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Unabhängigkeit und Erinnerungspolitik

Carola Lentz

/ 12 Minuten zu lesen

Unabhängigkeit ist für ehemalige Kolonien ein vielgestaltiges und durchaus konfliktträchtiges Konzept. Die Erinnerung an die Unabhängigkeit ist, so zeigt Carola Lentz, nicht nur zeitlich und räumlich flexibel, sondern auch personell divers — wer erinnert und an wen erinnert wird, ist das Ergebnis politischer Aushandlung.

Gestürzte Statue von Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten Ghanas, nach dem Staatsstreich 1966. Es handelt sich um ein gestelltes Foto, um den Denkmalsturz als eine spontane Aktion der Bevölkerung zu inszenieren. (© picture alliance / United Archives/WHA)

Unabhängigkeit ist ein vieldeutiges, flexibles Konzept. Es verweist auf einen zeitlich spezifischen Moment, die Geburt eines souveränen Staats durch die formelle Deklaration des Endes der kolonialen Abhängigkeit. In den meisten neuen Staaten erinnert ein Nationalfeiertag an diese historische Wegmarke — an die „Freiheit um Mitternacht“, den Augenblick des Machttransfers, der nach dem Vorbild Indiens und Pakistans in vielen nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig gewordenen Kolonien auf Mitternacht gelegt wurde. Zugleich verweist Unabhängigkeit aber auch auf ein politisches Projekt. Der Begriff wird zur Chiffre für Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit oder zum Symbol von Enttäuschungen und Scheitern. Unabhängigkeit ist zu einem "Erinnerungsort" geworden. So nennt der französische Historiker Pierre Nora symbolisch aufgeladene geografische Orte, historische Ereignisse, mythische Figuren, Institutionen oder Gegenstände, an denen sich die kollektive Erinnerung einer Gruppe festmacht. Erinnerungsorte — und so auch die Unabhängigkeit — bündeln, so Nora, „ein Maximum von Bedeutungen“ in einem „Minimum von Zeichen“.

Akteure und Medien der Erinnerung

Das Besondere am Erinnerungsort Unabhängigkeit ist, dass er nicht erst im Nachhinein, mit zeitlichem Abstand, sondern zeitgleich mit dem zu erinnernden Ereignis von staatlichen Erinnerungs-Machern geschaffen wird. Schon der Machttransfer selbst wird in der Regel prächtig inszeniert, nicht zuletzt im Hinblick auf die künftige kollektive Erinnerung an diesen Moment. Zum ersten Jahrestag wird dann in der Regel ein in den Folgejahren immer wieder aufgeführtes Format des festlichen Gedenkens geschaffen, mit dem Absingen der Nationalhymne, mit Paraden, Reden und manchmal auch Kulturdarbietungen, die die ethnische Diversität des Landes präsentieren, und mit Begleitveranstaltungen sowie Zeitungskolumnen oder Fernsehsendungen zur Geschichte des Landes. Die Feiern, die in vielen Ländern nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch den Provinzen und sogar bis hinunter auf die Distriktebene stattfinden, sollen an die (Vor)Geschichte der Unabhängigkeit erinnern, vor allem aber auch die Gegenwart bilanzieren und in die Zukunft weisen. Sie beschwören den Zusammenhalt der Nation, rufen zu Patriotismus auf und fordern das Engagement jedes Einzelnen für die Geschicke des Landes. Für viele Afrikaner, mit denen wir in unserem vergleichenden Forschungsprojekt zu afrikanischen Nationalfeiern gesprochen haben, stehen persönliche Erinnerungen an solche Feiern im Vordergrund, vor allem, wenn sie selbst etwa als Schüler an den Paraden teilgenommen haben.

