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Neue Linke und Studentenbewegung

Axel Schildt

/ 15 Minuten zu lesen

Bereits in den frühen 60er Jahren bildete sich international eine Bewegung, besonders unter Studenten, die später als "New Left" bezeichnet wurde: in Abgrenzung zur Sozialdemokratie - aber auch zum Kommunismus.

Mai 1968 in Saarbrücken: Karl Dietrich Wolff (Sozialistischer Deutscher Studentenbund - SDS ), Daniel Cohn-Bendit and Gaston Savatore (von links nach rechts). (© AP)

Kein anderes Ereignis in der friedlichen Geschichte der Bundesrepublik hat wohl derart nachwirkend die politischen Diskussionen bestimmt wie die Studentenrevolte und der jugendliche Protest am Ende der 60er-Jahre. Mit dem zeitlichen Abstand von zwei Jahrzehnten wurde es üblich, diese unruhige Phase unter der Chiffre "68" als entscheidenden Bruch in der Geschichte der Bundesrepublik zu stilisieren und eine vorherige "bleierne", geschichtslose Zeit von der nachfolgenden modernen Gesellschaft abzusetzen. Für den Schriftsteller und Publizisten Hans Magnus Enzensberger machte "68" die "unbewohnbare Bundesrepublik (überhaupt) erst bewohnbar". Umgekehrt beklagten konservative Stimmen, dass zuvor geordnete Verhältnisse durch den Einfluss der 68er mit nihilistischer Wut zerstört worden seien. So schrieb der bekannte Theologe Helmut Thielicke in seinen Erinnerungen von "einem der traurigsten Lebensabschnitte" und vom "Niedergang der deutschen Universität", der 1967 begonnen habe. Gemeinsam ist diesen in der Wertung entgegengesetzten Versionen eine Ursprungslegende, mit der die Geschichte des gesamten Jahrzehnts verdeckt oder zur bloßen Vorgeschichte von 68 verzerrt wird.

Die mythische Überhöhung der Studentenrevolte speiste sich nicht zuletzt aus ihrem unerwarteten Ausbruch, ihrer Vehemenz und dem auch von den Massenmedien vermittelten Gefühl der weltweiten Gleichzeitigkeit sowie dem Ineinandergreifen politischer und kultureller Momente. Für die meisten Beteiligten war der Protest mehr Lebensgefühl als Ergebnis theoretischer Analyse. Aber deshalb war er noch lange nicht unpolitisch, sondern umschloss durchaus Utopien einer radikalen Gesellschaftsveränderung.

Die antiautoritäre Studentenrevolte kam sehr plötzlich und kündigte sich öffentlich nicht schon viele Jahre vorher an, von einigen vereinzelten Aktionen vor allem in München und West-Berlin abgesehen. Dort hatte sich bereits um 1960 eine zahlenmäßig kleine libertäre Subkultur gebildet, die neben avantgardistischem Jazz, Happenings in der Bildenden Kunst, den existentialistischen Philosophen Sartre und Camus auch den Marxismus als intellektuelles Tabu im Zeitalter des Kalten Krieges entdeckte. In einem weiteren Sinne allerdings kann man durchaus von einer allmählichen Belebung einer Neuen Linken seit den frühen 60er-Jahren sprechen: Der Begriff "New Left" wurde von dem Soziologen C. Wright Mills in den USA 1957 in Abgrenzung von der kommunistischen ebenso wie von der reformistisch-sozialdemokratischen Richtung der internationalen Arbeiterbewegung geprägt.

Für die Suche nach einer wirkungsvollen Neuen Linken bestand in der Bundesrepublik durchaus Anlass. Da alle Organisationsversuche links von der SPD unter dem Generalverdacht einer Steuerung durch die SED standen, achteten selbst die wenigen marxistischen "Traditionalisten" in kleinen linkssozialistischen Gruppierungen und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) auf strikte Abgrenzung. Der SDS, der 1961 als akademischer Nachwuchsverband von der SPD verstoßen worden war, schloss selbst kurz darauf kommunistische Gruppierungen aus. In der erstmals zur Bundestagswahl 1961 antretenden Deutschen Friedensunion (DFU) arbeiteten, neben einigen pazifistischen und linkssozialistischen Persönlichkeiten, verdeckt auch kommunistische Gruppierungen mit. Die DFU blieb durch den Verdacht östlicher Unterstützung – das Parteikürzel wurde in der Öffentlichkeit ironisch als "Die Freunde Ulbrichts" interpretiert – weitgehend erfolglos.

