strafende Erziehung zur Toilette, behaupteten sie, führe zu autoritären Persönlichkeiten mit sadistischen Fantasien, die Minderheiten unterdrückten; die Beschäftigung mit Reinlichkeit sei wesentlicher Bestandteil einer Gesinnung, die Menschen "in den Ofen" schicke.[4]

Dieser neue gesellschaftliche Konsens verlieh der sexuellen Revolution, die die Bundesrepublik in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren mit ungewöhnlicher Kraft erfasste, eine starke Aura moralischer Rechtschaffenheit – mit dem mitunter etwas komischen Resultat, dass von Beate Uhse-Läden über Oswalt Kolles Aufklärungsfilme und Günter Hunolds Softcore-Filmreihe "Schulmädchen-Report" bis hin zu der verbreiteten Nacktheit auf Bildschirmen und in der gelebten Wirklichkeit alles den genugtuenden Beigeschmack antifaschisticher Courage bekam. Innerhalb der Kirchen entzündeten sich in diesem Umfeld Konflikte. Konservative waren entgeistert, diese 'sexuelle Revolution' sei "eine Schlammflut, die alles versaut", sei schlicht "Sexualterror".[8] Die evangelische Aktion Sorge um Deutschland meinte: "Eine Flut dämonischer Kräfte überschwemmt unser Volk. Unzählige werden zum hemmungslosen Lebensgenuss und Ausleben ihrer Triebe verlockt."[9] Eine Pastorenfrau nannte die Redakteurin einer Schülerzeitung, die für bessere Sexualerziehung in der Schule plädierte, "scheißig, kommunistisch und pervers".[10] Aber viele Kirchenmänner haben auch umgedacht. Der "Stern" fand die neue Lockerheit so witzig, dass er eine Karikatur druckte, die einen Pastor vor der Kirchentür zeigte, der ruft: "Anziehen, Kinder! Der Gottesdienst fängt an!"[11] Und auch beim Katholikentag hieß es schon 1968 mit Bezug auf den Papst: "Ja zur Pille, Nein zu Pauls Sex."[12] Die katholischen Bischöfe Westdeutschlands widersprachen sogar offiziell den Richtlinien des Vatikans und bejahten den Gebrauch der Pille. Evangelische Pastoren befürworteten ganz offen den vorehelichen Verkehr; manche bejahten sogar den Ehebruch. Dieses Umdenken innerhalb der Kirchen hat ohne Frage zur Legitimation des praktizierten Wertewandels beigetragen.
Der vorläufige Konsens Anfang der 1970er lautete, dass sich das eigentliche Benehmen von Erwachsenen miteinander nicht sonderlich geändert hatte. Fantasien hätten sich erweitert, aber Häufigkeit des ehelichen Koitus beispielsweise blieb stetig bei etwa zwei Mal pro Woche. Das Verhalten der Jugend änderte sich jedoch eindeutig. Da die Pille die Angst vor ungewollter Schwangerschaft genommen hatte und der Koitus nun eine Sache des Stolzes und nicht mehr schambehaftet war, fingen Jugendliche drei bis vier Jahre früher damit an als ihre älteren Geschwister.
Jugendliche protestierten – kreativ und intensiv – für 'Liebeszimmer' in den Schulen, freie Pillenverteilung und Nacktheit und Sex auf Ferienreisen. 'Asexuelles Miteinander ist lebensfeindlich' war eine Parole der Ära.[13] Der springende Punkt ist hier aber, dass gegenläufige Proteste und rechtliche Klagen von Eltern oder Schulleitungen von den Gerichten abschlägig beschieden wurden. Unter den älteren Experten aus der Psychologie und Pädagogik hatten nun die Liberaleren das Sagen. Sie sagten, dass Sex für junge Leute gut sei.
Nichtsdestotrotz würde jede Untersuchung, die den Aktivismus und auch die sich ändernde Praxis der älteren Generation vernachlässigt, der Bedeutung des Wandels im Laufe der 1960er und frühen 1970er Jahre in Westdeutschland nicht gerecht. Unzweifelhaft wären die Entkriminalisierung der männlichen Homosexualität 1969 und die teilweise Entkriminalisierung des Aborts 1976 nicht möglich gewesen ohne den unerschrockenen und einfallsreichen Aktivismus von älteren Liberalen ebenso wie von jüngeren Neulinken. Auch die interne Liberalisierung der CDU war hier ein entscheidender Faktor. Zugleich ist zu betonen, dass nicht nur AktivistInnen an der Revolution teilhatten. Auch haben viele in der älteren Generation von den neuen Freiheiten und Möglichkeiten freudig Gebrauch gemacht.