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Herrschaft und Verwaltung

Andreas Eckert

/ 8 Minuten zu lesen

Der koloniale Staat war zugleich rational und absurd, gewalttätig und ohnmächtig. Insofern spiegelte sich in ihm das Wesen des Kolonialismus: die ambivalente Beziehung zwischen emanzipatorischem Diskurs einerseits und der Herrschaft von Gewalt, Zwangsarbeit und Rassismus andererseits.

General Charles de Gaulles, späterer französischer Staatspräsident, eröffnet 1944 in Brazzaville im Kongo eine Kolonialkonferenz. Wie sollte das Verhältnis zwischen dem europäischen Mutterland und den französischen Kolonien aussehen? Die Konferenz legte den Grundstein für die französische Union nach Vorbild des britischen Commonwealth. (© picture-alliance / Everett Colle)

Kolonialismus ist, folgen wir der eingängigen Definition des Historikers Jürgen Osterhammel, "eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden." Wenn wir über Herrschaft und Verwaltung im Kolonialismus nachdenken, müssen wir zunächst den kolonialen Staat in den Blick nehmen. Zu den folgenschwersten Wirkungen des Kolonialismus gehört, dass er zur Universalisierung des europäischen Staatskonzeptes beitrug. Statistisch gesehen war der moderne europäische Staat, wie er sich im Interner Link: "langen" 19. Jahrhundert herausgebildet hat, nämlich ein "Exportschlager" (Wolfgang Reinhard). Es gibt derzeit knapp 200 Staaten auf der Welt, die sich am europäischen Modell orientieren, zu dem neben der inneren und äußeren Souveränität die Einheitlichkeit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt gehören.

Die Ausbreitung von Staatlichkeit

Im Verlauf der europäischen Expansion hat die staatliche Herrschaft eine bemerkenswerte Vielgestaltigkeit angenommen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich die Ausbreitung von Staatlichkeit nicht als Einbahnstraße vorzustellen. In den Kolonien aufgebaute und praktizierte Verwaltungsordnungen konnten als Modell für Europa wirken. Der Organisationsgrad des spanischen Kolonialstaates im 16. Jahrhundert etwa war wesentlich komplexer als entsprechende Formen auf der iberischen Halbinsel und hat wichtige Impulse für die Bürokratisierung im „Mutterland“ gegeben. Der Indian Civil Service war wichtiges Vorbild beim Ausbau des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Nation als Folge antikolonialer Bewegungen

Der koloniale Staat setzte überall das Territorialprinzip durch und legte Staatsgrenzen fest. Er war jedoch kein Nationalstaat. Die Idee der Nation entstand erst in den antikolonialen Bewegungen. Am Ende der Kolonialzeit bildeten sich auf diese Weise Nationalstaaten ohne gewachsene Nationen. Die nationale Unabhängigkeit war also nicht das Resultat eines Bewusstseins nationaler Identität und Einheit, sondern ging diesem voraus. Sie führte in den unabhängigen Staaten zu diversen, etwa ethnisch-religiösen Konflikten.

Der koloniale Staat zwischen Stärke und Schwäche

Interpretationen kolonialer Herrschaft bewegten sich lange zwischen zwei Polen. Einige Autoren betonen die Stärke und unwiderstehliche Hegemonie des kolonialen Staates und zeichnen ihn als eine Art „intelligenten Bulldozer“, als ein machtvolles Instrument politischer Herrschaft und struktureller Transformation. Andererseits etablierte sich eine Sichtweise, welche die Schwäche des kolonialen Staates unterstrich. Er sei mit mangelhaften Ressourcen ausgestattet gewesen, charakterisiert durch seine äußerst begrenzte Durchsetzungsfähigkeit, ständig lavierend zwischen massiver Bedrohung der lokalen Bevölkerung und Kooptations- und Kooperationsangeboten an einheimische Mittler.

Für beide Sichtweisen lassen sich empirische Belege finden. Denn der koloniale Staat war zugleich rational und absurd, gewalttätig und ohnmächtig. Er trat in einer Vielzahl administrativer Formen auf. Kolonialismus war zunächst, wie der Soziologe Trutz von Trotha schrieb, "vor allem eine Herrschaftsutopie, die Utopie, staatliche Herrschaft in den eroberten Gebieten zu verwirklichen". Die Utopie manifestierte sich etwa in Asien über einen längeren Zeitraum in Gestalt von privaten, zunehmend unter Kontrolle von Regierungen und gegebenenfalls Parlamenten im "Mutterland" gestellten Handelsgesellschaften mit komplexen Verwaltungsstrukturen: die East India Company sowie die Niederländische Ostindien-Kompanie.

