50 Jahre nach Prag 68
Echter Demokratisierungsversuch? Oder Kampf zweier kommunistischer Lager?
War das Reformexperiment ein echter Demokratisierungsversuch oder ein Kampf zweier kommunistischer Fraktionen um die Macht im Staat? War der Prager Frühling ein Vorläufer der friedlichen Revolution von 1989 oder Teil des untergegangenen kommunistischen Systems? Gehörte er zu den freiheitlich-demokratischen Traditionen der nationalen Geschichte oder lag seine Bedeutung im Beweis der prinzipiellen Nichtreformierbarkeit des kommunistischen Systems? Wie sind seine führenden Akteure zu beurteilen?
Diese Fragen waren auch Ausdruck der Verschiebung von Zeit- und Denkhorizonten. Der Prager Frühling spielte sich im fortschrittsoptimistischen Kontext der 1960er Jahre ab. Die Ideologie der "wissenschaftlich-technischen Revolution", der neuen Haupttriebkraft des historischen Fortschritts[8], beflügelte den Glauben an eine langfristige Konvergenz der Systeme in Ost und West. Die Vision einer anderen sozialistischen Moderne, eines dritten Weges zwischen dem bürokratischen Kommunismus und dem Kapitalismus, war in Ost und West keineswegs ausgeträumt. Der Versuch, soziale Gerechtigkeit mit Demokratie jenseits des Kapitalismus zu verbinden, gehörte zu den Hauptmotiven der Reformer. Im neoliberalen postkommunistischen Jahrzehnt in den 1990er Jahren wurden alle Prozesse, die nur ansatzweise mit dem Sozialismus etwas zu tun hatten, stark abgewertet.
Die siegreichen neoliberalen Parteien in Tschechien wollten nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems deutlich machen, dass sie eine andere Demokratie- und Gesellschaftskonzeption vertreten als jene von 1968. Mit dem provokativen Dictum von Václav Klaus: "Alle dritten Wege in der Wirtschaft führen in die dritte Welt" sollte jede Konzeption, die Plan und Markt kombinieren wollte, als illusorisch dargestellt werden. Die im Kontext der 1960er Jahre systemsprengende Konzeption des "dritten Weges" wurde nachträglich für systemerhaltend deklariert. Der Kommunismus wurde als ein gigantisch anmaßendes Experiment betrachtet, das die "natürliche Ordnung", d.h. funktionierende und akzeptierte Institutionen wie den Markt, das Recht, das Privateigentum, die Gemeinde, die Familie und den Nationalstaat zerstört hat. Die Neoliberalen sahen die Hauptaufgabe bei der Überwindung der Folgen der kommunistischen Diktatur in der Wiederherstellung eines funktionierenden liberalkonservativen Gegenmodells. Der Kampf gegen alle Formen des Sozialkonstruktivismus wurde zur einzigen Garantie gegen Rückfälle in dritte Wege und sozialistische Experimente erhoben.
Während der "Prager Frühling" im Westen mit Respekt und Sympathie betrachtet wird, begegneten in Prag insbesondere nach der Entstehung der selbstständigen Tschechischen Republik 1992/93 maßgebliche Teile der neuen politischen Eliten und öffentlichen Meinungsmachern dem Reform- und Demokratisierungsversuch mit Skepsis und offener Ablehnung. Es gab Stimmen, die im "Prager Frühling" vor allem einen Kampf der kommunistischen Fraktionen untereinander sahen[9] und das ganze Ereignis als eine Episode in der Geschichte eines absurden Experiments - des Kommunismus - betrachteten. So wollte der bekannte katholische Dissident Václav Benda dem "Prager Frühling" gar den Rang eines bedeutenden Ereignisses absprechen[10]. Alexander Dubček, zu seinen Lebzeiten fast in der ganzen Welt als Symbol des Freiheitswillens gefeiert, wurde im Westen auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geschätzt. Ende 1989 erhielt er den Sacharow-Preis für Menschenrechte des europäischen Parlaments. Sacharow würdigte Dubček als Vorkämpfer der friedlichen Revolutionen des Jahres 1989[11].
Auch George Bush senior verlieh 1990 Alexander Dubček einen Preis für die Menschenrechte[12]. Der damalige italienische Präsident Francesco Cossiga meinte gar, Dubček werde von allen Europäern "verehrt und geliebt" werden. Selbst Margret Thatcher sprach vom Prager Frühling als einem "mutigen Versuch" bei dem die Sonne im Land aufgegangen sei[13]. In der Tschechischen Republik der 1990er Jahre erklärte hingegen beispielsweise der Vorsitzende des ersten demokratisch gewählten Parlaments der Tschechischen Republik Milan Uhde, er könne sich Dubček als einen - immerhin menschlich netten - Straflageraufseher vorstellen[14]. Jüngere Journalisten schrieben in den tonangebenden Tageszeitungen im Land, nur noch Historiker würden sich für die blutigen und unblutigen ideellen Streitigkeiten, die Hitler, Goebbels und Strasser oder Trotzki, Stalin, Dubček und Tito untereinander geführt hatten, interessieren[15]. Etwas differenziertere Stimmen konzedieren den damaligen Reformern Bemühungen um mehr Menschlichkeit, bescheinigen ihnen jedoch zugleich eine illusorische, inkonsistente und schwächliche Politik, nach August 1968 sogar den Verrat nationaler Interessen und Missbrauch des öffentlichen Vertrauens. Die Hauptbedeutung des "Prager Frühlings" erblicken die Kritiker in seinem Scheitern, weil damit endgültig die Illusion der Reformierbarkeit des kommunistischen Systems beseitigt wurde.