Erinnerung ohne Zeugen
In den kommenden Jahren wird es keine Überlebenden des Holocaust mehr geben, die über ihre Erlebnisse berichten könnten. Aber sie hinterlassen ihre Zeugnisse in Büchern, auf Tonbändern und Filmen. Was bedeutet der Verlust der Zeitzeugen und wie wird sich die Erinnerungskultur verändern?
Seit nun gut zwanzig Jahren wird davon gesprochen, wie der Übergang der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust nach dem Ende der biografischen Zeugenschaft zu gestalten ist. Die Beunruhigung ist unter anderem ein Ausdruck davon, welch immense Bedeutung den Zeitzeugen für die Vermittlung von Zeitgeschichte zukommt. Die Entwicklung, die Augenzeugenberichte der Überlebenden des Holocaust in die Geschichtsschreibung einzubeziehen, setzte 1961 mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem ein. Schon damals hatten die Zeugenaussagen eine weit über den Strafprozess hinausreichende Bedeutung, was nicht unumstritten blieb [1].
Bedeutung der Zeitzeugen
Angesichts der erheblich verbesserten technischen Aufzeichnungs- und Archivierungsmedien mag die Besorgnis über den Verlust der unmittelbaren Zeitzeugen überraschen. Der Massenmord an den europäischen Juden ist jedoch ein Ereignis, das nicht nur Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist, sondern diese auch massiv verändert hat. Da die europäischen Juden systematisch verfolgt und ermordet wurden – gegen Ende des Krieges bemühten sich Sonderkommandos der SS sogar noch um die Beseitigung von Spuren des Verbrechens [2] – sind die Berichte der Überlebenden zu besonderen Quellen innerhalb der Erinnerungsgeschichte geworden.Ähnliches gilt für Zeugnisse von Angehörigen anderer Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Verfolgte, so genannte Asoziale, Zwangsarbeiter, rassisch oder religiös Verfolgte. Führende Historiker wie Saul Friedländer oder Yehuda Bauer haben Zeitzeugenberichte in ihre Darlegungen der NS-Geschichte aufgenommen, um bewusst subjektive Elemente und Informationen, die einem herkömmlich quellenkritischen Geschichtsverständnis nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen, verarbeiten zu können.
Erst die Stimmen der Opfer, die häufig nur durch Glück, Mut, Zufall und der Hilfeleistung einiger weniger überlebten, tragen zu einem umfassenden Verständnis dieser Epoche bei [3]. Mit dieser Bezugnahme auf Elemente der Oral History hat sich die Form der historischen Erinnerung selbst gewandelt.
Tradition der Zeugenschaft
Für ein Verständnis des zukünftigen Erinnerns ist die Kenntnis der Zeugenschaftstraditon von besonderer Bedeutung. Bekanntermaßen beziehen sich viele Überlebende des Holocaust in ihren Berichten auf die Pflicht, Zeugnis abzulegen. Diese Zeugnispflicht hat – insbesondere in der jüdischen Kultur – eine lange Geschichte. Welche Stellung können die Nachgeborenen in der intergenerationellen Tradierung einnehmen? Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat für die besondere Zeugenschaft der Holocaust-Überlebenden den Begriff des moralischen Zeugen geprägt [4].Der moralische Zeuge unterscheidet sich vom religiösen Zeugen, also etwa dem jüdisch-christlichen Märtyrer (gr. Martys/Zeuge) oder dem islamischen Shahid, dadurch, dass er nicht durch den Tod für die Existenz seines Gottes zeugt, sondern sein Überleben notwendige Voraussetzung des Zeugnisses ist. Der religiöse Zeuge braucht demnach einen weiteren, sekundären Zeugen, der seine Tat in der Welt bekundet. Eine verhängnisvolle Modernisierung der sekundären Zeugenschaft kann man in den Bekennervideos von Selbstmordattentätern beobachten sowie in der medialen Berichterstattung über solche Anschläge, die das Publikum zu Zeugen der Tat machen.
Der moralische Zeuge des Holocaust ist demgegenüber den Toten, sich selbst und einer zunächst unwissenden, häufig auch ungewissen Öffentlichkeit verpflichtet. Nach Margalit hat er das von einem ethisch Bösen verursachte Leid selbst erfahren und zielt mit seinem Zeugnis auf die Überwindung dieses Bösen in der Welt. Das unterscheidet ihn auch vom juristischen Zeugen, der vor Gericht möglichst unvoreingenommen zu sein hat, wie vom historischen Zeugen, der an der zu überbringenden Botschaft unbeteiligt erscheint [5].
Für eine ethische Betrachtung der Zeugenschaft des Holocaust folgt daraus, dass die Nachgeborenen nicht an die Stelle der moralischen Zeugen treten können, da sie das Leid nicht selbst erfahren haben. Vielmehr kommt es auf eine bewusste Wahrnehmung der generationellen Differenz an, die die Nachgeborenen als sekundäre Zeugen zu Grenzgängern einer Erfahrung macht, der sie sich qua Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft nur annähern können. Der Mitbegründer des Fortunoff Video Archive For Holocaust Testimonies, Geoffrey Hartman, hat dafür den Begriff des intellektuellen Zeugen geprägt [6]. Eine entsprechende Gefahr bei Missachtung der generationellen Differenz liegt in einer Überidentifikation mit den Überlebenden, die leicht ebenso in Ablehnung gegenüber der gesamten Thematik umschlagen kann.
Weiterführende Literatur
[1] Wieviorka, Annette (2000): Die Entstehung des Zeugen, in: Smith, Gary (Hrsg.), Hannah Arendt Revisited: "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen, Frankfurt a. M., S. 136–159.[2] Hoffmann, Jens (2008): »Das kann man nicht erzählen« "Aktion 1005" – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten, Konkret Literatur Verlag, Hamburg.
[3] Friedländer, Saul (2006): Das Dritte Reich und die Juden. Verfolgung und Vernichtung 1933-1945, bpb, Schriftenreihe Bd. 565, Bonn.; Bauer, Yehuda (2001): Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Reinterpretationen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
[4] Margalit, Avishai (2002): Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
[5] Assmann, Aleida (2007): "Vier Grundtypen der Zeugenschaft", in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Red.: Elm, Michael / Kößler, Gottfried, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York, S. 33-51.
[6] Hartman, Geoffrey (1999): Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Aufbau-Verlag, Berlin.