Die Utopie des rationalen Staates

Diese Gesellschaften machten schließlich Platz für den Versuch, das Modell des bürokratischen Verwaltungsstaates auch in die kolonisierten Gebiete zu tragen. Auf staatliche und bürokratische Traditionen, derer sich das "europäische Modell" bedienen konnte, vermochte die koloniale Expansion in sehr unterschiedlichem Maße zurückzugreifen. Der koloniale Staat hatte zwei zentrale Aufgaben zu leisten: die Kontrolle über die unterworfenen Gesellschaften zu sichern sowie Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Nutzung der Kolonie zu schaffen. In den Kolonien blieb das Ideal des rationalen Staates mit Gebietsherrschaft, Gewaltmonopol, Steuern und schriftlich fixierten Gesetzen indes in großen Teilen eine Herrschaftsutopie, die gleichwohl beträchtliche Wirkungsmacht entfaltete, denn sie lief auf eine radikale Umwälzung der eroberten Ordnungen heraus.

Selektiver Terror und technische Überlegenheit

Der direkte Zugriff auf den Einzelnen gelang in der Folge nur selten. Institutionen und Funktionen des modernen Staates waren lediglich einer Minderheit zugänglich und erreichten umgekehrt die kolonisierte Bevölkerung kaum in einem "durchrationalisierten" Sinne. Keine der europäischen Kolonialmächte verfügte bei der Eroberung kolonialer Territorien über eine unwiderstehliche Macht und Überlegenheit. Eine Strategie der Kolonialherren, mit den Grenzen ihrer Macht umzugehen, bestand in der Politik des selektiven Terrors und der Vorführung der technischen Überlegenheit. Der europäische Anspruch auf das Gewaltmonopol brachte erst einmal die Gewalt hervor, die er zu beseitigen beanspruchte. Vor allem die ersten Dekaden der Kolonialherrschaft waren insbesondere durch punktuelle Exzesse extremer Gewalt gekennzeichnet. Massaker, sogenannte Strafexpeditionen, das Abbrennen der Siedlungen von Dorfgemeinschaften, die als "widerständig" galten oder sich weigerten, Steuern zu zahlen sowie extrem harte Gerichtsurteile gegen Einheimische charakterisierten das Repertoire der Kolonialherren. Massaker oder deren Androhung standen typischerweise am Anfang der kolonialen Eroberung, aber sie waren auch im weiteren Verlauf fester Bestandteil kolonialer Politik.

Der koloniale Wunsch nach Kontrolle und Überwachung

Vor allem in Indien haben Kolonialbeamte jenen Institutionen große Bedeutung beigemessen, die das kolonisierte Subjekt in Beziehung zum Staat definiert haben: Zensus, Kataster und allgemein die Produktion von Wissen, das eine „Bevölkerung“ klassifiziert und dazu benutzt werden kann, Überwachung auszuüben und sozialen Wandel einzuleiten. Dass Indien für die Ausarbeitung von Kontrollsystemen ein wichtiges Laboratorium darstellte, lässt sich etwa daran ablesen, dass das Verfahren des Fingerabdrucks zur Feststellung der Identität erstmals um 1880 in Bengalen systematisch in die Praxis umgesetzt wurde. Das Sammeln von Informationen zum Zwecke der Kontrolle der Kolonisierten ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer stabilen Herrschaftsausübung. Die relativ rasche Eroberung Indiens durch die Briten wurde nicht nur aufgrund militärischer Überlegenheit, sondern gleichfalls durch die Errichtung eines ausgefeilten Informationssystems möglich. Die britische Verwaltung baute zunächst Netzwerke indischer Spione und einheimischer politischer Sekretäre auf, um sich militärische, politische und soziale Kenntnisse über ihre kolonialen Untertanen zu sichern. Nach 1820 schufen die Briten sukzessive neue Strukturen und setzten verstärkt auf die Erstellung von aufwendigen Katastern, Statistiken und kartographischen und geographisch-geologischen Erhebungen. Durch diese Formen der Datensammlung und -aufbereitung entfernten sich die Kolonialherren immer stärker von den „Graswurzeln“ der kolonisierten Gesellschaft. So traf sie 1857 die große Revolte indischer Nationalisten nahezu unvorbereitet. Ignoranz war für die britische Herrschaft in Indien mindestens ebenso charakteristisch wie der Wunsch nach Kontrolle und Überwachung.

Gewalt und Verwaltung

Die koloniale Administration zeigte sich in nahezu allen Fällen daher zunächst weniger als berechenbare, effektive Institution „aktenmäßiger Erledigung“, sondern zuvorderst als Kontrollinstanz. Und koloniales Verwaltungshandeln stand stets unter dem Schatten der Gewaltanwendung. Männer mit Peitsche und Gewehr hatten über lange Jahre hinweg mehr Gewicht als die Männer des Buchs, deren Aufgabe sich zunächst auf Kanzleidienste in den Zentren der kolonialen Durchdringung beschränkte. Kolonialismus war grundsätzlich charakterisiert durch die ambivalente Beziehung zwischen emanzipatorischem Diskurs und einer von Gewalt, Zwangsarbeit, Rassismus und der Missachtung von Rechten geprägten kolonialen Herrschaftspraxis. Die Verwaltung gewann jedoch in dem Maße an Bedeutung, als der koloniale Staat verstärkt Steuern und Zölle einzutreiben, Statistiken zu erstellen und Recht zu sprechen begann und ein schriftliches Berichtswesen einführte. Diese Entwicklung verstärkte sich noch, als sich der koloniale Staat nach dem Zweiten Weltkrieg – dann vornehmlich in Afrika – über Entwicklungsleistungen im Sinne einer europäischen Moderne zu legitimieren versuchte, welche sich am Morgen orientiert und Zukunft mit Fortschritt gleichsetzt.

