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Zur Zukunft der Erinnerung

Volkhard Knigge

/ 15 Minuten zu lesen

Volkhard Knigge plädiert für einen Abschied vom Paradigma der Erinnerung der moralischen Appelle, Pathosformeln und den gewohnten Formeln und Ritualen. Aber wie kann historisches Lernen der Zukunft aussehen?

Gedenktafel an die Deportation von jüdischen Menschen aus dem Grossraum Frankfurt am Main. Die Transportzüge wurden hier zwischen 1941 und 1945 zusammengestellt. (Dontworry) Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de

Die folgenden Überlegungen zur Zukunft der Erinnerung haben ein doppeltes Anliegen. Zum einen verstehen sie sich als rettende Kritik an Erinnerungskultur als gesellschaftlichem Projekt der selbstkritischen Verständigung über Geschichte, insbesondere über die Geschichte und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in Deutschland. Zum anderen skizzieren sie eine aus dieser Kritik hervorgehende Neuorientierung. Von Erinnerung bzw. Erinnerungskultur wird deshalb am Ende nicht mehr die Rede sein, wohl aber von reflektiertem Geschichtsbewusstsein als Ausgangspunkt für eine Zivilgeschichte der Zukunft.

Dass ein langjähriger Protagonist der institutionalisierten Erinnerungskultur für einen bewussten Abschied vom Paradigma der Erinnerung plädiert, mag auf den ersten Blick überraschen, gelten doch gerade die Verantwortlichen in Gedenkstätten in besonderer Weise als Sachwalter und Treuhänder von Erinnerung, als diejenigen, die Erinnerung wach halten und zukunftsfest machen. Allerdings könnte man bereits hier ins Stutzen kommen. Denn Erinnerung, so allgemein formuliert, verschleiert, dass Gedenkstätten nicht eine Erinnerung repräsentieren, sondern Kristallisationspunkt zahlreicher und keineswegs einheitlicher Erinnerungen sind. Überlebende der Lager haben ihre je eigenen Geschichten und Erfahrungen, die sich mit denen anderer Überlebender zwar berühren, kreuzen oder überschneiden können, die aber deshalb doch nicht identisch sind. Zudem haben Überlebende - wie alle Menschen - ihre Geschichten auf eigene, manchmal anderen ähnliche, aber nicht zwingend gleiche Weise verarbeitet und gedeutet wie auch im Licht neuer Erfahrungen oder veränderter Verhältnisse re-rekonstruiert und re-interpretiert.

Dass menschliches Erinnern bei aller Rückgebundenheit an Erfahrungen kein bloßes Widerspiegeln ist, sondern immer auch gegenwartsverhaftete und zukunftsgerichtete Konstruktion, ist eine Binsenweisheit. Wenn also Gedenkstätten Erinnerungen weitergeben, dann in dem Sinn, dass sie als gewichtigen Teil ihrer Arbeit erfahrungsgeschichtliche Zeugnisse sammeln, quellenkritisch aufbereitet dokumentieren und für die kritische Auseinandersetzung mit Staats- und Gesellschaftsverbrechen - gerade aus Sicht der Opfer - nutzen und zur Verfügung stellen. Dass mit quellenkritisch aufbereiteten, kontextualisierten erfahrungsgeschichtlichen Quellen empfindliche Lücken der Überlieferung geschlossen werden können und zu Opfern gemachte Menschen mittels ihrer Zeugenschaft zugleich ihren Subjektstatus zurückerobern und festigen, bedarf keiner Erklärung. Die Selbstgenügsamkeit von Erinnerung hingegen, ihre Abkopplung von geschichtswissenschaftlicher Forschung und methodisch fundierter Vernunft, ihre Transformation in unhinterfragbare historische Offenbarung hingegen ist entweder naiv oder bahnt politischen Religionen und deren hohen Priestern den Weg. Mit historischer Selbstverständigung und handlungsorientierender, kritischer historischer Selbstreflexion auf humane Gegenwart und Zukunft hin hat solches Erinnern nichts zu tun.

