Fluchtmigration nach Deutschland und Europa: Einige Hintergründe
Europäische Union: Anstieg der Flüchtlingszahl


Westbalkanroute
Die meisten syrischen Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Mittel- und Nordeuropa machen, nehmen die sogenannte Westbalkanroute. Diese führte ursprünglich von der Türkei über Griechenland, die westlichen Balkanstaaten Serbien und Mazedonien nach Ungarn und von dort aus weiter über Österreich nach Deutschland und Schweden. Grenzschließungen wie die Abriegelung der ungarisch-serbischen und der ungarisch-kroatischen Grenze trugen zu Verschiebungen der Flüchtlingsrouten bei, sodass Flüchtlinge ab Herbst 2015 zunehmend Kroatien und Slowenien passierten, um ihre Ziele in Zentraleuropa zu erreichen. Im November begann auch Slowenien mit der Errichtung eines Zaunes entlang der Grenze zu Kroatien. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch andere Länder an der Westbalkanroute nachziehen und ihre Grenzen ebenfalls baulich befestigen. Damit würde die Flüchtlingsroute zunehmend zu einer Sackgasse.Die große Zahl der Flüchtlinge, die von der Türkei aus in die EU gelangen, führte dazu, dass Griechenland Italien den Rang des Hauptersteinreiselandes in der EU ablief. Von der sogenannten zentralen Mittelmeerroute, die von Libyen oder Tunesien aus über das Mittelmeer nach Italien führt und die in den letzten Jahren im Fokus der medialen Aufmerksamkeit stand, wurde 2015 kaum noch berichtet. Dass im April 110 Kilometer vor der libyschen Küste fast 800 Schutzsuchende mit einem völlig überfüllten Schiff gekentert und ertrunken waren, geriet angesichts der Bedeutung der Westbalkanroute schnell in Vergessenheit. Da die türkisch-griechische Landgrenze mit einem Zaun abgeriegelt ist, setzen die Flüchtenden mit Booten von türkischen Küstenorten wie Bodrum aus auf die griechischen Ägäisinseln über. Laut UNHCR kamen von Anfang Januar bis Mitte Dezember rund 797.500 Menschen über den Seeweg nach Griechenland[7].
Kampf gegen Schlepper
Nicht alle überleben die Überfahrt. Anfang September ging das Bild des leblosen Körpers eines dreijährigen Jungen um die Welt, der an den Strand des türkischen Badeortes Bodrum gespült worden war. Die Rufe nach einem schärferen Vorgehen gegen "skrupellose Schlepper" wurden wieder lauter. Bereits die im Mai verabschiedete Europäische Agenda für Migration, die die strategischen Leitlinien der EU-Migrationspolitik für die kommenden Jahre festlegt, sieht vor, "Schleusernetze zu zerschlagen und gegen Schleuserkriminalität vorzugehen". Die EU hat einen entsprechenden Aktionsplan vorgelegt und im Juni die Marineoperation "EUNAVFOR Med" ins Leben gerufen. In einer ersten Phase wurden Informationen über die Aktivitäten von Schmugglernetzwerken und ihre Routen im südlichen Zentralen Mittelmeer gesammelt. Deutschland beteiligte sich mit zwei Kriegsschiffen an dieser Mission. In einer zweiten Phase, die am 7. Oktober begann, sollten dann in internationalen Gewässern vor Libyen und Italien verdächtige Schiffe angehalten, durchsucht und bei bestätigtem Verdacht des Menschenschmuggels beschlagnahmt oder umgeleitet werden. Auch an dieser Phase ist die deutsche Bundeswehr beteiligt. Anfang Oktober beschloss der Bundestag, dass bis zu 950 Marinesoldatinnen und -soldaten gegen Schlepper eingesetzt werden sollen. Nach monatelangen Verhandlungen hatte auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dem Militäreinsatz gegen Schlepper in internationalen Gewässern zugestimmt. Ob die EU-Operation, die inzwischen den Namen "Sophia" trägt, in einer dritten Phase gegen Boote oder Infrastrukturen von Schleppern in nationalen Hoheitsgebieten von Drittstaaten vorgeht, entscheidet der Rat der Europäischen Union. Ein solches Vorgehen würde ebenfalls der Zustimmung der UN oder der betroffenen Länder bedürfen. Für die EU ist der Kampf gegen das "kriminelle Schleusertum" ein zentrales Element in ihren Anstrengungen, den Fluchtbewegungen im Mittelmeerraum Herr zu werden. Dagegen merken Migrationsforscher und Vertreter von Flüchtlingshilfsorganisationen an, dass Menschen dadurch nicht davon abgehalten würden, in Europa Schutz zu suchen. Vielmehr würden durch die Abschottungspolitik die Routen immer länger und gefährlicher und die Dienstleistungen der Schlepper immer teurer, ihre Machenschaften skrupelloser. Um dem Geschäft der Schleuser den Nährboden zu entziehen, müssten stattdessen legale Einreisewege nach Europa geschaffen werden, etwa durch die Vergabe von humanitären Einreise-Visa oder den Ausbau von Resettlement-Programmen. Auf die Aufnahme größerer Flüchtlingskontingente konnten sich die EU-Mitgliedstaaten bislang allerdings nicht verständigen. Auch eine Einigung auf einen Verteilungsschlüssel, der die ankommenden Asylsuchenden gerechter auf die 28 Mitgliedstaaten verteilen würde, konnte 2015 trotz zahlreicher Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs nicht erzielt werden. Lediglich auf die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien konnten sie sich im September einigen. Der Prozess der Umsiedlung lief allerdings so schleppend an, dass bis Anfang November erst 116 Flüchtlinge auf andere EU-Staaten verteilt worden waren.Von der vielfach angemahnten europäischen Solidarität war 2015 wenig zu spüren. Statt einer gemeinsamen europäischen Lösung der Fragen, die die Flüchtlingszuwanderung aufwirft, scheint es eine Entwicklung hin zu einer Re-Nationalisierung der Migrations- und Asylpolitik zu geben. Immer mehr Staaten entschließen sich, ihre Grenzen wieder zu kontrollieren, um die Einreise von Asylsuchenden zu kanalisieren und in "geordnete Bahnen" zu lenken bzw. auch möglichst weitgehend zu unterbinden. Damit stehen offene Binnengrenzen, eine der Haupterrungenschaften der Europäischen Union, infrage.
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Über den europäischen Tellerrand geschaut: Die Flüchtlingssituation in Südostasien
* UNHCR (2015).
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Jahresrückblick Migration 2015.