Ungeachtet ihrer militärischen Übermacht – etwa eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens Interner Link: marschierten in der Nacht zum 21. August in die Tschechoslowakei ein, und Divisionen der Nationalen Volksarmee standen an der Grenze der DDR bereit –, erreichten die verbündeten Reformgegner des Warschauer Pakts zunächst nicht ihre Ziele. Die sowjetischen Besatzer verhafteten zwar führende Parteifunktionäre der Tschechoslowakei, darunter Parteichef Dubček, Ministerpräsident Černík, Parlamentspräsident Smrkovský, den Vorsitzenden der nationalen Front, František Kriegel und überführten sie nach Moskau. Ihr Versuch, eine Kollaborationsregierung einzusetzen, scheiterte jedoch zunächst daran, dass der für September geplante 14. Parteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (Komunistická strana Československa, Abk. KSČ) nun vorzeitig im Prager Stadtteil Vysočany unter dem Schutz der Volksmilizen zusammenkam und die Legitimität der Führung Dubčeks bestätigte.
Dann stieß die Okkupationsmacht auf die Weigerung des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Ludvík Svoboda, durch seine Unterschrift der Ernennung einer neuen Regierung den Anschein von Rechtmäßigkeit zu verleihen. Svoboda reiste nach Moskau und konnte durchsetzen, dass die dorthin verschleppte rechtmäßige Partei- und Staatsführung zu den Verhandlungen hinzugezogen wurde. Die offizielle sowjetische Erklärung zum Truppeneinmarsch, die die Nachrichtenagentur TASS am 21. August verbreitete, berief sich auf ein Hilfeersuchen aus der KSČ. Eine willfährige tschechoslowakische Regierung, die dieses bestätigt hätte, gab es nun aber nicht; der Widerstand Svobodas gegen die Installierung eines Marionettenregimes machte die offizielle sowjetische Verlautbarung von Anfang an unglaubhaft.
Die Verhandlungen, die Breschnew mit den tschechoslowakischen Spitzenpolitikern (außer Präsident Svoboda und den nach Moskau verbrachten Mitgliedern des Parteipräsidiums kamen noch weitere Politiker wie Zdeněk Mlynář, Gustáv Husák u. a. hinzu) im Kreml führte, zielten auf die Verabschiedung eines gemeinsamen Protokolls, das unter den gegebenen Bedingungen nur den Charakter einer Kapitulationserklärung haben konnte. Dubček brach unter der Last der Verantwortung zusammen.
Im Angesicht des leblos daliegenden, unter starken Beruhigungsmitteln stehenden Parteiführers erblickte Mlynář die Bilder eines Märtyrers, der unter der Folter lächelte: »Dubček hatte das gleiche Dulderlächeln, und die Falten, die auf dem weißen Kissen strahlenförmig von seinem Kopf ausgingen, ersetzten den Heiligenschein.«
Geheimgehaltenes Protokoll
Mit ihrer Unterschrift verpflichteten sie sich, die Errungenschaften des Prager Frühlings wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu beseitigen. Das Protokoll wurde auf Wunsch Dubčeks geheimgehalten, für die Öffentlichkeit unterzeichnete man ein gemeinsames Kommuniqué, das die »Normalisierung« der Verhältnisse als Ziel ausgab, und stieß mit Champagner darauf an. Die Farce blieb der tschechoslowakischen Bevölkerung verborgen, die ihre politische Führung bei der Rückkehr in Prag begeistert begrüßte.
Mit der Unterzeichnung des Moskauer Protokolls hatte zwar die Politik kapituliert, aber noch nicht das Volk. Die Invasion stieß auf geschlossenen, gewaltlosen Widerstand. Überall in Prag waren Graffiti mit den Namen Dubčeks und Svobodas zu sehen, die in der Novotný-Ära so gerne verwendete Propagandaformel »Ami go home!« wurde in »Ivan go home!« umgewandelt, die tschechische Abkürzung für UdSSR (tschech.: SSSR) wurde mit SS-Runen wiedergegeben, Hammer und Sichel zu Hakenkreuzen verformt.