Die Proteste richteten sich gegen die Notstandsgesetze und gegen den Vietnamkrieg.(© Günter Zint)

Vor diesem Hintergrund kamen wichtige Anstöße aus dem westlichen Ausland. Die so genannte Ostermarsch-Bewegung entwickelte sich – nach einem britischen, ursprünglich gegen die atomare Aufrüstung im Kalten Krieg gerichteten Vorbild – aus kleinen Anfängen zu einer Massenbewegung. 1960 demonstrierten etwa 1.000 Menschen an unterschiedlichen Orten gegen die atomare Kriegsgefahr. 1964 waren es schon 100.000 und 1967 rund 150.000, die nun ein erheblich breiteres Spektrum von Protestthemen artikulierten. Örtliche Behörden schikanierten die anfangs strikt pazifistisch ausgerichtete Ostermarschbewegung zum Teil durch die Zuweisung publikumsferner Routen und der Zensur ihrer Plakate. Innerhalb der Ostermarsch-Bewegung gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Pazifisten und Linkssozialisten, die letztere erst zur Mitte der 60er-Jahre hin für sich entschieden.

Seit Ende der 50er-Jahre entdeckten intellektuelle Kreise die "Kritische Theorie" der Zwischenkriegszeit und des Exils sowie undogmatische marxistische Schriften, etwa von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Karl Korsch, Georg Lukacs, Ernst Bloch und Walter Benjamin. Kaum beachtet wurde dabei der historische jüdisch-deutsche Hintergrund dieser Autoren, das Moment des Re-Imports vormals verfemter Autoren. Biographisch interessant erscheint, dass etliche der jungen Intellektuellen, die sich dieser Literatur zuwandten, aus Kreisen der dj.1.11 stammten.

Die spektakulären Proteste in Frankreich hatten später als in der Bundesrepublik begonnen, waren aber in einer kurzen Zeitspanne weitaus heftiger gewesen. (© Günter Zint)

Diese dezidiert linke Ausformung der bündischen Jugend, die in der Weimarer Republik ein jugendgemäßes Leben mit gemeinsamen Wanderfahrten propagiert hatte und ihren höchsten Ausbreitungsgrad in den Jahren vor 1933 gehabt hatte, war nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbelebt worden. Vor allem der im kalifornischen Exil lebende Herbert Marcuse, der auf dem West-Berliner "Vietnamkongreß" 1968 das Hauptreferat halten sollte, wurde schon früh ein theoretischer Stichwortgeber für die antiautoritäre Linke. Sie erklärte nicht mehr die Arbeiterklasse, sondern die sozial ausgegrenzten oder vom spätkapitalistischen System noch nicht integrierten gesellschaftlichen Gruppen, vor allem den akademischen Nachwuchs, zum neuen revolutionären Subjekt, das den herrschenden "Manipulationszusammenhang" durchbrechen könne. Die Hinwendung zu solchen theoretischen Ansätzen mit ihrer sozialistisch-antiautoritären und marxistischen Terminologie wirkte angesichts der östlichen Bedrohung naturgemäß sehr provokant, was durchaus beabsichtigt war.

Aber die kleinen linken Zirkel waren keineswegs repräsentativ für die Jugend der 50er und frühen 60er-Jahre, die vorzugsweise für nüchtern und "skeptisch" (Helmut Schelsky) gehalten wurde. Speziell die Studierenden galten als "schweigende Generation". Der Professor und spätere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller mahnte bei der Immatrikulationsfeier der Hamburger Universität 1958: "Denken Sie bei Ihrem Studium nicht an die Besoldungsordnung Ihrer Berufe von morgen. Sie haben allein hier und später nie wieder die Chance, sich mit vielem zu beschäftigen." Und der hessische Sozialwissenschaftler und Bildungspolitiker Ludwig von Friedeburg befand noch 1965: "Überall erscheint die Welt ohne Alternativen, passt man sich den jeweiligen Gegebenheiten an, ohne sich zu engagieren, und sucht sein persönliches Glück in Familienleben und Berufskarriere. In der modernen Gesellschaft bilden Studenten kaum mehr ein Ferment produktiver Unruhe."

