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Holocaust-Erziehung und Zeitzeugen

Wolfgang Meseth

/ 8 Minuten zu lesen

Die reale Begegnung mit Zeitzeugen ermöglicht einen Einblick in die alltäglichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Aber welche Rolle spielen Zeitzeugenberichte heute bei der Holocaust-Erziehung und wie kann man Zeitzeugen in den Unterricht integrieren? Wolfgang Meseth gibt Antworten.

66 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald legen ehemalige Häftlinge Blumen in Gedenken an die Opfer nieder. (© AP)

In den vergangenen Jahren haben sich Zeitzeugengespräche zu einem festen Bestandteil der schulischen und außerschulischen Behandlung der NS-Geschichte entwickelt. Ihnen wird ein besonderes kognitives und moralisches Lernpotential zugeschrieben. Die reale Begegnung mit Menschen aus der Zeit des Nationalsozialismus soll den Schülern einen Einblick in die alltäglichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik eröffnen, sie zur Empathie befähigen und für Menschenrechte und Toleranz sensibilisieren.

Wenn von Zeitzeugen die Rede ist, wird in der Regel davon ausgegangen, dass es sich um die Gruppe der Verfolgten des Nationalsozialismus handelt. Diese Annahme liegt nahe, weil die Bezeichnung "Zeitzeuge" in der deutschen Erinnerungskultur vorzugsweise für diese Gruppe reserviert ist. Viele Verfolgte wurden zu Zeugen vor Gericht oder legten – wie zum Beispiel Ruth Klüger, Victor Klemperer oder Primo Levi – literarische Zeugnisse ab. Die pädagogische Festlegung von Zeitzeugen auf die Gruppe der Verfolgten ist darüber hinaus eng mit dem gestiegenen Interesse an der Alltags- und Regionalgeschichte im Nationalsozialismus in den 1980er Jahren verbunden.

Die Hinwendung zu dokumentarischen Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden führte in der Pädagogik zu ersten Überlegungen, reale Begegnungen zwischen Zeitzeugen und Schülern in die pädagogische Arbeit einzubeziehen. Als Vorbild hierfür diente die Oral-History-Bewegung in den USA.

Sie ist als Teil des Selbstvergewisserungsprozesses der Bürgerrechtsbewegung entstanden, weil die Minderheiten mehr über die Wurzeln ihrer eigenen Geschichte erfahren wollten und wurde dann als politisches und pädagogisches Mittel zur Bildung kollektiver Identität weiterentwickelt. Bezugspunkt der Methode waren erzählte Lebensgeschichten, die den Zuhören als Identifikationsangebot dienen und ihnen das Gefühl von Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschichte geben sollten.

Die Grundsätze der Oral History wurden für die spezielle Situation der deutschen Erinnerungsgeschichte übersetzt und in das pädagogische Konzept des "Zeitzeugengesprächs" überführt. Seinen besonderen pädagogischen Wert erhält das Gespräch mit Zeitzeugen bis heute durch das Argument der Authentizität. Affektiv-moralische Erfahrungsmöglichkeiten sollen den Lernprozess der Schüler intensivieren und mit Blick auf die hohen Ziele einer Holocaust-Erziehung effektiver gestalten.

Aktuell wird über die pädagogische Bedeutung von Zeitzeugengesprächen auf verschiedenen Ebenen diskutiert: Zum einen wird der auf Wirkungssteigerung zielende Einsatz von Zeitzeugen aufgrund der offensichtlichen Instrumentalisierung der Betroffenen kritisch betrachtet. Zweitens wird die einseitige Festlegung von Zeitzeugen auf die Gruppe der Verfolgten problematisiert. Hingewiesen wird darauf, dass auch die Berichte von Zuschauern und Tätern des Nationalsozialismus ein wichtiges Lernpotential beinhalten. Ein dritter Aspekt liegt in der strukturellen Spannung zwischen der subjektiven Erinnerung der Zeitzeugen einerseits und dem Anspruch des Geschichtsunterrichts auf wissenschaftliche Objektivität. Viertens schließlich wird die soziale Tatsache reflektiert, dass mit dem zeitlichen Abstand zu den NS-Verbrechen die Möglichkeit von realen Begegnungen mit Zeitzeugen immer seltener wird und daher stärker über den Einsatz archivierter Zeitzeugenberichte nachgedacht werden muss.