Doch nicht nur Feiertage, auch Bücher und Zeitungsartikel oder Filme und Fernsehsendungen, Museen und Ausstellungen, Gebäude, Denkmäler sowie Namen von Straßen und Plätzen erinnern an die Unabhängigkeit. In jüngerer Zeit kommen Blogs und in den sozialen Medien ausgetragene Debatten oder ausgetauschte Fotos dazu. Die unterschiedlichen Medien der Erinnerung präformatieren die Botschaften und setzen manchmal auch ungewollte Eigendynamiken in Gang—wenn etwa die nigerianischen Organisatoren des fünfzigsten Unabhängigkeitsjubiläums Porträts vergangener Präsidenten auf riesige Luftballons druckten, was Regierungskritiker einlud, die Ballons als Symbol für aufgeblasene, geplatzte Versprechungen der Politiker zu deuten. Unterschiedliche, gleichzeitig genutzte Medien können auch einander widersprechende Botschaften vermitteln, wenn etwa die Präsidentenrede an die Unabhängigkeit als alle ethnischen Gruppen des Landes einigenden Moment erinnert, aber die für die Dekoration der Bühne und die Festtagsstoffe der Teilnehmer genutzten Symbole und Bilder nur eine kulturelle Tradition des Landes aufrufen, die andere Gruppen marginalisiert. So dominieren in Ghana etwa in der öffentlichen Sphäre der Feiern Stoffe, die aus der Tradition des Aschanti-Königreichs stammen; andere Bewohner des Landes, insbesondere die aus dem ärmeren Norden, empfinden das oft als weiteres Symbol ihrer Marginalisierung. Und schließlich arbeiten Erinnerungsunternehmer nicht nur mit national spezifischen Formaten, sondern auch Anleihen aus anderen Erinnerungskulturen und globalen Modellen—wie die schon erwähnte Erklärung der Unabhängigkeit zur „midnight hour“ oder stilistisch ähnliche Denkmäler für Nationalhelden, mit deren Errichtung etwa die Regierungen von Angola, Äthiopien, Zimbabwe, Namibia, Senegal und fünf weiteren afrikanischen Staaten allesamt den nordkoreanischen Konzern Mansudae Overseas Projects beauftragt haben.

Die öffentliche Erinnerung an die Unabhängigkeit wird vorrangig von offizieller Erinnerungspolitik geprägt. In fast allen Ex-Kolonien sind es in erster Linie der Staat und seine Amtsinhaber und Funktionseliten, die die zu ehrenden Helden auswählen, die Feiertage festlegen, die Schulbuchinhalte gestalten und die Denkmäler in Auftrag geben. Umwälzungen in der staatlichen Politik, Revolten, Bürgerkriege und politische Transformationsprozesse führen zur Neuordnung der Erinnerungspolitik. Jenseits der öffentlichen Zeremonien überliefern einzelne Personen und Familien ihre eigenen, persönlichen Erinnerungen. Solche oft eher mündlich überlieferten oder an bestimmte Gegenstände geknüpfte Erinnerungsstränge können sich auch aggregieren, und subnationale Erinnerungsgemeinschaften wie Vereine, Veteranenverbände, Kirchengemeinden oder Gewerkschaften können Gegenerzählungen entwickeln und bei geeigneten Anlässen präsentieren, in eigenen Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen oder Monumenten. Auch panafrikanische und transatlantische Erinnerungspfade können punktuell nationalstaatlich verfasste Meistererzählungen herausfordern. Manchmal existieren solche alternativen Erinnerungen an die Unabhängigkeit parallel zur dominanten Erinnerungspolitik, manchmal geraten sie aber auch in Konflikt, wie etwa bei einigen der afrikanischen Unabhängigkeitsjubiläen in den 2010er Jahren. Die Konturen solcher erinnerungspolitischer Konflikte wiederum — und generell: die Besonderheiten der nationalen Erinnerungslandschaften — sind aufs engste mit den jeweiligen Konjunkturen der Dekolonisierung und den von Land zu Land unterschiedlichen Herausforderungen der Nationalstaatsbildung verknüpft.

Helden, Märtyrer und Opfer

Helden sind personalisierte Träger der Narrative von Unabhängigkeit und Nationenbildung. Sie werden von offiziellen Erinnerungspolitikern oft als moralische Vorbilder präsentiert, die dauerhafte Bewunderung und Nachahmung verdienen. Allerdings sind sie weniger langlebig und unumstritten, als die Erbauer von Heldendenkmälern und Verfasser von Hagiographien es wahrhaben möchten. Ihr Beitrag zur nationalen Geschichte wird im Lauf der Zeit umgedeutet, Denkmäler werden gestürzt, aus Helden können Anti-Helden werden, oder sie müssen den ihnen bislang allein vorbehaltenen Ehrenplatz mit anderen, zuvor vergessenen oder verdrängten historischen Akteuren teilen.