Vor diesem Hintergrund kam der rasante Aufstieg einer sich rasch radikalisierenden Studentenbewegung für die meisten Zeitgenossen völlig überraschend. Als Initialzündung für deren Ausbreitung in der gesamten Bundesrepublik wirkte die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten in Zivil am Rande einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Kaiserpaares in West-Berlin am 2. Juni 1967. Dort führte die anfängliche Verschleierung und falsche Darstellung der Fakten durch Polizeiführung, Senat und marktbeherrschende Presse zur Empörung von Teilen der Studierenden und vieler Jugendlicher, die allerdings von der großen Mehrheit der Bevölkerung isoliert blieben.

Der Überführung des Leichnams – mit einem Autokorso durch die DDR – nach Hannover folgten in den Wochen danach zahlreiche politische Aktivitäten. Vom 3. bis zum 9. Juni drückten in der Bundesrepublik und West-Berlin etwa 100.000 Studierende in Schweigemärschen und Demonstrationen ihre Trauer und ihren Protest aus, und erstmals schienen viele den SDS als Sprecher der Aktionen anzuerkennen. Im Juni 1967 wurde in Frankfurt am Main das Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS) gegründet, das vor allem an den Gymnasien Nachwuchs für die Rebellion rekrutierte und – wie der SDS – in wenigen Monaten seine Mitgliedschaft vervielfachte (jeweils etwa 4.000 Mitglieder 1968).

Flugblätter antiautoritären Inhalts – etwa gegen die Zensur von Schülerzeitungen, für sexuelle Aufklärung, gegen den "Leistungsterror" –wurden an den Schulen verteilt. An den Universitäten provozierten Studierende in Vorlesungen den Lehrkörper mit der Forderung nach Diskussion über ihre "reaktionären" Positionen oder über ihre NS-Vergangenheit. Einen besonders spektakulären Verlauf nahm die Hamburger Immatrikulationsfeier im Oktober 1967. Während die Professoren in ihren traditionellen Talaren in das Auditorium maximum der Universität einzogen, setzten sich zwei Studenten des sozialdemokratischen Studentenbundes SHB plötzlich mit einem Transparent an die Spitze, auf dem stand: "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren". Es kam zum Tumult, bei dem sich ein Professor der Byzantinistik dazu hinreißen ließ zu rufen: "Ihr gehört alle ins KZ!" Er erhielt dafür später einen Verweis der Universitätsleitung.

Die verantwortlichen Studierenden sollten zunächst von der Hochschule verwiesen werden, durften aber ihr Studium fortsetzen. Es ist symptomatisch, dass der Hamburger Schulsenator Wilhelm Drexelius das spektakuläre Muff-Ereignis nur als Aktion zugereister Berliner Aufrührer erklären konnte.

Das Happening im Hamburger Audimax, das in der überregionalen Presse große Aufmerksamkeit fand, lud an anderen Universitäten zur direkten Nachahmung ein. So ging in München die Rektoratsübergabe im Tumult unter, musste sich der akademische Senat – auf den Konfetti, Luftschlangen und Flugblätter regneten – dort als närrischer Elferrat verhöhnen lassen. Zum Jahreswechsel 1967/68 meldete die Presse Unruhen an zehn der 34 westdeutschen Hochschulen.

Im folgenden Jahr wurden dann auch die übrigen Hochschulen in die Auseinandersetzungen einbezogen. Innerhalb weniger Monate gelang die Transformation einer kleinen Gruppe engagierter Aktivisten in eine meinungsführende Bewegung. Es begann das "Jahr der jungen Rebellen" (St. Spender), in dem eine eigenartig euphorische Aufbruchsstimmung vorherrschte, der Drang zur Provokation und Polarisierung. Atemlosigkeit und das Empfinden einer einmaligen Entscheidungssituation beseelte die Aktivisten der Revolte, spürbar in der Rede des Studentenführers Rudi Dutschke beim Berliner Vietnamtribunal im Februar 1968: "Wir haben nicht mehr viel Zeit (...). Wir haben eine historisch offene Möglichkeit. Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird."