Zugriff auf die Bevölkerung durch Mittler und Makler

Der Platz der Bürokratie in der staatlichen Ordnung blieb jedoch selbst im spätkolonialen Interventionsstaat klein, das Verwaltungshandeln weiterhin häufig durch Willkür und Gewalt geprägt. Der koloniale Staat war überdies durch das Prinzip der Intermediarität charakterisiert. Er war nach außen hin zwar den politischen Instanzen des Mutterlandes untergeordnet, die Verwaltungsbeamten in den Kolonien verfügten in der Regel jedoch über eine große Handlungsfreiheit. Überdies musste die Kolonialadministration sich einheimischer Mittler und Makler bedienen, um die Verwaltungsmaschinerie zumindest leidlich in Gang zu setzen und zu halten und Zugriff auf die Bevölkerung zu erlangen.

In nahezu allen Kolonien stand nur ein äußerst dünner Bestand an Verwaltungspersonal aus dem „Mutterland“ zur Verfügung. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Japans Herrschaft in Korea, wo Mitte der 1930er Jahre die ungewöhnlich hohe Zahl von 52.000 japanischen Zivilbeamten im Einsatz war, um 22 Millionen Koreaner in Schach zu halten, also ein Verhältnis von 1:420. In Nigeria kam im Schnitt gerade einmal ein britischer Kolonialbeamte auf 54.000 Einheimische. Die Belgier herrschten in ihrer riesigen Kolonie Kongo kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit gerade einmal 728 Kolonialverwaltern. Direkte Herrschaft blieb nahezu überall eine Chimäre.

Die Kolonialmacht schafft neue Hierarchien

Die Gruppe jener, die als einheimische Mittler im kolonialen Staat agierten, war äußerst heterogen und unterschied sich je nach Ort und Zeit. Sie umfasste potenziell den Dorfschullehrer, Gerichtsübersetzer oder Polizisten, den mächtigen Emir oder Sultan, den machtlosen Dorfhäuptling. Die Kolonialmacht behielt sich bei für die staatliche Ordnung wichtigen Stellen vor, über die Besetzungsmodalitäten und die Inhaber der Stellen das letzte Wort zu haben. Sie nahm sich das Recht der Ernennung, Einsetzung und Amtsenthebung und definierte auch auf diese Weise Hierarchien in den kolonisierten Gesellschaften neu. Eine der zentralen Aufgaben der Intermediäre bestand dann im Übersetzen und Vermitteln zwischen verschiedenen Welten. Nicht selten eröffnete ihnen diese Mittlerfunktion neue Handlungsspielräume und Möglichkeiten zur Einflussnahme, die weit über das hinausgingen, was die kolonialen Organigramme ihnen als Tätigkeitsfeld zuwiesen. Viele Nationalisten etwa in Asien oder Afrika haben zunächst für den kolonialen Staat gearbeitet, als Lehrer oder in Amtsstuben.

Bürokratie nach der Unabhängigkeit

Dieser Personenkreis wollte die europäische Suprematie durch eine demokratische und gerechte Gesellschaft ersetzen. Für ihn übten bürokratische Normen eine beträchtliche Anziehungskraft aus: Karrieren sollten für alle Talentierten und gut Ausgebildeten offen sein, nicht nur für Menschen mit weißer Haut. Viele Kolonisierte hatten erfahren müssen, dass die zentrale Qualifikation für einflussreiche Personen ihrer Generation die Hautfarbe war, und plädierten daher für technische Kompetenz, erworben in Schulen und Universitäten, als Grundlage für die Besetzung höherer Staats- und Verwaltungsämter. In Afrika etwa war die erste Generation der politischen Führung nach der Unabhängigkeit jedoch mit dem Erbe eines schwachen und autoritären Staates konfrontiert. Sie musste zudem erkennen, dass die ererbte koloniale Wirtschaftsstruktur ihr wenige Handlungsspielräume ließ. Angesichts der großen Lücke zwischen Wollen und Können und aus Schwäche heraus suchten viele Herrschende des nachkolonialen Afrikas ihr Heil in autoritären Lösungen. Die Bürokratie, das Rückgrat jeder rationalen Herrschaft, verlor binnen kurzem die für ihr Funktionieren nötige Unabhängigkeit. Sie war wie in der Kolonialzeit vor allem ein Instrument der Kontrolle.

Dr. phil, geb. 1964; Professor für die Geschichte Afrikas an der Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Unter den Linden 6, 10099 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: andreas.eckert@asa.hu-berlin.de