Ghana: Erinnerung an Kwame Nkrumah

Die wechselvolle Geschichte der Erinnerung an Kwame Nkrumah, Vorsitzender der antikolonialen Convention People’s Party (CPP), seit 1951 Premierminister der ghanaischen Regierung noch unter britischer Oberherrschaft und erster Präsident des unabhängigen Ghana, ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Wechselhaftigkeit der politischen Konjunkturen des Heldengedenkens. Das trieb er nicht zuletzt selbst tatkräftig voran. Pünktlich zur Erklärung der Unabhängigkeit im März 1957 veröffentlichte er seine Autobiographie und scheute sich nicht, unter dem Titel Ghana: The Autobiography of Kwame Nkrumah seine persönliche Geschichte und die des neuen Nationalstaats in einander fließen zu lassen. Ein Jahr zuvor hatte er zur Vorbereitung auf die Unabhängigkeit neue Geldmünzen, Geldscheine und Briefmarken produzieren lassen, die sein Konterfei trugen. Am Vorabend der feierlichen Erklärung der Unabhängigkeit sollte eine bei einem italienischen Bildhauer in Auftrag gegebene Statue seiner Person mit der Inschrift „Kwame Nkrumah: Founder of the Nation“ enthüllt werden; tatsächlich wurde das Denkmal dann allerdings erst zum ersten Jahrestag der Unabhängigkeit fertig. Im Vorfeld und auch nach der Einweihung des Monuments kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen CPP-Anhängern und Oppositionspolitikern, die allerdings zunehmend mundtot gemacht wurden. Nkrumah rechtfertigte die auf ihn fokussierte Heldenverehrung: Anders als durch sichtbare, an seine Person gebundene Symbole und Denkmäler würde das des Lesens und Schreibens weitgehend unkundige ghanaische Volk nicht begreifen, dass nicht mehr die Briten, sondern Afrikaner nun das Land regierten. Die Kritiker warfen Nkrumah jedoch Personenkult und diktatorische Ambitionen vor und prophezeiten, er würde dasselbe Schicksal wie Stalin und seine Denkmäler erleiden. Tatsächlich kam es 1966, ehe der Plan der CPP-Regierung umgesetzt werden konnte, im ganzen Land Statuen des Präsidenten aufzustellen, zu einem Staatsstreich, und das prominenteste Denkmal Nkrumahs vor dem Parlamentsgebäude in Accra wurde von den Putschisten geschleift.

Für knapp zwei Dekaden waren alle Paraphernalien verboten, die an Nkrumah und die CPP erinnern könnten. Erst 1992, zwanzig Jahre nach Nkrumahs Tod, wurde er als Nationalheld offiziell rehabilitiert und durch den Bau eines aufwändigen Mausoleums sowie einer prächtigen, goldglänzenden Statue mitten im Stadtzentrum geehrt, genau am Ort der einstigen mitternächtlichen Erklärung der Unabhängigkeit. Die Kontroverse um Nkrumahs historische Rolle endete damit aber keineswegs. Als die Nachfahren der früheren CPP-Opposition in den 2000er Jahren an der Regierung waren, sorgten sie dafür, dass hinter dem Mausoleum die 1966 gestürzte Statue aufgestellt wurde—zu Zwecken der historischen Dokumentation, wie argumentiert wurde. Doch die Nkrumah-Anhänger protestierten, dass damit das Erbe des Nationalhelden ein zweites Mal angegriffen würde. Und bis heute gibt es erhitzte Auseinandersetzungen um den Raum, der anderen, weniger radikalen „Vätern“ der Unabhängigkeit, die mit Nkrumah einst über den richtigen politischen Weg gestritten hatten, in der nationalen Erinnerung zugestanden werden sollte.

