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Erinnern in Europa

Christoph Corneließen

/ 6 Minuten zu lesen

Der Holocaust ist in der europäischen Erinnerungskultur verankert. Aber kann man auch von einem gemeinsamen europäischen Gedächtnis sprechen? Welche nationalen Unterschiede gibt es?

Mahnmal auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Treblinka, Polen. (© Public Domain)

Schon seit mehr als zwei Jahrzehnten ist in vielen Gesellschaften Europas eine auffallend starke "Konjunktur des Gedächtnisses", teilweise sogar ein ausgesprochener Memory Boom zu beobachten. Meist standen hierbei der nationalsozialistische Völkermord sowie die Erinnerung an die deutsche Besatzungsherrschaft sowohl im Osten als auch im Westen Europas im Mittelpunkt eines breiten öffentlichen Interesses. Obwohl es sich hierbei um ein transnationales Phänomen handelt, behielten jedoch fast überall die nationalen Varianten der Gedenkkultur die Oberhand. Dass dies zunächst in den ersten Jahrzehnten nach 1945 gar nicht anders hatte sein können, wurzelt in den sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungen sowohl von Individuen, größeren sozialen Gruppen als auch ganzen Nationen. Schon bald darauf entfaltete jedoch ebenso die öffentliche Gedenkpraxis ihr eigenes Gewicht, so dass jeweils nationale Deutungen sich tief in den Erinnerungshaushalt der Nationen eingraben konnten. Ohne Zweifel war hierbei auch das bereits ältere Erbe aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wirksam, war doch schon in der Zwischenkriegszeit über die Schulen und eine immer weiter ausgreifende Nationalisierung der Erinnerungskulturen die entsprechende Richtung vorgezeichnet worden.

Ost-Westtrennung der Erinnerung nach 1945

Nach 1945 aber kam noch Weiteres hinzu: So sorgte die andauernde Ost-West-Spaltung Europas dafür, dass die Regierungen im Osten es lange Zeit vorzogen, im Signum des "Antifaschismus" Belastendes aus der eigenen Vergangenheit Richtung Westen zu verschieben. Aber auch im "Westen" waren weder die Regierungen noch die Bevölkerungen in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten dazu bereit, sich offenherzig mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Im Einzelfall konnte das eine sehr unterschiedliche Gestalt annehmen, aber doch überwogen fast überall das Verdrängen und das Vergessen. Obwohl bereits im Laufe der 1960er Jahre erste Risse in diesem homogenisierenden Gedenken auftraten, unter anderem, weil seit dieser Zeit die historische Täter- und Opferforschung ein differenzierteres Bild des Kriegsgeschehens wie auch des Holocaust zeichneten, schufen endgültig erst die weltpolitischen Umbrüche von 1989/90 und das Ende der Blockkonfrontation die Voraussetzungen dafür, dass die Europäisierung des Erinnerns auf die Agenda der Politik rücken konnte.

Europäisches Gedächtnis?

Auch vor dem Hintergrund des ständig laufenden Generationswandels sowie der inzwischen weit vorangeschrittenen politischen und wirtschaftlichen Integration der Europäischen Union ist in den letzten Jahren die Frage aufgeworfen worden, ob nicht die Begründung und Förderung eines "europäischen Gedächtnisses" notwendig sei. Ein wesentlicher Anstoß hierzu ging von den internationalen Feiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Europa aus. Endgültig aber erst mit der Stockholmer Internationalen Holocaust-Konferenz vom Januar 2000 rückte das Bemühen vieler Regierungen in den Vordergrund, den Völkermord an den Juden zu einem gemeinsamen, wenn auch negativen Hauptbezugspunkt der europäischen Erinnerungskultur auszuwählen. Seit dieser Zeit haben viele Mitglieder der Europäischen Union den Tag der Befreiung des Lagers Auschwitz am 27. Januar 1945 in ihren offiziellen Gedenkkalender aufge-nommen und zelebrieren alljährlich entsprechende Gedächtnisfeiern. Freilich hat sich bislang gezeigt, dass die Intensität dieses öffentlichen Gedenkens in den einzelnen Staaten sehr schwankt. Überdies hat sich in den letzten Jahren ein gedächtnispolitischer Streit insbesondere entlang der früheren Ost-West-Trennlinie Europas über die Frage eingestellt, welchen Stellenwert die politisch-kulturelle Erinnerung an die NS-Jahre im Vergleich zu der sowjetischen Hegemonialpolitik einnehmen sollte. Insbesondere aus Ostmitteleuropa, aber auch in den ostdeutschen Bundesländern ist immer wieder der mahnende Appell zu hören, den Opfern des sowjetisch angeführten Kommunismus im öffentlichen Gedenken einen ebenso würdigen Platz einzuräumen wie den Opfern der NS-Diktatur und NS-Besatzungsherrschaft .