Der Umstand, dass es zu überraschen vermag, wenn ein Protagonist der öffentlichen Erinnerungskultur für einen bewussten Abschied vom Erinnerungsparadigma plädiert, um dessen historische Substanz zugleich zu bewahren, wird darüber hinaus durch die erhebliche Diskrepanz befördert, die zwischen moderner Gedenkstättenarbeit und einem Großteil öffentlicher Erinnerungskultur besteht. Denn im öffentlichen Diskurs wird Erinnerung zunehmend als moralisch aufgeladene, eher diffuse Pathosformel gebraucht, als sei Erinnerung als solche bereits der Königsweg zur Bildung von kritischem Geschichtsbewusstsein, als stehe Erinnern als solches bereits für gelingende Demokratie- und Menschenrechtserziehung. Aus dem Blick gerät dabei nicht zuletzt, dass historisches Erinnern in der Geschichte eher dem Gegenteil, nämlich immer wieder hoch aggressiven Zwecken, gedient hat und weiterhin dient, etwa in Gestalt der Verortung und Verstetigung von Feindbildern oder der Begründung und Anheizung angeblich ausstehender Rache und Revanche. Clashes of Memory lassen sich nicht nur in Post-Bürgerkriegsgesellschaften wie Spanien oder zerfallenen Staaten wie dem ehemaligen Jugoslawien beobachten, sie finden sich, wenn auch unterschiedlich aggressiv oder entzweiend, in allen Gesellschaften. Anders gesagt, Erinnern und Erinnerungen sind weder a priori friedfertig noch moralisch. Sie sind sich darüber hinaus zunächst selbst genug und deshalb als solche nur schwer - oder mit Macht - zu verallgemeinern. Sie zielen nicht automatisch auf historische Aufklärung, und auch die Addition von Erinnerungen bedeutet nicht zwangsläufig historisches Begreifen.

Die wegweisenden Neukonzeptionen der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR - wie Buchenwald oder Sachsenhausen - nach 1990 haben sich deshalb weniger an Konzepten von Erinnerung als vielmehr an erfahrungsorientiertem, forschenden Lernen orientiert, etwa an Konzepten partizipativer, niederschwelliger Museumsarbeit. In dieser Perspektive, die an vor allem in den 1980er Jahren geführte Diskussionen um Gedenkstätten als arbeitende Institutionen, als Lernorte anknüpfen konnte, gelten Gedenkstätten als geschichtswissenschaftlich fundierte Institutionen anwendungsbezogener Forschung und historischen Lernens, als Orte historisch-politischer, ethischer Bildung mit einem gewissen Andachtscharakter. Sie verstehen sich als zeithistorische Museen mit eigentümlichen, ihrer Geschichte als ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager entspringenden Eigenschaften, die sie bei aller Gemeinsamkeit von klassischen Geschichtsmuseen unterscheiden. Denn im Gegensatz zu diesen sind sie als Denkmale aus der Zeit sowohl Tat- und Leidensorte wie auch - konkret und symbolisch - Grabfelder und Friedhöfe. Zudem haben Gedenkstätten nach wie vor humanitäre Aufgaben. Auch wenn diese Merkmale historisches Lernen im engeren Sinn übersteigen und dessen Verbindung mit Gedenken ebenso einfordern wie ermöglichen, stehen sie zum Lernen an und aus der Geschichte nicht zwingend im Gegensatz. Vielmehr lassen sie sich mit solchem Lernen bereichernd verbinden: Denn die Verknüpfung von kognitiven und affektiven Zugängen zur Vergangenheit intensiviert Auseinandersetzungsprozesse. Schließlich braucht Gedenken Wissen. Mehr noch, mit dem endgültigen Schwinden direkter erfahrungsgeschichtlicher Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit kann Gedenken überhaupt erst aus nachträglich erarbeiteten Erkenntnissen folgen. Ohne solche reduziert es sich auf oberflächliche Rituale und vordergründige Betroffenheit oder verkommt gar zur gefühlig verbrämten (geschichts-)politischen Manipulation.