Namibia: Erinnerung an Sam Nujoma

Der Heldenkult um Namibias ersten unabhängigen Präsidenten Sam Nujoma wiederum ist ein Beispiel nicht für Sturz eines Nationalhelden, sondern seine allmähliche Re-Interpretation, die allerdings nicht so offen diskutiert wurde und wird wie der Fall Nkrumah. Hier lassen sich die Bedeutungsverschiebungen gut an der veränderten Ikonographie der verschiedenen Denkmäler ablesen. Die ersten Denkmäler—einschließlich der Statue des „Unbekannten Soldaten“ auf dem 2002 in Windhuk eröffneten, von Mansudae Overseas Projects gebauten Heroes’ Acre, die gemeinhin als Konterfei von Nujoma gedeutet wird—zeigen den Präsidenten und andere Unabhängigkeitshelden unweigerlich als Freiheitskämpfer, in Kampfuniform und mit Kalaschnikow in der Hand. Dass Nujoma selbst die meiste Zeit in ziviler Mission unterwegs war und vor allem als Diplomat und Politiker, nicht als Soldat für die Unabhängigkeit Namibias stritt, tut der statuarischen Repräsentation als Kämpfer keinen Abbruch. Sie verkörpert das dominante nationale Narrativ der Geburt des unabhängigen Namibias aus dem bewaffneten Kampf. Die 2014 vor dem neuen Independence Memorial Museum enthüllte Statue präsentiert Nujoma dagegen als Staatsmann, in ziviler Kleidung und mit der Verfassung in der Hand. Auch jenseits der Denkmalspolitik öffnet sich die nationale Erinnerungskultur allmählich für eine nuanciertere Geschichte der Unabhängigkeit, nicht zuletzt, weil es gilt, das neue Namibia als demokratisch-zivilen Staat zu festigen und auch die vielen jüngeren Staatsbürger zu integrieren, die nicht am bewaffneten Kampf teilgenommen haben.

Nicht immer kommt der Impuls für solche erinnerungspolitischen Verschiebungen von der Regierung. Dass inzwischen auch der frühe antikoloniale Widerstand der dann genozidär verfolgten Herero und Nama wenigstens teilweise Platz im offiziellen Narrativ des langen Kampfs für die Unabhängigkeit findet, verdankt sich vor allem der langfristigen Öffentlichkeitsarbeit diverser ethnischer Vereinigungen und Chiefs. Andere zivilgesellschaftliche Gruppierungen propagieren, dass nicht nur bewaffnete Kämpfer, sondern auch Zivilisten als Unterstützer des Befreiungskriegs und Opfer von Repressionen der südafrikanischen Armee allmählich in das historische Gedenken aufgenommen werden. Ausgeschlossen bleiben aber nach wie vor, obwohl sich ihre Angehörigen in Vereinen zusammengeschlossen haben und Gehör zu verschaffen suchen, die Opfer der repressiven Politik der Befreiungsarmee selbst, die auch unter den eigenen Anhängern vermeintliche Feinde und Kollaborateure verfolgte und tötete. Dennoch hat sich in den letzten Jahren die Erinnerungspolitik insgesamt hin zu mehr Inklusion entwickelt, und Namibia ist ein gutes Beispiel dafür, wie zunächst von nicht-staatlichen Akteuren in Gegenöffentlichkeiten propagierte Narrative allmählich Eingang finden können in das offizielle Gedenken.

Flexible Zeithorizonte der Erinnerung

Die Erweiterung des namibianischen Unabhängigkeitsnarrativ hin zur Inklusion frühen antikolonialen Widerstands gegen die deutsche Kolonialmacht zeigt, dass die Zeithorizonte, die mit dem Unabhängigkeitsgedenken aufgerufen werden, flexibel sind. In manchen Ländern wird die Erinnerung sogar auch auf die vorkoloniale Geschichte ausgedehnt, wie das Beispiel Madagaskar verdeutlicht. Zum fünfzigjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit im Jahr 2010 präsentierte hier eine Ausstellung in der Hauptstadt Schriftstücke, Fotografien und Insignien des Merina-Königreichs aus dem 19. Jahrhundert, die die lange Existenz eines souveränen Nationalstaats Madagaskar avant la lettre dokumentieren sollten. Auch in vielen Reden und Publikationen anlässlich des Jubiläums wurde immer wieder das Narrativ von der „wiedergewonnen Unabhängigkeit“ propagiert und die Kolonialzeit als eine relativ kurze und für die Nationalgeschichte weniger bedeutende Zwischenepoche gewissermaßen eingeklammert. Auch der jährliche Unabhängigkeitstag wird als Fortführung des traditionellen königlichen Bades betrachtet.