In enormer Geschwindigkeit veränderten sich die politischen Positionen – Forderungen nach demokratischer Reform im Rahmen der bestehenden Ordnung wurden übertönt von einer Mischung aus neomarxistischen, antiautoritären und kulturkritischen Parolen: Was im Jahre 1967 noch als Forderung galt, war ein Jahr später bereits überholt und vermochte dem revolutionären Schwung von 1968 nicht zu folgen. Einer der Führer des Hamburger Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB), Jens Litten, schrieb bereits 1969 in einer bei Hoffmann & Campe verlegten Broschüre, nach dem Debakel der örtlichen Immatrikulationsfeier habe zwar kein Zweifel bestanden, "dass an der Borniertheit der Professorenschaft alle gutwilligen Reformbemühungen scheitern mussten. Aber in der Folgezeit stellte sich sehr schnell die eigentümliche Koalition zwischen professoraler Reaktion und pseudorevolutionärer studentischer Avantgarde ein, die konstruktive Reformarbeit so außerordentlich erschwert."

Statt Denkschriften und Diskussionen in Arbeitsgruppen wurden nun vermehrt Seminare gesprengt und andere handgreifliche Formen der Auseinandersetzung gesucht. Allmählich veränderten sich im Zuge dieser Entwicklung auch die Themen: Während anfangs die Reform der Hochschulen, die Forderung nach Mitbestimmung der Studierenden und des 'Mittelbaus' im Vordergrund standen, dominierten bald allgemeine politische Themen: der Protest gegen den von den Amerikanern geführten Krieg in Vietnam und allgemein die Parteinahme für "antiimperialistische" Bewegungen in der Dritten Welt.

Innenpolitisch herrschte die Diskussion über die angebliche Entwicklung der Bundesrepublik zum autoritären Staat vor, den man durch die Große Koalition und ihre als NS-Gesetze bekämpften Vorlagen für eine Notstandsgesetzgebung vorbereitet sah. Vor diesem Hintergrund sollten zahlreiche 'Enthüllungskampagnen" über die NS-Vergangenheit von Politikern, Hochschullehrern und Wirtschaftsführern dem Nachweis dienen, dass die Bundesrepublik nur vordergründig eine Demokratie sei, tatsächlich aber in starkem Maße in der personellen Kontinuität des "Dritten Reiches" stehe. Die Wahlerfolge der rechtspopulistischen NPD verliehen der reißerischen Agitation zusätzlich den Anschein von Plausibilität.

Auch wenn die Anlässe für politischen Protest häufig als Verteidigung gegen unheilvolle Rechtsentwicklungen artikuliert wurden, verschmolzen sie in einem Gefühl weltweiter Gemeinsamkeit mit der jugendlichen Protestbewegung. Aus ihr bezog man das Gefühl von Stärke und einen grundsätzlichen Optimismus. Das Motiv der moralischen Empörung, das der Vietnam-Krieg freisetzte, und die begeisterte Identifikation mit den Befreiungsbewegungen der "Dritten Welt" verbanden die Studentenbewegungen in Westeuropa mit der jenseits des Atlantik, und sie strahlten auch auf die osteuropäischen Staaten aus. Die Bedeutung dieser Strömung, die sich in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre international ausbreitete, lag wohl darin, dass für einen kurzen historischen Moment die politische Bewegung und die auch kommerziell expansive jugendliche Gegenkultur zusammentrafen, ja sogar verschmolzen. So ergab sich eine besonders enge Verbindung von Gegenkultur und Kulturindustrie oder zumindest ein Zusammenwirken von Protestgeneration und Popkultur.

Sicher vermag die Charakterisierung der Protestbewegung als Konflikt zwischen den Generationen nicht allein die Entstehung der Neuen Linken erklären. Aber tatsächlich dominierte der jugendlich-studentische Anteil - etwa bei Demonstrationen - denjenigen der älteren Erwachsenen. Anders als um 1960 fand seit der Mitte des Jahrzehnts die antiautoritäre gegenüber der traditionell linkssozialistischen Strömung deutlich größere öffentliche Beachtung. Zudem bliebe der Gehalt der Neuen Linken gänzlich unverstanden ohne den Gesichtspunkt der Sehnsucht nach einem anderen Leben und einer gänzlich neuen Politik, die das Private politisch werden ließ. Diese Geisteshaltung mit ihren Visionen und Utopien verband sich mit einer teils erstaunlichen Geringschätzung des bürgerlichen Rechtsstaats und einer heftigen Ablehnung liberalen Denkens. Sie trug zwar, formal betrachtet, antiwestliche Züge, aber dieses Phänomen war nicht allein in der Protestbewegung der Bundesrepublik, sondern in allen westlichen Ländern anzutreffen.