Befund

Das Erlöschen unmittelbarer Erfahrungsgeschichte in Bezug auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, populär gefasst als Abschied von den Zeitzeugen, intensiviert die Frage nach der Zukunft der Erinnerung. Zugleich droht dieser Abschied - der als Feststellung wie als Topos öffentlicher Rede eine bereits mindestens fünfzehnjährige Geschichte hat - aber auch, zukunftsrelevante Fragestellungen in Bezug auf demokratische Geschichtskultur und die Entwicklung reflektierten Geschichtsbewusstseins zu verstellen. Denn Abschied von der Erinnerung steht für mehr als die Herausforderung, Ersatz für "Lebensgeschichten als Argument" zu schaffen. Vielmehr bedarf es einer umfassenden begrifflichen und methodischen Weiterentwicklung historischen Lernens aus der Geschichte des extremen 20. Jahrhunderts, wenn die mit Erinnerung einmal gemeinten selbstkritischen, Geschichtsbewusstsein bildenden, Lebenspraxis orientierenden Impulse gewahrt und fortgeführt werden sollen.

Einerseits ist es gelungen, in der Bundesrepublik negatives Gedächtnis als staatlich geförderte, öffentliche Aufgabe zu etablieren und zu einer Ressource für demokratische Kultur und diese fundierende Lern- und Bildungsprozesse zu machen. Dieser Erfolg verdankt sich ganz wesentlich innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik ab Ende der 1950er Jahre um die NS-Vergangenheit und deren Nachwirkungen; Debatten und Auseinandersetzungen, die ab Ende der 1970er Jahre auch in die Gedenkstättenbewegung einmündeten. Diese Auseinandersetzungen - verstanden als gesellschaftlich folgenreiche, empirische, wissen-wollende und Rechenschaft fordernde Aufarbeitung der Vergangenheit - gingen dem Bildungsprojekt voraus oder begleiteten es, verliehen ihm unmittelbare Relevanz und praktisch nachvollziehbare Evidenz und Plausibilität. Erinnerung hatte in diesem Zusammenhang eine spezifische, vor allem an die Beteiligtengeneration gerichtete Bedeutung. Denn die Aufforderung, sich zu erinnern, wendete sich gegen das ubiquitäre Beschweigen und Ableugnen der NS-Verbrechen, stand gegen die hohle, aber hartnäckige Behauptung: Davon haben wir nichts gewusst. Erinnern hieß in diesem Kontext, sich und anderen die ganze Wirklichkeit des nationalsozialistischen Deutschlands einschließlich der eigenen Rolle darin einzugestehen und individuelle wie gesellschaftliche Konsequenzen zu ziehen. Dieser semantische, direkt mit der nationalsozialistischen Erfahrung verbundene Kern ist weitgehend in Vergessenheit geraten. An seine Stelle ist ein Erinnerungsbegriff getreten, der mit und in zugleich schiefer Adaption von Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte ein vor-, wenn nicht antimodernes Konzept des Umgangs mit Vergangenheit vorantreibt: Erinnerung als Identität und Gemeinschaft stiftendes Erzählen von Vergangenheit jenseits methodisch reflektierten, begrifflich bedachten Durcharbeitens.

Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als Überwindung ideologischer und gesellschaftlicher Kontinuitäten nach 1945, Aufarbeitung der Vergangenheit als gesellschaftliches Lernen durch damit verbundene Konflikte war im Kern ein generationelles Projekt; es ist als solches - auch auf Grund seines politischen Erfolgs - weitgehend zu Ende gegangen. Sein Ende bedeutet den eigentlichen Epochenschnitt und ist nicht weniger folgenreich als der Abschied von den unmittelbaren Zeugen. Mit letzteren gehen gewichtige Veto-Instanzen gegen politisch leichthändige Indienstnahmen und historisch wie moralisch schiefe Vergleiche oder unzulässige Verallgemeinerungen und Analogisierungen verloren. Mit letzteren schwinden Menschen, deren Geschichte in besonderer Weise berührt und mit denen Geschichte als lebendige Erfahrung in die Gegenwart hineinreichte und unmittelbare Anteilnahme und Auseinandersetzung einforderte.

