Proteste mit Folgen 1968 in Berlin - Ein Erinnerungsmosaik
Die Folgen von Engagement 1968 konnten in West und Ost nicht unterschiedlicher sein. Während sich in der Bundesrepublik 1968 Studierende politisierten und durch ihr Studium Karrieren aufbauen konnten, hatte das Engagement junger Leute in der DDR gegenteilige Auswirkungen. Sie kamen in Haft und verloren ihre Studienberechtigung. Fallbeispiele aus den August 1968 in Berlin, gesammelt von Prof. Ingo Juchler.
Vor der tschechoslowakische Militärmission in West-Berlin: Proteste gegen die Niederschlagung des "Prager Frühlings"
Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein, ohne sichtbare Beteiligung der DDR, aber auch von ihrem Boden aus, um der Entwicklung eines eigenständigen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" ein Ende zu setzen. Die Intervention rief weltweit Proteste hervor. In West-Berlin verabschiedeten u. a. die Studentenverbände SDS und SHB einen offenen Brief an die Zentralkomitees der intervenierenden Staaten. Darin kritisieren die Studentenorganisationen, dass "weder der Vernichtungskrieg der US-amerikanischen Imperialisten gegen die revolutionäre Bewegung in Südvietnam, noch die Terrorangriffe der US-Luftwaffe gegen das sozialistische Nordvietnam" es vermocht hätten, "die Streitkräfte des Warschauer Pakts in Marsch zu setzen". Dagegen würden diese Streitkräfte nun unter "fadenscheinigen Gründen" in die ČSSR einmarschieren und dort "alle Chancen für eine wirklich kommunistische Entwicklung" abschneiden.Nach einer Diskussionsveranstaltung des AStA der TU und der FU im Audimax der TU mit etwa 1.200 Beteiligten formierte sich am Nachmittag eine Demonstration zur Militärmission der Tschechoslowakei in der Podbielskiallee, der auf 4 000 Personen anwuchs. Die Demonstranten trugen Transparente mit den Aufschriften "Wir grüßen Dubček und die KP der ČSSR", "Sowjetunion – Imperialist Nr. 2" und skandierten Sprechchöre wie "Dubček, Svoboda!" und "Amis raus aus Vietnam, Russen raus aus Prag!". Studenten übergaben dem Leiter der Militärmission, Dr. Kreplak, den offenen Brief an die Zentralkomitees der intervenierenden Staaten, den dieser als "sehr vernünftige Erklärung" bezeichnete.
Die Intervention in der ČSSR rief in West-Berlin allerdings keine weiteren großen Protestaktionen hervor. Rudi Dutschke erklärte im Rückblick, dass das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 in Europa nicht Paris, sondern Prag gewesen sei: "Damals waren wir unfähig, dies zu sehen." Noch deutlicher in seiner Kritik an den fehlenden studentischen Protesten angesichts der Militärintervention in der ČSSR wurde Günter Grass in einer Rede am 8. September 1968 im Stadttheater von Basel: "Aber nicht Vaculík und Havel hießen die Vorbilder der Berliner und Pariser Studenten, vielmehr traf man eine fotogen-ästhetische Wahl: der argentinische Berufsrevolutionär Che Guevara wurde bis zum Pin-up-Format vergrößert. Mit anderen Worten: während die tschechoslowakischen Reformer bei widrigsten Umständen ihre Reform zu etablieren versuchten, gefiel sich die westliche radikale Linke in romantisch-revolutionärer Gestik."
Folgenreiche Proteste in Ost-Berlin: "Dubček!"-Rufe vor der Staatsbibiliothek
Aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei schrieben Frank Havemann und Hans Uszkoreit in der Nacht des 21. August 1968 den Namen der Leitfigur des Prager Frühlings an vier Häuserwände: "Dubček!" Nach ihrer letzten Aktion wurden sie von Volkspolizisten am Schiffbauerdamm verhaftet, ins Polizeigefängnis in der Keibelstraße gebracht und anschließend in das Stasigefängnis nach Hohenschönhausen überführt. Hans Uszkoreit hatte morgens von der Intervention erfahren und sich sogleich mit Freunden an verschiedenen Protesten beteiligt: Den ganzen Tag über schrieben sie Flugblätter und gegen Abend wollten sie vor der Sowjetischen Botschaft in der Straße Unter den Linden demonstrieren. Allerdings waren dort weit mehr Volkspolizisten als Oppositionelle, sodass die Demonstration frühzeitig unterbunden wurde.
Hans Uszkoreit war wie viele andere, die gegen die Intervention in die ČSSR protestierten, ein Kind von Eltern, die der DDR-Politikprominenz angehörten – Hans-Georg Uszkoreit war Hauptabteilungsleiter für Musik im Ministerium für Kultur. Bereits als Jugendlicher rebellierte Hans Uszkoreit gegen die gesellschaftlichen Zwänge in der DDR. Ein wichtiges Ausdrucksmittel für diesen Protest war die Musik. Als er in seiner Schule eine Wandzeitung über Bob Dylan und Donovan präsentierte, wurde er als "bürgerlicher Jugendlicher" und "irregeleiteter Pazifist" gerügt. Uszkoreit verweigerte die vormilitärische Ausbildung, trug lange Haare und produzierte mit Freunden Aufnahmen von Tonbändern, auf denen Musik mit regimekritischen Texten gemischt wurde, die zum Nachdenken anregen sollten. Tonbänder hatten gegenüber Flugblättern den Vorteil, dass sie nicht sofort als system-kritisch erkannt werden konnten. Zum Ende des 11. Schuljahres flog Uszkoreit als 17-Jähriger aus "disziplinarischen" Gründen von der Schule.
Am Vorabend der Intervention war Hans Uszkoreit zusammen mit Nina Hagen im Kino gewesen, wo "Manche mögen’s heiß" von Billy Wilder lief. Anschließend traf man sich in Wolf Biermanns Wohnung, der dort sein Lied von der Prager Kommune vortrug. Uszkoreit wurde für seine Aktion gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Da er sich beharrlich den Anwerbungsversuchen der Stasi verweigerte, musste er seine Haftstraße bis zum letzten Tag absitzen. Zusammen mit Rosita Hunzinger floh er anschließend nach Westdeutschland. An seine Aktion zusammen mit Frank Havemann erinnert heute eine Gedenkstele an der Rückseite der Staatsbibliothek.