Die 68er: politische Verirrungen und gesellschaftliche Veränderungen
Politische Folgen von 1968
Durch die ernüchternde Erfahrung, dass in Deutschland keine revolutionäre Situation bestand und keine Revolution möglich war, begann zu Beginn der 1970er Jahre der Zerfall des SDS in die verschiedenen sektiererischen Splittergruppen, die sich untereinander spinnefeind waren und bis aufs Messer bekämpften. Die Entstehung der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) aus Teilen der studentischen Protestbewegung ist ohne diese nicht denkbar. Deshalb hat diese ziel- und sinnlose Mordorganisation, die den Rechtsstaat auf eine harte Probe stellte, auch noch so lange und so häufig Unterstützung durch frühere APO-Anhänger erfahren, die sich zur Solidarität verpflichtet fühlten, auch wenn sie die RAF ablehnten.
Die Grünen beschlossen auf ihrem Gründungsparteitag, dass ökologisch, basisdemokratisch, sozial und gewaltfrei ihre tragenden politischen Prinzipien seien. Diese Partei wurde politisch wesentlich durch die APO beeinflusst, weshalb sich auch viele ihrer früheren Aktivisten und die ehemaligen Mitglieder der radikal-sozialisischen Splittergruppen der Nach-APO-Zeit dort wiederfanden. Das Prinzip "ökologisch" war neu und wurde bald das politische Markenzeichen der Grünen, "sozial" war dagegen eine politische Pflichtübung und entwickelte bei ihnen keine besondere Wirksamkeit. Das Prinzip "basisdemokratisch" wurde direkt von der APO übernommen, die immer eine räte-, also direktdemokratische Willensbildung befürwortet hatte. Die Gewaltfreiheit - eigentlich für jede Partei eine nicht erwähnungsbedürftige programmatische Selbstverständlichkeit - wurde jedoch in bewusster Abgrenzung zu APO, SDS und RAF hervorgehoben. Auch die vom SDS erfolgreich angewandte Organisation von themenzentrierten, sprachlich zugespitzten politischen Kampagnen übernahm die grüne Partei; zum Beispiel bei Themen wie Volkszählung, Atomenergie, Atommüllentsorgung, NATO-Doppelbeschluss. Die anti-amerikanische Grundeinstellung der APO sowie die pazifistische der Friedensbewegung übernahm sie ebenfalls.

Sieht man von Che Guevara ab, zeigt die Verehrung all dieser rücksichtslosen und brutalen Diktatoren, mit welch wirklichkeitsblinder Nonchalance über Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen wurde, wenn der Diktator sich antikapitalistisch, sozialistisch und antiamerikanisch gebärdete. Die Kommilitonen in den osteuropäischen, kommunistischen Staaten haben ihren SDS-Genossen damals zu Recht bittere Vorwürfe gemacht, dass sie 1968 keinen flammenden Protest organisiert haben gegen die brutale militärische Niederschlagung des Prager Versuchs, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen. Der Protest gegen den Vietnamkrieg der USA war wichtiger.
Ein politisch wichtiges Ziel war für SDS und APO die radikale Umgestaltung des Bildungssystems. Eine neue Gesellschaft könne langfristig nur aufgebaut werden mit neuen, sich ihrer selbst bewussten Menschen, die sich der umfassenden Manipulation und Repression durch das System entzögen. Deshalb sei eine antiautoritäre, repressionsfreie Erziehung in Kindergarten, Schule, Familie und Hochschule so wichtig. Durch den Leistungsterror werde an den Schulen und Hochschulen der angepasste, autoritätsgläubige Fachidiot herangezüchtet, der im Sinne des Systems widerstandslos funktioniere. Deshalb sah es der SDS als seine wichtigste Aufgabe an, innerhalb des Bildungssystems die Autorität der Lehrer und Professoren infrage zu stellen, sie lächerlich zu machen und die Leistungsanforderungen und -kontrollen abzubauen. Mit der Reduzierung der Leistungsanforderungen im Bildungssystem ist die APO sehr weit gekommen. Die Aufgeschlossenheit einiger Länderregierungen gegenüber derartigen Ideen und die Verbeamtung ehemaliger 68er als Lehrer und Hochschullehrer beförderten diesen Prozess.
Aber für beinahe noch schwerwiegender als die Senkung der Leistungsanforderungen halte ich die Folgen der antiautoritären Erziehung für die Kinder und Jugendlichen. Dieses Erziehungskonzept wurde Ende der 1960er Jahre konsequent angewandt in den neu gegründeten Berliner Kinderläden. Jede Erziehung der Kinder zu Ordnung, Gehorsam, Rücksichtnahme und Gemeinschaftsgefühl war verpönt, weil man von der Annahme ausging, dass sich Kinder selbst am besten erziehen würden und daher jede Art von Vorgabe, Zwang oder gar Strafe schädlich sei. Bekanntlich ist dieses Konzept gescheitert, und viele der Kinder, die dieser Nichterziehung unterworfen waren, gehören zu den Opfern dieser Verirrungen. Die Frage, welche Folgen der Aufstand gegen die Gesellschaft und der Rückzug in die eigene Welt der extremistischen Gruppen, des Terrorismus, der Hausbesetzer, der Autonomen, der Drogenabhängigen für die betroffenen Personen selbst gehabt hat, wäre eine eigene Untersuchung wert.
Die Wirkungen der antiautoritären Erziehung auf die Kinder und Jugendlichen thematisiere ich deshalb, weil sie dazu geführt haben, dass ihnen von Seiten der verunsicherten Eltern und Lehrer gar keine oder nur noch wenige Grenzen aufgezeigt wurden. In Bezug auf Kleidung, Sex, Benehmen, Pünktlichkeit, Selbstdisziplin, Rücksichtnahme, Leistungswillen und Anerkennung von Autoritäten wurde von meiner Generation sicherlich zu viel, wurde aber von der nachfolgenden eher zu wenig verlangt.
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 14-15/2008)