Mit der Generation Aufarbeitung schwindet nicht nur der zentrale gesellschaftliche Akteur dieses Projekts, das Projekt selbst ändert seinen Aggregatzustand, ja, es hat ihn längst geändert. Diese Änderungen bleiben weitgehend ausgeblendet: zum einen auf Grund des Zeitzeugenbooms mit Beginn der 1990er Jahre, zum anderen durch die forcierte Entwicklung des Ausbaus der KZ-Gedenkstätten nach der Vereinigung der beiden Deutschlands 1990. Denn erst der unabweisliche Bedarf für eine Neukonzeption der an die Bundesrepublik übergegangenen ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR und die damit einhergehende staatliche Verpflichtung hat zur Sicherung und zum angemessenen Ausbau der KZ-Gedenkstätten in ihrer heutigen Form geführt. Der karge Ausbau von Gedenkstätten wie Dachau, Bergen-Belsen, Flossenbürg oder Neuengamme spricht eine deutliche Sprache: Waren in Buchenwald 1990 gegen einhundert Menschen beschäftigt, waren es in Dachau kaum fünf.

Jüngere erleben die Bundesrepublik zu Recht nicht mehr als praktische Aufarbeitung fordernde, postnationalsozialistische Gesellschaft. Kaum camouflierte nationalsozialistische Lehrer sind ihnen ebenso fremd wie das Fortwirken nationalsozialistisch geprägter Mentalität oder Elitenkontinuitäten vor und nach 1945. Eine zumeist von Älteren angemahnte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tritt ihnen überwiegend als Erinnerungsimperativ bzw. als institutionalisierte Praxis in Studium, Geschichtsunterricht, Gedenkstätten, Denkmalen und Gedenktagen entgegen und begegnet ihnen in Gestalt massenmedialer oder öffentlich habitualisierter Redundanzen und Kümmerformen wie etwa Gedenkstättenpflichtbesuchen, rhetorischen Codes, visuellen Klischees oder vordergründiger Symbolpolitik. Mit diesem Wandel verbunden sind Erosionen historischer Neugier und gleichsam unmittelbar gegebener lebensweltlicher Relevanz, aber auch Glaubwürdigkeitsdefizite und eine Verschiebung von der Zivilgesellschaft zu staatlichen Regulierungen von Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit - mit allen Vor- und Nachteilen. Christian Meier spricht bereits vom "Gedenkwesen".

Anders gesagt: Aus dem einstigen Vorhaben, mittels kritischer Selbstreflexion nationalsozialistischer Vorgeschichte mehr Demokratie und demokratische Haltungen praktisch zu erwirken, ist tendenziell ein von kritischer Selbstvergewisserung und transzendierender gesellschaftlicher Praxis abgekoppeltes Lehrvorhaben geworden: vergangenheitsgefärbtes, eher formales, auch scholastisches Demokratielernen. "Wer aus der Vergangenheit nicht lernt, versteht weder die Gegenwart, noch wird er die Zukunft bewältigen ..." - solche formelhaften Sätze zitieren zwar auch Jüngere gelegentlich gerne, aber es ist zu befürchten, dass sie dabei eher die hilflose Rhetorik der Älteren imitieren. Wie jedes Trockenschwimmen ist solch vergangenheitsgefärbtes Demokratielernen von Monotonie, Langeweile und dem Ruch der Folgenlosigkeit und Wirklichkeitsferne bedroht.