Die eindringlichsten Bilder des Widerstands gegen die Besatzung zeigten Menschen, die mit den Soldaten auf ihren Panzern sprechen. Sie zeugten vom Bestreben der Bevölkerung, mit Argumenten auf die Besatzungstruppen einzuwirken. Dergleichen wäre im März 1939 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen unmöglich gewesen. Im August 1968 hingegen hielt man die Besatzer für irregeleitete, von der Armeeführung missbrauchte Soldaten, aber nicht für Feinde.
Der Text ist dem Buch entnommen: Martin Schulze Wessel; Prager Frühling - Aufbruch in eine neue Welt, Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2018. Das Buch ist ebenfalls in der Interner Link: Schriftenreihe der bpb, Band 10248, erschienen. (© Reclam jun. GmbH)
Der Text ist dem Buch entnommen: Martin Schulze Wessel; Prager Frühling - Aufbruch in eine neue Welt, Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2018. Das Buch ist ebenfalls in der Interner Link: Schriftenreihe der bpb, Band 10248, erschienen. (© Reclam jun. GmbH)
Der alles beherrschende Eindruck des gemeinsamen Widerstands des gesamten Volkes gehörte zu den prägendsten Erfahrungen aus der Zeit des Prager Frühlings. Unter der Überschrift »Wir stehen fest geeint mit den tschechischen Kommunisten« verurteilte am 26. August auch die Slowakische KP die sowjetische Invasion.
Die Erosion des Reformprozesses
Einen Tag, nachdem das Akademie-Institut das Stimmungsbild erkundet hatte, welches das Vertrauen der Bevölkerung in den Reformprozess so eindeutig dokumentierte, wurde Husák zum Ersten Sekretär der Slowakischen KP gewählt. Zu seinen ersten Verlautbarungen im neuen politischen Amt gehörte die Verurteilung des spontan zusammengerufenen Parteitags von Vysočany, der Dubčeks Position unterstützt hatte. Damit begann die allmähliche Erosion des Prager Frühlings.
Zwar wurden nicht alle Freiheiten sofort aufgehoben, ja, eine wichtige Reform, die Föderalisierung der Tschechoslowakei, wurde noch nach der Okkupation am 1. Januar 1969 Gesetz. Die neue staatsrechtliche Ordnung blieb aber das einzige Projekt des Prager Frühlings, dem Dauer beschieden war. In allen anderen Bereichen kehrte sich die Entwicklung um. Die Aufarbeitung der Vergangenheit kam zum Erliegen, und bald wurden die Opfer der stalinistischen Prozesse erneut verfemt. Auch die Zukunftsplanungen wurden angesichts der bewaffneten Intervention obsolet. An die umfassende Wirtschaftsreform Ota Šiks war nicht mehr zu denken, geschweige denn an rechtsstaatliche Demokratie im Sinne von Zdeněk Mlynář. Nur Radovan Richtas Konzept der »wissenschaftlich-technischen Revolution« lebte, seiner humanistischen Aspekte allerdings beraubt, unter autoritären Bedingungen weiter.
Nichts war bitterer als die Rücknahme der schon errungenen Freiheiten. Dies empfanden vor allem die Jugendlichen, die, weit davon entfernt, eine einheitliche Bewegung zu bilden, den Prager Frühling durch ihren Eigensinn und mit ihren Demonstrationen vorbereitet, die großen Reden Josef Smrkovskýs, Ota Šiks und anderer in den Märztagen aufgegriffen und den Reformprozess mit provokativen Aktionen zeitweise auch radikalisiert hatten. Unter ihnen wirkte die Entmutigung besonders stark. Entschlossenen, langanhaltenden Widerstand leisteten Studentengruppen, die – im scharfen Kontrast zur 68er-Rebellion im Westen – an die politische Führung der Vätergeneration geglaubt hatte.
Dieser Zusammenhang riss erstmals sichtbar auf, als der 21-jährige Geschichtsstudent Jan Palach sich auf den Weg der Selbstaufopferung begab. Am 16. Januar 1969 verbrannte er sich als »Fackel Nr. 1« auf dem Wenzelsplatz an den Treppen des tschechischen Nationalmuseums. »Da unser Land«, so sein Abschiedsbrief, »davor steht, der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, haben wir uns dazu entschlossen, unserem Protest auf diese Weise Ausdruck zu verleihen, um die Menschen aufzurütteln.« Dubček erlitt einen Schwächeanfall.