Begriff und Bedeutung von Erinnerungskultur

Erinnerungskulturen sind also immer das Ergebnis konfliktreicher politischer und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Was aber ist überhaupt mit diesem Begriff gemeint? Im Grunde handelt es sich hierbei um einen erst seit den 1990er Jahren sowohl in die Wissenschafts- als auch allgemeine Sprache eingedrungenen Terminus, der zunehmend an die Stelle der älteren, vergleichsweise pathetisch konnotierten Formulierung "Vergangenheitsbewältigung" gerückt ist. In einer Definition des Münchner Historikers Hans-Günter Hockerts stellt "Erinnerungskultur" einen "lockeren Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte für die Öffentlichkeit" dar . Um jedoch der Dynamik von Erinnerungskulturen gerecht werden zu können, sollte man ergänzen: Erinnerungskulturen sind das Ergebnis von Aushandlungen in der Öffentlichkeit, die sich aus einem Spannungsfeld zwischen individueller Erfahrung und Erinnerung, politisch normierter sowie gesellschaftlich gewünschtem Gedenken und wissenschaftlich objektivierter Geschichte ergeben. Ein wesentliches Spannungsmoment ergibt sich hierbei daraus, dass die öffentlich sanktionierten Erinnerungspraktiken keineswegs immer oder sogar dauerhaft mit privaten Formen der Erinnerung überein-stimmen müssen. Im Gegenteil, die Tradierung von Vergangenheit über die Familie erzielt wegen der ihr eigenen emotionalen Seiten regelmäßig eine nachweisbar höhere Wirkungsmacht als öffentliche Gedächtnisfeiern oder die pädagogische Geschichtsvermittlung .

Erinnerungskulturen in Europa

Wenn man die gesamte Nachkriegsepoche seit 1945 in den Blick nimmt, lassen sich grob gesprochen drei Phasen der Erinnerungskultur in Europa voneinander unterscheiden. Paradigmatisch kennzeichnend für die erste Teilphase der Vergangenheitsbewältigung bis Mitte der 1960er Jahre war fast überall der starke Kontrast zwischen der Konkretheit der millionenfachen Kriegs-, Vernichtungs- und Verlusterfahrungen auf der einen Seite sowie ihrer sprachlichen Dekonkretisierung im öffentlichen Raum auf der anderen Seite. Was sich in der Bundesrepublik als Entkonkretisierung, Beschweigen, Vergessen oder sogar als Verdrängung äußerte, bei der allerdings nicht die normative Abgrenzung von der NS-Vergangenheit übersehen werden darf, weist zahlreiche Parallelen zu ähnlich gelagerten Entwicklungen im europäischen Ausland auf. So blieb in Frankreich die Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem Nationalsozialismus zunächst für weit länger als ein Jahrzehnt aus der französischen Erinnerungskultur ausgeblendet. Hier wie auch in den meisten anderen vormals von den deutschen Truppen besetzten Ländern traten letztlich deutliche Spannungen auf bei dem Versuch, einerseits die Vergangenheit zugunsten des nationalen Wiederaufbaus auszublenden und andererseits die "Helden" und "Opfer" zu würdigen, während gleichzeitig gegen die Kollaborateure, Faschisten und "eingeborenen" Antisemiten Prozesse geführt wurden. Diese Lage mündete in vielen Ländern nach dem Kriegsende in erinnerungspolitischen "Karenzzeiten" von rund ein bis zwei Jahrzehnten.