Mit diesem Wandel verbinden sich darüber hinaus nicht nur unzulänglich diskutierte didaktische und methodische Fragen, sondern das so verfasste Lernvorhaben trägt auch zunehmend kompensatorische bzw. affirmative Züge: kompensatorische Züge dort, wo es sich vornehmlich an demokratieferne oder demokratieabstinente Jugendliche als angeblich alleinigem Gefährdungspotential demokratischer Verhältnisse adressiert und die darüber hinausgehenden mentalen und strukturellen Gefährdungen demokratischer Gesellschaftlichkeit außer Acht lässt, etwa in Gestalt xenophober, antisemitischer oder (proto-)rassistischer Haltungen in der Mitte der Gesellschaft oder forciertem Sieger-Verlierer-Denken mit sozialdarwinistischer Grundierung. Affirmativ-teleologisch droht das vergangenheitsgefärbte Demokratielernen zudem dort zu werden, wo die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik spätestens mit der Vereinigung von 1989/90 als wesentlich abgeschlossen gilt, mit der Konsequenz, dass nur mehr der Status quo zu festigen sei. Das ist gleichsam die bundesrepublikanische Variante eines selbstgenügsamen Post-Histoire, das Lernen aus der Geschichte als obsolet erscheinen lässt bzw. entsprechende Aufforderungen in das schiefe Licht in sich widersprüchlicher Double-Bind-Kommunikation taucht.

Wohin das führt, lehren die Geschichte der DDR und die SED-Geschichtspolitik. Noch 1989 veranlasste die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald eine Jugendstudie zur Wirkung ihrer Arbeit. Angestoßen worden war sie durch die nicht mehr zu übergehende alltägliche Erfahrung, junge Menschen kaum mehr zu erreichen. Die nie zur Veröffentlichung vorgesehene Untersuchung erbrachte drei Befunde, die uns warnen sollten. Zum einen verwies sie auf den Verschleiß der immer gleichen Formeln und Rituale und damit indirekt auch auf den Zusammenhang zwischen mehr oder minder deutlich eingeforderten (Lippen-)Bekenntnissen und Desinteresse. Zum anderen machte sie die Folgen eindimensionaler, unkritischer staatlicher Selbstpositivierung in Verbindung mit geschichtsteleologischer Zwangsläufigkeit deutlich. Warum sollen wir uns, fragten sich jüngere Gedenkstättenbesucher nämlich, diese Geschichte überhaupt etwas angehen lassen, wenn die "Wurzeln des Faschismus" in unserem Land bereits ein für alle mal ausgerottet worden sind, faschistische Gefahr nur noch im Anderswo, im Westen, droht und der Sieg des Kommunismus geschichtsgesetzlich verbürgt ist? Warum und wofür sollte man unter solchen Voraussetzungen überhaupt aus der Geschichte lernen und Verantwortung für ihre Entwicklung übernehmen?

Den hier umrissenen Verschiebungen entspricht die schleichende Transformation kritischer historischer Selbstreflexion in Gedächtnis- bzw. Identitätspolitik seit Mitte der 1980er Jahre. Sollten mit Gedächtnis- und Identitätspolitik zunächst vor allem Vertrautheitsschwund und Entheimatungserfahrungen im Prozess technisch beschleunigter Moderne durch Rückgriff auf symbolisch bewahrte Traditionen und die kulturelle Revitalisierung von Erinnerungsorten, Geschichtsbildern oder Mythen symbolisch nur mehr kompensiert werden, haben sie darüber hinaus mit der deutschen Vereinigung zunehmend nationale Züge und Funktionen angenommen. Zu den Folgen gehören eine Entkopplung von kritischer Geschichtswissenschaft und Gedächtnisformierung, die vormoderne Mythisierung von Geschichte als Summe individueller Erlebnisse und Erinnerungen, die Behauptung eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen a priori kalter, unauthentischer Geschichtsschreibung und a priori authentischer Zeitzeugenschaft, das Verschleifen der Grenzen von Erinnerungskultur und -politik, die tendenzielle Reduktion von Erinnerungskultur auf historisch entkernte Pietät jenseits empirisch gehaltvoller Auseinandersetzung mit den Ursachen von Staats- und Gesellschaftsverbrechen als dem Kern präventiver Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und schließlich die Fokussierung auf bloße Abstandsermessung zwischen Damals und Heute, nicht aber deren reflexive Verknüpfung und Analyse. Lernen an negativer Vergangenheit reduziert sich schnell auf moralische Appelle, überhistorisches Existentialisieren bzw. Anthropologisieren - Welt und Menschen sind und waren immer schon schlecht - oder die Akklamation von Bürger- und Menschenrechten im gleichsam luftleeren Raum. Nicht zuletzt aber entschwindet ein empirisch gehaltvolles, reflektiertes Bewusstsein der Verzahnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So wie die Gegenwart meint, sich von der Vergangenheit umfassend distanzieren zu können, schafft sie Zukunft jenseits technischen Wandels und funktionaler Modernisierung gleichsam ab. Lernen aus der Geschichte wird zum Glasperlenspiel.

