Die 68er: politische Verirrungen und gesellschaftliche Veränderungen
Der "Mief" der 1960er Jahre
Ich gab den Schülern folgendes Beispiel: 1965 wohnte ich in Tempelhof, meine Freundin und jetzige Frau dagegen in Dahlem. Wenn ich meine Freundin besuchte, klopfte spätestens um 22 Uhr ihre Wirtin an die Tür und rief: "Herr Schönbohm!" Das bedeutete, ich musste baldmöglichst das Zimmer verlassen, damit sich die Wirtin, wie sie uns entschuldigend erklärt hatte, nicht wegen des Verstoßes gegen den Kuppeleiparagraphen strafbar machte. Ich musste also raus aus dem Bett in die kühle Nacht, um auf dem Motorroller zu meinem Domizil zu fahren.
An der Universität trug ich Jackett, und man sprach seine Studienkollegen mit "Herr Kommilitone" an. Studentische Wohngemeinschaften hatten keine Chance, einen Mietvertrag zu bekommen. Die Geburt eines unehelichen Kindes war eine Schande für die Mutter und deren Familie. Jede Abtreibung - mit Ausnahme der Schwangerschaftsunterbrechung bei medizinischer Indikation - war verboten. Eine Ehescheidung erfolgte nach dem Schuldprinzip. Die kirchliche Trauung zwischen einem Protestanten und einer Katholikin war nur möglich, wenn der Protestant sich schriftlich gegenüber der katholischen Kirche verpflichtete, dass die Kinder katholisch getauft und erzogen würden. Ehefrauen mit Kindern benötigten für ihren künftigen Arbeitgeber die Genehmigung ihres Ehemannes, wenn sie eingestellt werden wollten. Wenn ein Mann eine Verlobung, also ein Eheversprechen, aufhob, musste er seiner früheren Verlobten als Entschädigung ein "Kranzgeld" zahlen. Ich werde nicht vergessen, wie ablehnend ich auf die langen Haare der Beatles reagierte, die ich 1962 zufällig im Starclub in Hamburg gehört und gesehen hatte. Männer mit langen Haaren wie Frauen - einfach lächerlich!
Berlin verstand sich damals als Frontstadt im Kalten Krieg gegen die kommunistische Diktatur, als Symbol der Freiheit. Am 1. Mai versammelten sich in den 1960er Jahren noch über 100 000 Berliner vor der Ruine des Reichstages, um gemeinsam mit den Gewerkschaften und allen Parteien ihren Freiheitswillen und ihren Antikommunismus zu bekräftigen. Die Amerikaner wurden verehrt, denn ihnen hatte die Stadt während der Blockade durch die Sowjets ihr Überleben zu verdanken. Auf die Amerikaner ließ der Berliner nichts kommen.
Kein Wunder also, dass die Berliner auf die antiamerikanischen Demonstrationen, die Stürmung des Amerika-Hauses, die Verhöhnung und Beleidigung von Staatsgästen durch, wie sie fanden, langhaarige, linksextremistische Studenten gereizt und empört reagierten. Der SDS trieb unter Dutschke die Eskalation bewusst durch gezielte Regelverletzungen voran: vom sit-in und teach-in über die Besetzung von Universitätsinstituten bis zur Gewalt gegen Sachen und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die überforderten Beamten und Politiker, die völlig unvorbereitete, überreagierende Polizei trugen das Ihre zur Anheizung der Auseinandersetzungen bei, die mit dem Tod von Benno Ohnesorg im Juni 1967 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten.
Die Berliner Springerpresse hat mit ihrer polemischen und simplifizierenden Berichterstattung, die wahrscheinlich die damalige Mehrheitsmeinung der Berliner Bevölkerung wiedergab, sicherlich zur Verschärfung der Konfrontation beigetragen. Wer aber, wie ich, erlebt hat, mit welcher Skrupellosigkeit die SDS-Vertreter die "Charaktermasken" des Systems beleidigten und beschimpften, der wundert sich doch ein wenig über die Empfindlichkeit dieser Revolutionäre gegenüber grobschlächtiger Kritik.
Ich habe im Mai 1965 am OSI den ersten Vorlesungsstreik an der FU miterlebt, der vom SDS aus Protest gegen das Kuby-Veranstaltungsverbot des Rektors ausgerufen wurde. Durch die arrogante Selbstgewissheit der SDS-Matadore fühlte ich mich auf dieser Protestversammlung herausgefordert. Meine dort vorgetragene Kritik an dem Begriff und dem Sinn eines "Streiks" - schließlich seien Studenten keine Arbeitnehmer und ein Verzicht auf die Vorlesung schade nicht der Universität, sondern den Studenten, die dort etwas lernen wollten - wurde unter dem donnerndem Beifall der Versammelten als kleinbürgerliche Kritik eines autoritätsgläubigen Lakaien der Professoren abgetan. So begann meine Karriere als "Faschist". Arroganz, Intoleranz und aggressive Feindlichkeit gegenüber Andersdenkenden waren Wesenszüge dieser Bewegung, obwohl sie selbst doch die Intoleranz und Repression des "Systems" kritisierte. Im weiteren Verlauf dieser innerstudentischen Auseinandersetzungen zwischen linken und alternativen 68ern gewann ich den Eindruck, dass die immer schärferen Abwehrreaktionen auf unsere kritischen Einwände darauf zurückzuführen waren, dass die Linke den Verweis auf die Realitäten, auf Vernunft und Augenmaß deshalb so hasste, weil er ihre utopische und rücksichtslose Radikalität offen legte.
Aus meiner keineswegs vollständigen Auflistung von Merkmalen der deutschen Gesellschaft in den 1960er Jahren wird deutlich, wie radikal sich die deutsche Gesellschaft inzwischen geändert hat. Nach 1968 wurden Autoritäten und Regeln infrage gestellt, die NS-Vergangenheit nicht mehr tabuisiert, Sex offener diskutiert und praktiziert, denn schließlich gab es Oswalt Kolle und die Pille. Die Emanzipation der Frau wurde zu einem beherrschenden Thema. Unter dem Einfluss paralleler Veränderungen in den USA und in Großbritannien revolutionierten Rock 'n' Roll und Pop die Musik, lange Männerhaare wurden ebenso Mode wie Miniröcke und Schlabberlook, Drogenkonsum entwickelte sich zu einem Dauerproblem. Eine radikale Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems wurde nur in Deutschland durch den SDS angestrebt. Da war nichts von Flower Power zu spüren, aber viel von utopischer Heilsgewissheit und ernsthafter Arbeit für die Revolution.
Von seinen eigentlichen systemüberwindenden politischen Zielen hat der SDS kein einziges durchgesetzt. Im Nachhinein kann man den SDS - zugespitzt formuliert - als "nützlichen Idioten" des Systems bezeichnen, denn er hat es nicht, wie angestrebt, beseitigt, sondern gefestigt und wetterfest gemacht. Von einer politischen Neugründung der Bundesrepublik Deutschland durch den SDS oder die APO kann also keine Rede sein, wohl aber von einer Veränderung der Gesellschaft.