Diese „Merinisierung“ der Nationalgeschichte, die sich auch in der Betrachtung des jährlichen Unabhängigkeitstags als moderner Fortführung des traditionellen königlichen Bades äußert, ist allerdings nicht unumstritten. Als dominantes Narrativ ist sie auch eher rezent. Denn nicht wenige madagassische Bevölkerungsgruppen verbinden mit dem Merina-Königreich Erinnerungen nicht an einen stolzen souveränen Staat, sondern an ein expansives Reich, das ihre eigene Unabhängigkeit einst zu zerstören trachtete. Darum setzten die ersten postkolonialen Regierungen, die die Nationenbildung und den Zusammenhalt von Merina und anderen ethnischen Gruppen vorantreiben wollten, keineswegs auf den Mythos einer langen vorkolonialen und nun wiedergewonnenen Unabhängigkeit. Sie nahmen stattdessen eher die Erklärung der Unabhängigkeit selbst in den Blick und die Zukunftshoffnungen, die sich damit verbanden. Nicht zuletzt konnten die Franzosen bei der kolonialen Eroberung Madagaskars die Unterstützung von Opfern der Merina-Expansion mobilisieren, und die antikoloniale Bewegung der 1940er und 1950er Jahre war in einen pro- und einen anti-Merina-Flügel gespalten. Der erste madagassische Präsident, selbst kein Merina, achtete sorgfältig darauf, sich in Kleidung und Habitus von den traditionellen Merina-Eliten zu distanzieren und als Mann des Volks und väterlich-sorgendes Oberhaupt für alle Madagassen zu präsentieren. Erst in den 1980er und 1990er Jahren griffen madagassische Präsidenten zur Stabilisierung ihrer Regime vermehrt auf Merina-Symbole zurück. Und zum Unabhängigkeitsjubiläum 2010 schließlich versuchte der international nicht anerkannte Regierungschef Rajoelina, der sich kurz zuvor an die Macht geputscht hatte, seine Legitimität durch Selbstinszenierung als Erbe der Merina-Dynastie zu festigen.

In der Côte d’Ivoire dagegen ließ sich zum Unabhängigkeitsjubiläum im Jahr 2010 ein entgegengesetzter Prozess beobachten, nämlich die Verkürzung des mit Unabhängigkeit assoziierten Zeitraums. Der damals amtierende Präsident Laurent Gbagbo und seine Anhänger präsentierten den Machttransfer von 1960 als bloß formalen Akt. Sie bestanden darauf, dass die unter Houphouët-Boigny deklarierte „Unabhängigkeit in Freundschaft“ nur eine irreführende Chiffre für die fortdauernde neokoloniale Abhängigkeit des Landes von Frankreich gewesen sei. Es bedürfe nun einer Neugründung der ivorischen Republik und der konsequenten Umsetzung der antiimperialistischen Politik, die die mit Gbagbos Regierungsantritt erreichte „zweite Unabhängigkeit“ eingeleitet habe. Mit dieser Reinterpretation der Unabhängigkeit von 1960 ging auch eine neue Erinnerungspolitik mit Blick auf die kommunistischen antikolonialen Bewegungen der 1940er und 1950er Jahre einher. Die damaligen Aktivisten, die Houphouët-Boigny sehr bald im Interesse eines einvernehmlichen Machttransfers aus der öffentlichen Erinnerung verbannt hatte, wurden nun als Vorkämpfer der wahren Unabhängigkeit und Märtyrer für ein neues Afrika gefeiert.