Dabei muss nicht zuletzt verwundern, wie unbedacht einer Kollektivierung von Erinnerungen im Namen des antitotalitären Konsenses das Wort geredet wird, geradezu so, als gehörte nicht gerade die Uniformierung noch des Innersten und Subjektivsten zu den von George Orwell in seiner totalitarismuskritischen negativen Utopie "1984" beschriebenen Alpträumen. Insofern Erinnerungen in unaustauschbaren Erfahrungen gründen, lassen sie sich, ohne diesen Erfahrungen Gewalt anzutun, eben gerade nicht kollektivieren. Statt Erinnerungskollektive zu behaupten, sie also rhetorisch, sozial oder politisch zu konstruieren, ließe sich vernünftigerweise nur nach überindividuellen Rahmenbedingungen für historische Erinnerungen und Sinnbildungen als Anknüpfungspunkte für subjektverbundenes und zugleich transpersonalen Geschichtsbewusstsein fragen.

Perspektiven

Hier muss ansetzen, wer Erinnerung - verstanden als Metapher für die kritische, handlungsorientierte Auseinandersetzung mit den negativen Horizonten eigener Geschichte - bewahren will. An die Stelle des leerlaufenden Erinnerungsimperativs tritt die Bildung reflektierten Geschichtsbewusstseins als Resultat begreifen wollender Auseinandersetzung sowohl mit Quellen und Überresten, als auch - an sie rückgekoppeltem - Durcharbeiten historischer Erinnerungen. Zukunft gewinnt Erinnerung nicht durch Erinnerungsübertragung, sondern durch ihre Erschließung als historische Quelle und als Lerngegenstand. Reflektiertem Geschichtsbewusstsein wird Erinnerung selbst historisch verstehens- und deutungsbedürftig.

Geschichtsbewusstsein in diesem Sinn begreift die extreme Geschichte des 20. Jahrhunderts als unermessliches Reservoir für eine ebenso plastische wie konkrete Auseinandersetzung mit allen Formen politisch, gesellschaftlich und kulturell verursachter Menschenfeindlichkeit, ihren Keimformen und ihren Folgen. Umgekehrt fragt die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte aber auch - nicht zuletzt mit Blick auf die Zeit ab 1945 - nach aus solchen Erfahrungen gewachsenen Konzepten und Praktiken politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegenhandelns, dessen Begründung, Umsetzung und auch Institutionalisierung - etwa in Formen des Rechts oder der historisch-politischen Bildung -, national wie transnational. Ihr Gegenstand ist nicht die Vergangenheit als solche, sondern die daran genährte Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft.

Um diese Zivilgeschichte zu entfalten und mitzugestalten, bedarf es ebenso der Suche nach Zukunft in der Vergangenheit wie der antizipierenden Auseinandersetzung mit technologisch, politisch, soziokulturell oder ökonomisch generierten Gefährdungen menschlicher Zukunft. Ursachenforschung wie die Ermittlung von Alternativen und Gegenkonzepten greift dabei notwendig deutlich über das 20. Jahrhundert hinaus, und zwar sowohl im Sinne einer Archäologie des individuell und überindividuell Inhumanen und seiner Bedingungen wie der Spuren liegengebliebener, uneingelöster, verhinderter oder enteigneter Zivilität in der Geschichte, verstanden etwa als Verbürgung leiblicher Unversehrtheit, eines menschenwürdigen Lebens, der solidarischen Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen oder der Verpflichtung zu gewaltfreier Konfliktaustragung. Einen frühen Bundesgenossen findet solche Auseinandersetzung mit Geschichte in Montaigne, der unter dem Eindruck der verheerenden Religionskriege seiner Zeit den Kern solchen historischen Lernens umrissen hat: "Ich (...) lerne von Gegenbeispielen mehr als von Beispielen, und weniger durch Nachvollziehen als durch Fliehen. (...) Meine Abscheu vor Grausamkeit zieht mich stärker zur Barmherzigkeit hin, als es deren leuchtendste Vorbilder je bewirken könnten. Was sticht, berührt uns tiefer und macht uns wacher, als was uns streichelt. Die jetzige Zeit vermag uns nur durch ihre Abkehr von ihr zu bessern: durch Nichtanpassung mehr als durch Anpassung, durch Widerspruch mehr als durch Zustimmung."