"Authentizität" als pädagogisches Argument

Die Rede von der Authentizität, die Zeitzeugengesprächen im pädagogischen Kontext heute ihr spezielles Lernpotential verleiht, gehört seit den 1950er Jahren zu einem festen Bestandteil der Diskussion um die Darstellbarkeit des Holocaust. Theodor W. Adornos berühmtes Diktum, "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", hatte damals eine öffentliche Kontroverse über die Fragen ausgelöst, ob und wie die NS-Verbrechen angemessen dargestellt werden können, ohne die historischen Ereignisse zu trivialisieren und das millionenfache Leiden der Opfer zu schmälern.

Bis heute wirkt diese Diskussion in der deutschen Erinnerungskultur nach, wird jedes Repräsentationsbemühen der Verbrechen von einer Problematisierung begleitet und auf seine Angemessenheit befragt. Ausgenommen von dieser Problematisierung waren damals wie heute die Berichte von Zeitzeugen. Die Kategorie des Authentischen bleibt für sie reserviert. Aufgrund der besonderen Leidens- und Überwältigungserfahrung wird ihnen eine "Deutungsautorität" (Reemtsma) zugesprochen. Zeitzeugenberichte stehen zum einen für historisch verbürgtes Wissen über die Verbrechen. Zum anderen besitzen sie als einzige Darstellung des Holocaust uneingeschränkt Legitimität, weil sich mit ihnen das gleichsam natürliche Recht verbindet, dem eigenen Leiden Ausdruck zu verleihen. Zudem stehen sie mit ihrer Leidensgeschichte stellvertretend für das millionenfache Leid der ermordeten Opfer, die nicht mehr berichten können.

Die Mitteilung der eigenen Leidensgeschichte gilt ebenso wie das Zuhören und die Beschäftigung mit diesen Berichten als Akt des Gedenkens, der für sich selbst steht und zunächst keinen anderen Zweck verfolgt als den, in der erinnernden Auseinandersetzung mit dem Leiden die Würde der Opfer wiederherzustellen. Zugleich dient das Gedenken aber auch der Vergewisserung des Imperatives: dafür Sorge zu tragen, dass sich dieses Leiden zukünftig nicht wiederholt. Dadurch läuft die Praxis des Gedenkens immer Gefahr, ihren Selbstzweck zu Gunsten politischer und pädagogischer Gegenwartsinteressen aufzugeben. Gerade weil das Gedenken der Opfer nicht pädagogisch konzipiert ist, Holocaust-Erziehung jedoch notwendig gegenwartsbezogene Ziele verfolgt, steht sie bei Zeitzeugengesprächen vor dem Problem, die erinnernde Auseinandersetzung mit dem Leiden der Opfer aus den Augen zu verlieren und die Betroffenen – wenngleich in guter pädagogischer Absicht – einseitig als Mittel zum Zweck der Zivilisierung zu betrachten.

