Demokratie als Lebensform
Mein Achtundsechzig
68 sitzt wie ein Pfahl im Fleische der Gesellschaft, sagt der Soziologe Oskar Negt. Immer wieder würden die negativen Folgen von 68 betont und die Bewegung pauschal verurteilt. Dabei ist die Durchsetzung der Demokratie als Lebensform das bleibende Vermächtnis von damals.Wo ist der Anfang zu machen, wenn man sich ernsthaft darauf einlassen wollte, in der mittlerweile verwilderten Landschaft "Achtundsechzig", die mit jedem mediengesteuerten Rückerinnerungsdatum zusätzlich verdreht, perspektivisch verzerrt und retuschiert wird, einige Linien zu ziehen, die den Proportionen der damaligen Ideen und den heutigen Bewegungsabläufen zugleich gerecht werden? Ein Bild, das allen gefallen wird, kann es nicht geben. Jedes Urteil über diese Zeit wird anfechtbar sein; auch das meine. Aufrichtigkeit ist der einzige jedem zumutbare Leitfaden für eine Auseinandersetzung, die mit der Erinnerung dieser Zeit kritisch umgeht.
Jubiläen sind günstige Einstiegsmöglichkeiten zur öffentlichen Thematisierung von Fragestellungen, die weder zu umgehen noch mit allgemeiner Zustimmung zu beantworten sind. Dieses neue Jubiläum - vierzig Jahre Umgang mit Ereignissen, die nach jedem Jahrzehnt immer wieder in Erinnerung gerufen wurden, obwohl ihr Einfluss auf unsere Gesellschaft deutlich spürbar, aber kaum exakt zu bestimmen ist - hat einen ganz anderen Charakter als die Jubiläumsjahre, die wir gerade hinter uns haben: Kant, Einstein, Mozart, Adorno und viele der anderen. Plötzlich entsteht eine Atmosphäre, als hätten wir es mit der Aufarbeitung einer in ihren Zielen legitimen, in der Realität jedoch missglückten, ja abgebrochenen Revolution zu tun. Die Schuldzuschreibungen nehmen in der Tat Dimensionen an, dass ein Mensch, der vielleicht im Jahr 2068 Schriftdokumente aus diesen vierzig Jahren in die Hand bekommt, sich überwältigt zeigen müsste, um welche tiefgreifende Umbruchszeit es sich bei dem Symboldatum Achtundsechzig handeln muss.
Unsere Gesellschaft ist eine andere geworden. Sozialpsychologisch könnte man, nimmt man die Hass- und Verachtungsreaktionen, durchaus von einer kollektiven Paranoia sprechen, von einem Verfolgungswahn, der im Allgemeinen mit einer aggressiven Ausgrenzung alles fremdartig Erscheinenden beantwortet wird, in dem jedoch viel unbewältigt Eigenes enthalten ist. Deshalb eignet sich Achtundsechzig vorzüglich für die Bestätigung von Vorurteilen, für die Entlastung von eigenen Problemen, deren Arsenal die Öffentlichkeit seit vierzig Jahren angesammelt und von Zeit zu Zeit publik gemacht hat.

Als aktuelles Dokument jener Richtung, die Autoritätszerfall und Entwertung urbürgerlicher Tugenden wie Disziplin und Gehorsam Achtundsechzig zuschreibt, mag das Buch "Lob der Disziplin" des ehemaligen Leiters des Elite-Internats Schloss Salem, Bernhard Bueb, gelten. Nicht die Qualität des Buches selbst erfordert Aufmerksamkeit, es ist inzwischen einer vernichtenden wissenschaftlichen Kritik unterzogen worden. [1] Vielmehr ist es die schier unglaubliche Rezeption; innerhalb eines Jahres sind 14 Auflagen erschienen, mit hunderttausenden von Exemplaren, so als wäre hier eine ganz neue Idee von Erziehung im Schwange, etwa dem vergleichbar, was Anfang der 1970er Jahre Alexander Neill mit Summerhill vorgeschlagen hatte. In aller Unschuld und ohne Umschweife hält Bueb fest: "Einer auf Autorität beruhenden Pädagogik der frühen Nachkriegszeit folgte nach 1968 die Neigung, Erziehung bis in den letzten Winkel der Kinderzimmer zu demokratisieren."[2] Disziplinierung und, bei Regelbruch, empfindliche Strafen werden hier zum Kern pädagogischer Arbeit. Das passt gut ins Bild der Verschärfung des Jugendstrafrechts und zur Forderung mancher Politiker, auch die Zwölfjährigen mit Strafexpeditionen zu überziehen. Die Rechnung der Wahlstrategen, mit diesem Vorurteil auf Stimmenfang zu gehen, ist glücklicherweise nicht ganz aufgegangen.