Erschließung und Entwicklung solcher Zivilgeschichte zielen auf die Bildung einer geschichtsbewussten citoyenneté (aktive Bürgerschaft) durch Aneignung und Bearbeitung historischer Erfahrungen und Handlungsfolgen. Insofern unterscheiden sie sich sowohl vom bloßen Einlernen formaler demokratischer Strukturen wie von historisch entkonkretisierten Verpflichtungen auf abstrakte Moral. Vielmehr fußen auch universelle Konsequenzen, etwa die Verpflichtung auf Bürger- und Menschenrechte, im historisch Besonderen, Plastisch-Anschaulichem und transzendieren es gerade dadurch. Von überkommenen, romantischen Vorstellungen einer naturhaft-emanzipatorischen Kraft der Geschichte, insbesondere einer Geschichte "von unten", unterscheidet sich solche Zivilgeschichte insofern, als sie ohne geschichtsteleologische Illusionen auf allen Ebenen des Politischen, Sozialen und Kulturellen nach Ansätzen und uneingelösten Potentialen für Zivilität sucht und kein apriorisches historisches Subjekt postuliert, das allein zu solcher citoyenneté fähig wäre. Die etablierten Formen des Gedächtnisses sind ihr Bezugs- und Orientierungspunkte; aber nicht im Sinne fixierter Traditionen oder ewig gültiger Repräsentationen sondern im Sinne von zeitgebundenen Deckerinnerungen, die auch auf ihre vorbewussten, latenten Gehalte mitbefragt und dadurch gleichsam wieder verflüssigt werden müssten, auch auf lebensweltliche Erfahrungen und Anschlussmöglichkeiten in der Gegenwart hin.

Nimmt man - um einen Gegenstandsbereich zu wählen - mit dem Nationalsozialismus verbundene Kernerfahrungen und Handlungsfolgen ernst, dann zeichnen sich beispielsweise als Arbeitsfelder einer solchen Zivilgeschichte folgende ab: politische und soziokulturelle Formen der Stabilisierung bzw. Destabilisierung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch; die gesellschaftliche Verursachung von Angst, deren Folgen und Überwindung; Würde, Selbstachtung und Partizipation; Strukturen und Dynamik sozialer und kultureller Exklusion und Inklusion; Vertrauen und Gewalt. Im Blick auf den Stalinismus ließe sich unter anderem als Arbeitsfeld der Zusammenhang von diskursiver Konfliktaustragungsunfähigkeit und Gewalt als Medium gesellschaftlicher Entwicklung und Steuerung hinzufügen.

Allerdings fände die Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft ihre Gegenstände nicht nur in den beiden zentralen, weil folgenreichsten Diktaturgeschichten des 20. Jahrhunderts, der deutschen und der sowjetisch-russischen. Die Unrechts- und Gewaltgeschichte geht in diesen nicht auf. Deshalb operiert eine Geschichte der Zivilität mit potentiell offenem, nationalgeschichtlich nicht eingeschränktem Untersuchungshorizont, schlägt aber nicht alles über einen Leisten und bleibt historischer Konkretion und dem jeweils Besonderen, Spezifischen der einzelnen Geschichten verpflichtet. Denn erst die uneingeschränkte, selbstkritische Anerkennung und Auseinandersetzung mit inhumaner Gesittung und menschenfeindlicher Praxis in der eigenen Geschichte nährt Zivilität und demokratische Kultur nachhaltig. Erst sie erlauben die glaubwürdige, anteilnehmende Öffnung auf die Verhältnisse und Erfahrungen Anderer hin.