Zeitzeugengespräche mit Verfolgten des Nationalsozialismus

Eine zentrale Herausforderung bei der Durchführung von Zeitzeugengesprächen wird darin gesehen, den Zeitzeugen und den Schülern gleichermaßen gerecht zu werden. Es wird empfohlen, für den Erzählenden und die Zuhörer jeweils eigene Experten vorzusehen. Eine aufmerksame Gesprächsführung, das einfühlende Zuhören und die Fähigkeit, mögliche psychische und sozialpsychologische Dynamiken aufzufangen, die ein solches Gespräch auslösen kann, sind sinnvoll nur von einem Moderator zu erwarten, der sich von pädagogischen Fragen entlastet sieht. Für diese wiederum sollte der für die Gruppe zuständige Lehrer verantwortlich sein, der das Gespräch entsprechend vorbereitet, es im Hintergrund verfolgt und unter dem Eindruck der Erfahrung des Gespräches gemeinsam mit den Schülern nachbereitet. Noch idealer ist die Zusammenarbeit mit pädagogischen Einrichtungen, die Zeitzeugengespräche für Schulklassen anbieten. Der Vorteil solcher Angebote liegt darin, dass die Einrichtungen zumeist mit professionellen Moderatoren kooperieren und pädagogische Mitarbeiter die Begegnung im Vorfeld mit den Lehrern vorbereiten und im Anschluss auch ein erstes Nachgespräch mit den Schülern führen können.

Für das Zeitzeugengespräch mit Verfolgten bleibt zu betonen, dass der respektvolle Umgang mit dem Erzähler und die Fähigkeit des emphatischen Zuhörens einerseits selbstverständlich sein sollte, bei den Schülern allerdings nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Dadurch gerät das Zeitzeugengespräch in den Widerspruch, für eine angemessene Durchführung der Begegnung eine soziale Kompetenz in Anspruch nehmen zu müssen, die eigentlich als Lernziel formuliert wird.

Berichte von Zuschauern und Tätern des Nationalsozialismus als Lerngegenstand

Neben der erinnernden Beschäftigung mit den Berichten von Verfolgten des Nationalsozialismus wird in der pädagogischen Diskussion auch dafür plädiert, den Schülern die Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik auch aus der Perspektive der Entscheidungs- und Handlungssituation von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln. Durch die differenzierte Auseinandersetzung mit Berichten von Zuschauern und Tätern soll für die Schüler nachvollziehbar werden, wie das Handeln der Täter bzw. das Nichthandeln der Zuschauer andere Menschen zu Opfern gemacht hat und das nationalsozialistische Terrorsystem dadurch aktiv getragen und passiv geduldet wurde.

Während es in Zeitzeugengesprächen mit Verfolgten vorrangig um Empathie, das Gedenken der Opfer und die allgemeine Vergewisserung des Imperatives "Nie Wieder" geht, soll die Auseinandersetzung mit Berichten von Zuschauern und Tätern den Schülern konkrete Lern- bzw. Handlungsperspektiven eröffnen. Wie wurden Menschen zu Tätern? Warum haben nicht mehr Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung gegen die Ausgrenzungspolitik und -praxis der Nationalsozialisten protestiert? Hätte ich mich auch so verhalten? Wie lassen sich gesellschaftliche und individuelle Voraussetzungen schaffen, damit solche Verbrechen sich nicht wiederholen? In der Auseinandersetzung mit diesen und ähnliche Fragen sollen die Schüler die Handlungsspielräume der damaligen Bevölkerung aus dem konkreten historischen Kontext rekonstruieren lernen und zum Nachdenken über das eigene politische und öffentliche Engagements gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus angeregt werden.

Neben einer grundsätzlichen Befürwortung sind mit der Einbeziehung der Berichte von Zuschauern und Tätern auch pädagogische und didaktische Schwierigkeiten verbunden. So besteht bei realen Begegnungen mit Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft grundsätzlich die Gefahr, dass diese den Schülern ein problematisches Identifikationsangebot machen können, wenn sie selbst nicht genügend kritische Distanz zu ihrer damaligen Haltung wahren und sich ihrerseits zu Opfern des Nationalsozialismus machen. Um diese Identifikationsprozesse bereits im Rahmen des Gespräches zu durchbrechen, sind genaue Kenntnisse des je konkreten historischen Kontextes von besonderer Bedeutung, die seitens des Moderators, spätestens aber in der Nachbereitung durch den Lehrer in den Lernprozess eingebracht werden sollten. Unter anderem aus diesen Gründen wird von einer realen Begegnung mit Tätern des Nationalsozialismus abgeraten und auf den Einsatz von dokumentierten Erfahrungsberichten verwiesen, da mit ihnen die möglicherweise negative sozialpsychologische Dynamik eines solchen Gespräches vermieden wird.

