Unterrichtsmaterialien und Arbeitsblätter
Konzeption der Unterrichtseinheit
M2: Eine Nachkriegs-Biographie in der Bundesrepublik

Der "Tag der Heimat" ist in Gerhards Familie sehr wichtig. Dabei wird der "guten alten Zeit" gedacht – vor der Nazi-Zeit. Wenn der Vater von Ordnung spricht, so schwingt immer ein wenig "Preußisches" mit: Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit. "Du könntest dir mal wieder die Haare schneiden lassen!", wie oft musste er das hören?
Zur moralischen "Sauberkeit" gehörte auch, dass über Sexualität überhaupt nicht gesprochen wird. Sie findet offiziell einfach nicht statt. Gerhard traut sich noch nicht einmal danach zu fragen. Am Sonntag besucht er die Kinder-, später die Erwachsenenkirche.
"Aus dem Jungen soll mal etwas besseres werden!", so besteht Gerhard 1955 die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium. In seiner Klasse ist kein einziges Arbeiterkind. Neben schulischen und familiären Pflichten, die u.a. aus Schuhe putzen, Geschirr abtrocknen, die Ölofen befüllen und aus Aufpassen auf die kleine Schwester besteht, bleibt Freizeit. Gerhard besucht die Jungschar, er betreibt im Sommer Leichtathletik, im Winter Turnen. Die restliche Zeit vertreibt er sich mit den Klassenkameraden in der Milchbar, die als besondere Attraktion eine Musicbox betreibt, die neben den deutschen Schlagern auch einige amerikanische Titel spielt. Musik wird immer wichtiger für Gerhard.
Ein ganz wichtiges Ereignis im Leben von Gerhard ist 1962 die erste Tanzstunde, doch der Weg, mit dem Mädchen seiner Wahl eine weitere Verabredung zu treffen ist kompliziert: nur im Anzug ist er korrekt bekleidet, er darf die "Angebetete" heimbegleiten, aber nicht mit aufs Zimmer. Für den gemeinsamen Abschlussball muss er sich bei den Eltern vorstellen – mit Anzug, Krawatte und Blumen für die Mutter.
Vom Schüleraustausch in England hat Gerhard neue Musik mitgebracht: von den langhaarigen Beatles und den "bad boys" der Rockmusik, den Rolling Stones, mit ihren aufrührerischen Texten. Zu Hause kommt es dadurch zum großen Streit. "Harte" Beats und lange Haare entsprechen nicht den Vorstellungen seiner Eltern. Schnell wird aus dem Kampf um die Lautstärke der Musik viel mehr. Es geht um jeden Zentimeter Haarlänge. Was seine Eltern ungehörig und schmutzig finden, findet er erstrebenswert. Eine ganz neue Welt tut sich auf.
1965 besteht Gerhard das Abitur, gefolgt vom Wehrdienst. Kaum einer in der Klasse verweigert und wenn, dann geht er nach Berlin oder studiert Theologie. 1967 beginnt Gerhard in Tübingen das Jura-Studium.
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§ 180 Kuppelei
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§ 175 Unzucht zwischen Männern
2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Missbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen,
3. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern zur Unzucht mißbrauchen lässt oder sich dazu anbietet,
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist der Versuch strafbar.
(3) bei allen Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht von Strafe absehen.
(Fassung des StGB vom 25. Juni 1969)
Noch immer herrscht Krieg in Vietnam. Seit 1963 sehen sich die USA einen immer intensiver geführten Krieg in Südostasien gegenüber, dessen moralische Berechtigung bei der amerikanischen und europäischen Jugend in Frage gestellt wird. Gerhard besucht das erste Mal in seinem Leben eine politische Veranstaltung, organisiert von Kommilitonen. Da plötzlich bricht die Nachricht in die Tübinger Idylle ein: "Benno Ohnsorg während einer Demonstration gegen den Schah von Polizisten mit Kopfschuss getötet."

Gerhard wird ein politischer Mensch.

Text: Harald Schneider und Hans Woidt