Die Liberalen wandten sich zunehmend von der radikalen Studentenbewegung ab. Marion Gräfin Dönhoff, Chefredakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit", hatte die erwähnte "Muff-Aktion" noch sympathisierend begleitet. Aber schon Anfang 1968 äußerte sie sich kritisch gegenüber der neuen politischen Romantik der radikalen Studierenden. Umgekehrt lehnten diese die liberale Unterstützung nun - hier zitierte man gern einen Begriff des in Kalifornien lebenden exilierten Philosophen Herbert Marcuse - als "repressive Toleranz" ab. Man könnte heute als terminologische Vermittlungshilfe geradezu ein Glossar mit dem entsprechenden zeitgenössischen Vokabular anfertigen. Es enthielte Begriffe wie "Spätkapitalismus", "Manipulation", "Konsumterror", "repressiv" und "autoritär" (als Adjektiv in allen Zusammenhängen), "Establishment" und den "Fachidioten" als unpolitischen Menschen, was der altgriechischen Bedeutung von Idiot als Privatexistenz sehr nahe kommt, sowie den liberalen "Abwiegler" oder kurz: "Scheiß...".

Wer mit diesen Begriffen jonglierte, besaß zumeist keine Kenntnis der politischen Theorien, eher vage Vorstellungen von deren Bedeutung. Jeder kannte den Namen Herbert Marcuse, doch seine Bücher mit der näheren Ausarbeitung der These von der 'Eindimensionalen Gesellschaft' werden viele junge Leute ebenso wenig gelesen haben wie die anderen mit grell bunten Einbänden versehenen Bände der edition suhrkamp, die seit 1964 eine intellektuelle Führungsrolle übernommen hatte.

Thesenfragmente aus diesen Büchern mischten sich mit einem Lebensgefühl, wie es in einer Hymne der Bewegung auf eine für viele gültige Art und Weise ausgedrückt wurde – in Bob Dylans The Times, They are A-Changin‘: die stark ästhetisierte Vorstellung einer neuen Zeit, die angebrochen sei und die morschen Autoritäten überwinden werde. Die Massenmedien vermittelten durch den Transport der Texte und Bilder dieses Lebensgefühl nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch den Studierenden selbst, die nach zeitgenössischen Erhebungen 1968 zu zwei Dritteln "Die Zeit" und den "Spiegel" lasen. Der Berliner SDS-Aktivist Bernd Rabehl sprach rückblickend von der inszenierten Rebellion: "Die Revolte war von Anfang an ein Medienereignis. Radio, Zeitungen und Fernsehen kommentierten das Geschehen, bauten die einzelnen Rebellen auf und transportierten die Bilder und Symbole, Figuren und Sprüche in den letzten Winkel der Republik. Als Medienwirklichkeit waren diese Szenen immer gleichzeitig Abbild und Inszenierung, Interpretation und Selektion, Zensur und Propaganda. (...) Sie ließen diese Revolte nicht zur Ruhe kommen, gaben keinen Raum zum Nachdenken, keinen Ruhepunkt. Wie im Sport war die Dramatik angelegt: Sie trieb von Höhepunkt zu Höhepunkt und gab den Akteuren Einbildungen, Überheblichkeiten, Siegesgewissheiten. Sie schuf mit den Illusionen eine Medienwirklichkeit dieser Rebellion, die diese aufblies, bis sie zerplatzte." Allerdings nutzten nicht nur die Medien die studentischen Aktionen, umgekehrt spielten die Protagonisten des Protests sehr geschickt auf deren Klaviatur.

In West-Berlin bildeten sich seit Anfang 1967 politisch motivierte Wohngemeinschaften von Männern und Frauen – ein unerhörter Bruch mit den bis dahin gültigen bürgerlichen Moral- und Wertvorstellungen. Ihre Bewohner forderten auf provokante Weise die Revolutionierung des Alltags. Sie verlangten die Abschaffung des Privateigentums, bekämpften das Leistungs- und proklamierten das Lustprinzip. Die Berichterstattung über diese so genannten Kommunen – vor allem die K 1 und K 2 – regte mit Bildern nackter Männer und Frauen sowie ausgehängter Toilettentüren die Phantasie der Öffentlichkeit weit über Berlin hinaus an. Der Kommunarde Fritz Teufel erlangte bundesweite Berühmtheit. Als er im November 1967 wegen eines Steinwurfs bei einer Demonstration vor Gericht stand, beantwortete er die Forderung, sich beim Eintritt der Richter zu erheben, mit dem Satz: "Wenn es der Wahrheitsfindung dient" – diese Formulierung wurde zum geflügelten Spruch, der die antiautoritäre Kritik an obrigkeitlich hohlen Formen prägnant auf den Punkt brachte.