Die empirisch gehaltvolle Bearbeitung von Themenfeldern wie den oben genannten in Verbindung mit Gegenwarts- und Zukunftsfragen diente nicht nur der Gewinnung von Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungskompetenzen, sondern zielte durch sie hindurch auf die Historizität - und damit Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit - eigenen Lebens. Zugespitzt formuliert, gegen verbreitete Gefühle der Nichtigkeit, des Überflüssig- und Abgehängtseins ginge es nicht zuletzt darum, Lebensgeschichten - im Sinne kultureller Vergesellschaftung und Inklusion - die Rückkopplung an Geschichte zu ermöglichen; nicht zuletzt im Sinne nachträglicher Erwirkung von Subjektivität und reflexiver Identität als Voraussetzungen solidarischer Bewältigung - bzw. Vermeidung - entgleisender Geschichte im Zeitalter der Globalisierung. Zivilgeschichte der Zukunft in diesem Sinne fände, wie gesagt, essentielle Anstöße in nationaler Geschichte, ginge in dieser aber notwendig nicht auf. Sie hätte nicht nur eine inhaltliche Seite, sondern fundierte sich zugleich in methodischen Kompetenzen des kritisch-rationalen Umgangs mit Überlieferung. Sie überschritte das rein Kognitive durch die Ausbildung überlieferungsverbundener historischer Vorstellungskraft als Voraussetzung konkreter Empathie und uneingeschränkter Mitmenschlichkeit, verstanden als Bewahrung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25-26/2010)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die in der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten zusammengeschlossenen großen Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland haben ein entsprechendes Selbstverständnis im November 1997 veröffentlicht. Es hat im Jahr 2000 Eingang in die Gedenkstättenförderkonzeption des Bundes gefunden.

  2. Der Topos findet sich bereits 1995 im Zusammenhang mit den fünfzigsten Jahrestagen der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager.

  3. Negatives Gedenken - den Inhalten, nicht den Zielen nach - meint die Bewahrung eines öffentlichen, selbstkritischen Gedächtnisses an von den Eigenen an Anderen begangenen Staats- bzw. Gesellschaftsverbrechen und die damit verbundene Verantwortungsübernahme einschließlich des Ziehens praktischer Konsequenzen.

  4. "Generation" ist hier eher metaphorisch gemeint. Weder handelt es sich um eine, noch soll behauptet werden, dass alle jeweiligen Mitglieder sich das Projekt Aufarbeitung zu eigen gemacht hätten. Als Metapher zielt der Begriff auf eine Gemeinsamkeit der Beteiligten: ihre erfahrungsgeschichtliche Verbindung mit dem Nationalsozialismus, seinen Aus- bzw. Nachwirkungen.

  5. Christian Meier, Zum deutschen Gedenkwesen, in: Norbert Lammert (Hrsg.), Erinnerungskultur, Sankt Augustin 2004, S. 21-42.

  6. Vgl. Wilfried Schubarth, Historisches Bewußtsein und historische Bildung in der DDR zwischen Anspruch und Realität, in: Werner Henning/Walter Friedrich (Hrsg.), Jugend in der DDR. Daten und Ergebnisse der Jugendforschung vor der Wende, Weinheim-München 1991, insbes. S. 27ff.

  7. So insbes. Hermann Lübbe und Odo Marquard.

  8. Michel de Montaigne, Essais. Drittes Buch, Frankfurt/M. 1998, S. 462.

  9. Im Gegensatz zu zugeschriebener, über traditionale oder anders vorgegebene Identifikationsmuster einbahnstraßenartig gebildete, starre, auf politische Orthopädien gegründete Identität.

Weitere Inhalte

Volkhard Knigge ist Honorarprofessor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.