Alle Beispiele zeigen, dass Unabhängigkeit ein vielgestaltiger und durchaus konfliktträchtiger Erinnerungsort ist, zeitlich flexibel, räumlich expandierend oder kontrahierend und personell divers (wer erinnert und an wen erinnert wird). Der Moment des Machttransfers bleibt meist der relativ unstrittige Anker, an dem sich die konkurrierenden Erzählungen festmachen. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, etwa in Ländern wie Kamerun oder Tansania, die aus verschiedenen Ex-Kolonien mit ihren je eigenen Unabhängigkeitserklärungen hervorgingen und in denen die Vereinigung zu einem Staat konflikthaft war und ist. Dennoch scheint das Unabhängigkeitsdatum weniger kontrovers als alternative Daten wie Jahrestage von Staatsstreichen oder Rebellionen. Das Datum der Unabhängigkeit bietet gewissermaßen eine leere Pathosformel, die mit unterschiedlichen politischen Inhalten gefüllt werden kann. Und während ein Konzept wie Dekolonisierung den Fokus eher auf die ehemaligen Kolonialmächte legt, suggeriert der Begriff Unabhängigkeit die Handlungsmacht des neuen Staatswesens und appelliert an die gemeinsame Pflicht, für eine gute Zukunft des Landes und seiner Bevölkerung zu arbeiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Robert Holland, Sue Williams und Terry Barringer (Hg.), The Iconography of Independence: „Freedoms at Mid-night“. London: Routledge, 2010; Eviatar Zerubavel, „Calendars and history: a comparative study of the social organisation of national memory“, in Jeffrey Olick (Hg.), States of Memory: Continuities, Conflicts, and Trans-formations in National Retrospection. Durham: Duke University Press, 20003.

  2. Pierre Nora, „Un maximum de sens dans le minimum de signes“; Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, 3 Bd. Paris: Gallimard 1997 [1984-92], I, 38.

  3. Vgl. dazu u.a. Carola Lentz, „The 2010 independence jubilees: the politics and aesthetics of national commem-oration in Africa“, Nations and Nationalism 19 (2), 2013: 217-37. Von 2009 bis 2013 habe ich am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eine Doktorandengruppe zu „Erinne-rungspolitik und Nationalfeiern in Afrika“ geleitet, mit der auch eine längere Lehrforschung von Magistranden zu den afrikanischen Unabhängigkeitsjubiläen des Jahres 2010; für nähere Informationen vgl. Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/268.php. Zum nachfolgenden Forschungsprojekt (2013 bis 2019) in Burkina Faso, Côte d’Ivoire und Ghana vgl. Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/2374.php. Im Zuge dieser Forschungen habe ich ein großes Onlinearchiv mit Bildmaterial (über 16.000 Fotografien und Videos) und zahlreichen Dokumenten zu afrikanischen Nationalfeiern aufgebaut; Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/315.php.

  4. Vgl. dazu z.B. Carola Lentz und Godwin Kornes (Hg.), Staatsinszenierung, Erinnerungsmarathon und Volksfest. Afrika feiert 50 Jahre Unabhängigkeit. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel, 2011; für weitere Literatur siehe Externer Link: http://www.ifeas.uni-mainz.de/Dateien/Veroeffentlichungen_alle_852018.pdf.

  5. Eine ausführliche Diskussion (sowie alle relevanten Quellenangaben) der hier und im nächsten Abschnitt ange-führten Beispiele sowie Vergleiche mit Unabhängigkeitserinnerungen in Asien finden sich in Carola Lentz und David Lowe, Remembering Independence. London: Routledge, 2018.

  6. Zu Kamerun vgl. Kathrin Tiewa, The Lion and his Pride: The Politics of Commemoration in Cameroon. Köln: Rüdiger Köppe, 2016; zu Tansania und Sansibar vgl. Marie-Aude Fouéré und William C. Bissell (Hg.), Social Memory, Silenced Voices, and Political Struggle: Remembering the Revolution in Zanzibar. Dar es Salaam: Mkuki na Nyota.

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Dr. phil; Professorin für Ethnologie am Institut für Ethnologie und Afrika Studien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.