Zeitzeugengespräche zwischen subjektiver Erinnerung und wissenschaftlicher Objektivität

Ein grundsätzliches Problem, das sowohl Zeitzeugengespräche mit Zuschauern als auch mit Verfolgten des Nationalsozialismus betrifft, ist die Differenz von subjektiver Erinnerung und objektiven historischen Fakten. Nicht selten weichen die von den Zeitzeugen eingebrachten Information über historische Ereignisse im Detail vom aktuellen Stand der historischen Forschung ab. Hier gerät insbesondere der Geschichtsunterricht in Widerspruch zu seinem Anspruch, wissenschaftliche Wahrheit einerseits und die moralischen Lernziele einer Holocaust-Erziehung andererseits zu erreichen.

Während in der Holocaust-Erziehung die Identitäts- und Gewissensbildung der Schüler im Vordergrund steht, zielt der Geschichtsunterricht vorrangig auf die Ausbildung propädeutischer Kompetenzen und eines reflektierten Geschichtsbewusstsein. Dort wo es aus Sicht der kognitiven Ansprüche des Geschichtsunterrichts notwendig wäre, korrigierend einzugreifen, kann es aus der normativen Perspektive einer Holocaust-Erziehung – aber auch aus Gründen des Taktes gegenüber dem Zeitzeugen – angebracht sein, sich einer korrigierenden Bewertung zu enthalten. Um den gleichwertigen und zugleich widersprüchlichen Lernerwartungen gerecht zu werden, ist neben der genauen Sachkenntnis vor allem ein grundsätzliches Problembewusstsein über die genannte Spannung in pädagogisch arrangierten Zeitzeugengesprächen notwendig.

Mit dem zeitlichen Abstand zu den NS-Verbrechen schwindet auch die Möglichkeit der mündlichen Weitergabe von Lebenserinnerungen. Für eine Holocaust-Erziehung bedeutet der vielzitierte Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, dass sie in naher Zukunft auf die reale Begegnung verzichten muss und auf videographierte Erinnerungsberichte und Memoiren von Überlebenden verwiesen bleibt. Berichte von Zeitzeugen erlangen damit den Status von historischen Quellen. Für deren Einsatz gilt die bekannte, aber keineswegs zu unterschätzende Fragen an jedes didaktisches Arrangement: Wie ist der historische Sachverhalt – in diesem Fall die Erfahrungsberichte von Menschen aus der Zeit des Nationalsozialismus – sachlich angemessen und zugleich in sinnvoller Abstimmung mit den Geschichtsbedürfnissen und -interessen der Schüler zu vermitteln? Die pädagogischen und didaktischen Konsequenzen, die aus der natürlichen Historisierung der NS-Verbrechen für eine Holocaust-Erziehung folgen, haben sich in den vergangenen Jahren bereits zu einem Bezugspunkt der Reflexion entwickelt. Zu erwarten ist, dass die bislang noch relativ lose geführte Diskussion in den nächsten Jahren eine weitere Systematisierung erfährt.

Quellen / Literatur

Assmann, J. (2000). Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck.

Elm, M. (2008): Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust. Berlin

Kößler, G. (2007): Gespaltenes Lauschen. Lehrkräfte und Zeitzeugen in Schulklassen. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, S. 176-191.

Krankenhagen, S. (2001): Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln u.a.

Reemtsma, J. P. (1998): Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts. In: ders.: Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Hamburg. S. 227-253.

Henke-Bockschatz, Gerhard (2004): Der "Holocaust" als Thema im Geschichtsunterricht. Kritische Anmerkungen. In: Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf (Hg): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt am Main, S. 298-322.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Gedenk- und Erinnerungspädagogik und politische Bildung in der Schule und an außerschulischen Lernorten.