Der internationale Höhepunkt der Studentenbewegung war im Frühjahr 1968. Nachdem am Gründonnerstag jenes Jahres der SDS-Führer Rudi Dutschke von einem jungen, rechtsradikal beeinflussten Arbeiter angeschossen und schwer verletzt wurde, kam es an den darauf folgenden Osterfeiertagen zu heftigen Unruhen und Straßenschlachten. Aus friedlichen Demonstrationen mit einer Beteiligung von mehr als 100.000 meist jugendlichen Teilnehmern entwickelten sich militante Aktionen gegen die Auslieferung von Blättern des Springer-Konzerns. Diesem wurde vorgeworfen, das Gewaltklima geschürt zu haben, das den Schüssen auf Rudi Dutschke den ideologischen Boden bereitet habe. Vor allem die "Bild-Zeitung" hatte sich zum Anwalt der "schweigenden Mehrheit" und des "kleinen Mannes" gegen die "Radaustudenten" gemacht, die nicht selten mit SA-Horden verglichen wurden. Aus der von liberalen Journalisten schon ein Jahr zuvor erhobenen Forderung nach einer Entmachtung des Springer-Konzerns war die Parole "Enteignet Springer!" geworden. Sie war symbolträchtig und beruhte nicht auf der Analyse des Pressewesens und anderer Medien: Die Wirkung des Fernsehens etwa, das in den 60er-Jahren seine Zuschauerzahlen vervielfachte, wurde kaum diskutiert.

Die Osterunruhen, bei denen es mehrere Tote und viele Verletzte unter Demonstrierenden, Polizisten und unbeteiligten Beobachtern gab, führten zu lebhaften Diskussionen im Bundestag und zogen Strafverfahren gegen fast 300 Studenten und 100 Schüler nach sich. Durch eine spätere Amnestie wurden diese Verfahren eingestellt. Die deutschen Osterereignisse wurden schon Anfang Mai durch die studentischen Aktionen in Paris von ihrem Platz auf den ersten Seiten der Zeitungen verdrängt. Barrikadenkämpfe zwischen Studierenden und Polizisten im Hochschulviertel Quartier Latin, die Besetzung der Hochschulen und Streiks in vielen Betrieben des Landes brachten die französische Regierung an den Rand der Existenz und führten zum Rückzug des Staatspräsidenten De Gaulle aus der Politik. Die spektakulären Proteste in Frankreich hatten später als in der Bundesrepublik begonnen, waren aber in einer kurzen Zeitspanne weitaus heftiger gewesen. In Deutschland bildeten die Aktionen gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 einen Höhe- und Endpunkt der Protestwelle. Es kam dabei an vielen Orten zur Besetzung von Hochschulen und Schulen und vereinzelt zu betrieblichen Warnstreiks. Am 11. Mai zog eine Demonstration mit ca. 70.000 Teilnehmern aus der ganzen Bundesrepublik durch Bonn.

Die politischen Aktivisten nahmen die Verabschiedung der Notstandsgesetze als Niederlage der Außerparlamentarischen Opposition wahr. Als ebenso enttäuschend empfanden sie die gewaltsame Beendigung des "Prager Frühlings" durch Panzereinheiten der Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968, mit dem die Hoffnung auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zunichte gemacht wurde. Tatsächlich aber verbreiterte sich die jugendliche Protestbewegung in den folgenden beiden Jahren beträchtlich und erreichte nun auch kleine Orte in der Provinz. Zugleich verlor die antiautoritäre Strömung der APO und des SDS, die zwar auch zuvor nicht unbedingt die Mehrheit des linken Kerns ausgemacht, aber die öffentlichen Berichterstattung dominiert hatte, an Bedeutung.

Unterschiedliche politische Orientierungen zeigten sich, die das folgende Jahrzehnt auf der Linken prägen sollten: Der als "Marsch durch die Institutionen" verstandene Eintritt in die SPD und in deren Jugendorganisation, die Jusos, veränderte deren Charakter – man sprach später von einer Akademisierung der Sozialdemokratie. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die sich im September 1968 konstituierte, und deren Studentenorganisation – die Assoziation Marxistischer Studenten Spartakus (AMS Spartakus; später Marxistischer Studentenbund Spartakus) zogen viele Mitglieder und Anhänger des zerfallenden SDS auf ihre Seite. Gemeinsam mit dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB; später Sozialistischer Hochschulbund) stellte Spartakus zeitweise einen großen Teil der Allgemeinen Studentenausschüsse und dominierte den Verband Deutscher Studentenschaften (VDS).