Vielfach gefördert von dem laufenden Wandel der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch aufgrund neuer Enthüllungen änderte sich die Zielrichtung der nationalen Erinnerungskulturen in Europa in der Zweiten Phase von Mitte der 1960er Jahre bis zum Ende der Ost-West-Blockkonfrontation erheblich. Während in der Bundesrepublik sich der zuvor stark selbstbezogene nationale Opferdiskurs allmählich auf einen Täterdiskurs verlagerte, was ebenfalls zu einem veränderten Umgang mit den ehemaligen Orten des NS-Terrors in vielen deutschen Städten und Gemeinden führte – Beispiele wären dafür die Eröffnung von Gedenkstätten auf dem Gelände der ehemaligen Konzentrationslager in Dachau und Bergen-Belsen, wurden gleichzeitig im westlichen Ausland überkommene Opfer-/Täter-Zweiteilung in Frage gestellt. Außerdem können wir beobachten, wie fast im gesamten europäischen Westen im Laufe der 1970er Jahre Fragen zur Kollaboration zwischen Besatzern und Besetzten sowie zum Antisemitismus der besetzten oder mit dem "Dritten Reich" alliierten Länder zu Themen mit breiter öffentlicher Resonanz aufrückten. Freilich blieben auch noch in dieser Phase viele Opfergruppen weiterhin aus dem nationalen Gedenkkult ausgeschlossen. Teilweise kam es sogar zu gegenläufigen Entwicklungen, erfuhr doch beispielsweise in Italien die nationale Widerstandsbewegung in der zweiten Phase eine politisch sanktionierte Überhöhung mit geradezu mythischen Bezügen.

Erinnerungskultur nach 1989

Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa und in der Deutschen Demokratischen Republik haben sich jedoch die Rahmenbedingungen für nationale Erinnerungskulturen in Europa erneut entscheidend gewandelt. Zu den sichtbaren Begleiterscheinungen des eingetretenen Umbruchs zählen seitdem das Schleifen und die Zerstörung zahlreicher Denkmäler sowie ihre Umgestaltung oder ihr Ersatz durch neue materielle Erinnerungszeichen. Zwangsläufig änderte sich ab 1989 ebenso die Gestaltung der politischen Inszenierung im Rahmen öffentlicher Erinnerungsfeiern.

Im Zuge dieser Entwicklung kam in Europa eine Universalisierung der Erinnerung an den Holocaust in Gang, deren Anfänge zwar bis in die 1970er Jahre zurückreichen, aber erst in der dritten Phase zum Mittelpunkt einer transnationalen europäischen Erinnerungskultur aufstiegen. Damit einher ging ein grundlegender Perspektivenwandel, der als ein sich beschleunigender Prozess einer Geschichtsbetrachtung aus der Opferperspektive verstanden werden kann. Ob in Gedenkfeiern, medialen oder auch historiographischen Darstellungen: Zunehmend werden die Opfer in das Zentrum gerückt, während in der Vergangenheit die nationalen Narrative meist die Figur des Helden bevorzugt hatten. Es handelt sich hierbei, so der französische Historiker Henry Rousso, um den bedeutsamen Übergang von einem politischen zu einem moralischen Muster der Vergangenheitsbetrachtung .

Obwohl hierüber eine Pluralisierung wie auch eine Universalisierung der Gedächtniskulte in Europa in Gang gekommen ist, darf eine solche Erweiterung der nationalen Gedenkdiskurse nicht zu einer beliebigen Homogenisierung der Erinnerungen führen. Denn die konkreten Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg bleiben nun einmal von Land zu Land, aber auch von Region zu Region, wie auch zwischen sozialen Gruppen, Generationen oder auch Geschlechtern ausgesprochen unterschiedlich. Davon kann und darf eine wie immer geartete "gesamteuropäische Erinnerungskultur" nicht absehen. Was allerdings zukünftig in die kulturellen Gedächtnisse der europäischen Gesellschaften eingeht, wird das Ergebnis der jetzt im Gang befindlichen Aushandlungen sein.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Christoph Corneließen ist Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Geschichte der deutschen und internationalen Historiographie, International vergleichende Erforschung von Erinnerungskulturen und die Geschichte Europas.