Andere Teile der Studentenbewegung wandten sich Ende der 60er-Jahre den verschiedenen marxistisch-leninistischen Parteien und Zirkeln der maoistischen Bewegung zu. Diese bekämpften die Sozialdemokraten sowie die Gewerkschaften als bürgerlich-reformistisch, sahen Kommunisten mindestens als revisionistisch bzw. als Verräter der Revolution und versuchten, die Arbeiter direkt vor den Betrieben anzusprechen. Ein gemeinsames Moment der unter sich verfeindeten und zum Teil sektiererische Züge annehmenden Gruppierungen, die sich am Ende der 60er-Jahre herausbildeten, war die Hoffnung auf eine neue antikapitalistische Arbeiterbewegung. Die Arbeiterschaft erschien als erwachender Riese, der durchaus noch oder wieder zum revolutionären Subjekt tauge. Häufig waren ausländische Arbeiter führend an den Streiks beteiligt.

Es war nur eine kleine Zahl von Personen der 68er-Bewegung, die den Übergang zum "bewaffneten Kampf" propagierten, um in Anklängen an die lateinamerikanische Stadtguerilla das "System" zu provozieren und als "gewalttätig" zu demaskieren. Am Ende des Jahrzehnts bildeten sich Terrorzirkel, deren bekannteste die Rote Armee Fraktion (RAF) und die Bewegung 2. Juni wurden. Deren spektakuläre Entführungen und Anschläge auf Politiker und Wirtschaftsführer wertete vor allem die konservative Presse als scheinbar klare Linie von der antiautoritären Protestbewegung der 60er-Jahre bis zum Terrorismus.

Im Zuge der politischen Aufsplitterung der 68er-Bewegung verbreiterte sich zum Ende der 60er-Jahre das politische Interesse nicht nur in der jungen Generation, sondern - mit einer gewissen regionalen und schichtenspezifischen Verzögerung - in großen Teilen der Bevölkerung. Zahlreiche Forderungen nach einer Liberalisierung und "Demokratisierung" der Gesellschaft wurden in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert: die Kindererziehung und die Gestaltung des Schulunterrichts, die Gleichberechtigung der Frauen bis hin zur Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Orientierungen. Diese Diskussionen erweiterten unvermutet die Spielräume innerhalb eines angeblich repressiven Systems; seit dem Beginn der 1970er Jahre entstand daraus die breite Basis einer neuen Frauenbewegung.

Die Ausbreitung von Wohngemeinschaften, die wachsende Aufgeschlossenheit gegenüber der westlichen Popmusik und sich wandelnde kulturelle Leitlinien, etwa das "Ende der Krawattenkultur" waren Elemente eines neuen Lebensstils. Er ging einher mit dem Verblassen der Feindbilder des Kalten Krieges – die Entspannungspolitik und Aussöhnung mit den osteuropäischen Ländern gewann – ausweislich demoskopischer Erhebungen – seit der Mitte der 60er-Jahre eine Mehrheit in der Bevölkerung.

So wurden zwar nicht die radikalen Ziele der Sprecher der Studentenbewegung erreicht, die für eine sozialistische Revolutionierung der Gesellschaft eintraten. Gewissermaßen hinter dem Rücken der Aktivisten bewirkten die antiautoritären Botschaften jedoch eine "Fundamentalliberalisierung" (Jürgen Habermas) der westdeutschen Gesellschaft. Die Rebellion der Studierenden und Jugendlichen war letztlich ein Medium, das manche noch vorhandene gesellschaftlich-kulturelle Rückständigkeit an die in weiten Teilen schon weiter fortgeschrittene ökonomische und gesellschaftliche Modernität in der Bundesrepublik anglich.

Dies erklärt, warum die Studentenbewegung in ihrem Anrennen gegen "verzopfte Autoritäten" immer so nachtwandlerisch den Nerv traf und auf enorme Resonanz stieß. Die 68er-Bewegung wird damit als ironische List der Geschichte zum Bestandteil der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik.

Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005. Aus der bpb-Reihe: Zeitbilder.

Fussnoten

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Axel Schildt wurde 1951 in Hamburg geboren. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg sowie Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg.