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Vom Flüchtling zum Mitbürger: Welchen Beitrag kann die Zivilgesellschaft in Zukunft leisten? | Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft | bpb.de

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Vom Flüchtling zum Mitbürger: Welchen Beitrag kann die Zivilgesellschaft in Zukunft leisten?

Larissa Fleischmann

/ 9 Minuten zu lesen

Knapp eine Million Geflüchtete kam 2015 in Deutschland an. Zahlreiche Freiwillige leisteten schnelle und unbürokratische Hilfe. Wie aber kann sich zivilgesellschaftliches Engagement vom kurzeitigen 'Willkommen' hin zu einem nachhaltigen 'Ankommen' entwickeln?

Eine erste Hilfe: Freiwillige sortieren in Erfurt Kleiderspenden für Geflüchtete. (© picture-alliance/AP)

Rückblick: Die Willkommenskultur und der "Sommer der Migration"

Das Interner Link: Jahr 2015 war ein besonderes Jahr für die deutsche Migrationsgesellschaft: schätzungsweise eine Million Asylsuchende erreichten Deutschland – mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Bereits heute wird rückblickend von einem geschichtsträchtigen "Sommer der Migration" gesprochen, denn besonders in der zweiten Hälfte des Jahres stieg der Zustrom von Geflüchteten, die über die sogenannte 'Balkanroute' nach Deutschland einreisten, stark an. Fast täglich überquerten tausende flüchtende Menschen die deutsch-österreichische Grenze zu Fuß oder erreichten in überfüllten Zügen den Münchner Bahnhof. Bewegende Bilder in den Medien sorgten dafür, dass die Thematik in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte. Im Verlauf des Spätsommers war bald von einem "Ausnahmezustand" oder einer "Flüchtlingskrise" die Rede. Eine Krise, die sich u.a. in Form von politischen Differenzen, überforderten Behörden, zu geringen Unterbringungskapazitäten sowie logistischen und personellen Engpässen abzuzeichnen schien. Oft mangelte es am Nötigsten, Erstaufnahmeeinrichtungen waren hoffnungslos überfüllt und eilig wurden Notunterkünfte in Turnhallen oder als Zeltstädte eingerichtet, um zumindest die Obdachlosigkeit von Geflüchteten zu verhindern.

Trotz aufkeimender rassistischer Tendenzen in der deutschen Bevölkerung und vermehrten extremistischen Anschlägen auf Asylheime wurden diese Entwicklungen von einer Welle beispielloser zivilgesellschaftlicher Anteilnahme und Solidarität begleitet. Mehr deutsche Bürgerinnen und Bürger als jemals zuvor zeigten sich bereit, zu helfen und wurden aktiv, um einen Beitrag der zu leisten. Nicht selten überstieg die Zahl der ehrenamtlichen Helfer in Städten und Gemeinden gar bei weitem die Zahl der aufgenommenen Geflüchteten. Laut einer Studie aus dem April 2015 stieg die Zahl der ehrenamtlichen Helfer allein bis zu diesem Zeitpunkt um rund 70 Prozent an. An vielen Orten schlossen sich Engagierte zudem in neugegründeten Flüchtlingsinitiativen und Helferkreisen zusammen. Ehrenamtliche Tätigkeiten umfassen beispielsweise die Bereitstellung und Organisation von Sachspenden, die Unterstützung bei der Erstorientierung in Städten und Gemeinden, die Unterstützung bei Behördengängen und der Stellung von Asylanträgen, das Unterrichten von Sprachkursen oder die Organisation gemeinsamer Aktivitäten.

Auch von staatlicher Seite wurde diese Entwicklung begrüßt und aktiv gefördert: Die gegenwärtige Flüchtlingskrise könne nur mit einer aktiven Zivilgesellschaft gemeistert werden, die gemeinsam mit staatlichen Behörden eine "Willkommenskultur" für Geflüchtete in Deutschland schaffe, so die Annahme.

Gegenwärtige Herausforderungen: Zwischen Willkommen und Ankommen

Auch nach dem vermeintlichen Ende des "Sommers der Migration" sind die Herausforderungen nicht weniger geworden. Nach der Unterbringung und Erstversorgung der angekommenen Asylsuchenden ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass ein Großteil in naher Zukunft zurück in seine Heimat reist. Wahrscheinlicher ist, dass die Neuankömmlinge auch auf lange Sicht Teil der deutschen Migrationsgesellschaft werden. Um Parallelgesellschaften und gesellschaftliche Spannungen, die eine Rückkehr zu rechtsextremen Weltbildern fördern könnten, zu verhindern, erscheint es daher von hoher Bedeutung, die geflüchteten Menschen langfristig als Mitbürger anzuerkennen und zu integrieren.

Der Grat zwischen bloßer, kurzfristiger Hilfe und der aktiven Mitgestaltung des Zusammenlebens in Deutschland durch Bürgerinnen und Bürger ist allerdings schmal. Im Zuge der viel gepriesenen Willkommenskultur wurde deutlich, dass das Engagement für Geflüchtete nicht zwangsläufig positive Auswirkungen auf die Stärkung ihrer Rechte haben muss. Stattdessen kann unreflektierte Hilfe gar zu unerwarteten und problematischen Entwicklungen führen, die schlimmstenfalls Ungleichheiten verstärken anstatt sie abzubauen, und sich daher zum Nachteil geflüchteter Menschen auswirken. Solch aktuelle Gefahren, die kontraproduktiv auf die langfristige Inklusion Geflüchteter wirken könnten, sind beispielsweise die folgenden:

  • Durch "Helfer-Mentalitäten" können Abhängigkeiten entstehen und Ungleichheiten festgeschrieben werden:

    Das Verhältnis zwischen Asylsuchenden und helfenden Bürgerinnen und Bürgern wird auf ein einfaches Geben und Nehmen reduziert. Statt zu einem gleichberechtigten Miteinander kommt es so zu einem ungleichen Machtverhältnis zwischen passiven Hilfsempfängern oder Opfern und aktiven Helfern. Dabei sind es oft die Helfer, die die Konditionen und den Umfang der Hilfe definieren.


  • Eine einseitige Willkommenskultur kann die Auseinandersetzung mit umstrittenen Asylgesetzen und Formen von Rassismus verhindern:

    Geht die Solidarität und Hilfe für Geflüchtete nicht mit einer kritischen Diskussion der rechtlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einher, kann ein einseitig positives und selbstgenügsames Bild einer deutschen "Willkommenskultur" entstehen, obwohl geflüchtete Menschen nach wie vor vielfältiger Ungleichbehandlung ausgesetzt sind. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2014, dass Vorurteile und feindselige Einstellungen gegenüber Flüchtlingen bei etwa 44 Prozent der deutschen Bevölkerung und durchaus auch in der gesellschaftlichen Mitte weit verbreitet sind.


  • Die Unterscheidung zwischen "erwünschten" und "unerwünschten" Empfängern der Willkommenskultur kann zur Festschreibung von Diskriminierungen führen:

    Wenn sich die Hilfe nur an Gruppen von Menschen richtet, die anhand nationaler Stereotypen oder ökonomischen Werten definiert werden und es dadurch zu Ausschlüssen kommt, kann von einer Form "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" gesprochen werden. Eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie zum rechten Einstellungspotenzial in der deutschen Bevölkerung identifiziert dies als aktuelle Bruchstelle der Demokratie und warnt vor einem "marktförmigen Extremismus".

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  • Ehrenamtliches Engagement könnte dauerhaft staatliche Aufgaben übernehmen, sollte die Hilfe nicht mit der Forderung nach Reformen einhergehen:

    Viele engagierte Bürger sprangen oftmals dort ein, wo sich Behörden überfordert zeigten. Sie übernahmen zeitweise Aufgaben der Erstversorgung, die eigentlich von staatlicher Seite geleistet werden sollten. Im Falle eines langfristigen Ungleichgewichts zwischen staatlichen Aufgaben, gesetzlichen Rahmenbedingungen und bürgerlichem Engagement könnte dies zu einer Dauerlösung werden, was strukturelle Reformen verhindert.

Diese Gefahren könnten eine langfristige Integration von Geflüchteten und ihre Anerkennung als gleichberechtigte Mitbürger behindern. Vor diesem Hintergrund erscheint es von Bedeutung, dass sich das zivilgesellschaftliche Engagement in Zukunft vom kurzeitigen 'Willkommen' hin zu einem nachhaltigen 'Ankommen' weiterentwickelt.

Zukünftige Chancen: Wie kann die Integration von Menschen mit Fluchthintergrund aktiv mitgestaltet werden?

Die aktuellen Herausforderungen verdeutlichen, dass die Solidarität mit Geflüchteten eine Gratwanderung zwischen kurzfristiger Hilfe und der langfristigen Gestaltung einer inklusiveren Gesellschaft ist. Dass allerdings ein großes Potenzial in den neu entstandenen Solidaritätsstrukturen steckt, welches über die bloße humanitäre Hilfe hinausgeht, verdeutlicht eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung BIM. Es stellt fest, dass mit 74 Prozent ein Großteil der befragten Ehrenamtlichen als wichtiges Motiv für ihr Engagement angeben, sie wollten Gesellschaft aktiv mitgestalten.

Um geflüchtete Menschen langfristig als Teil unserer Gesellschaft und als Mitbürgerinnen und Mitbürger anzuerkennen, könnte zivilgesellschaftlichem Engagement damit auch in Zukunft eine zentrale Bedeutung zukommen. Engagierte Bürgerinnen und Bürger sind insofern von Bedeutung, als dass sie Brücken zur Aufnahmegesellschaft bauen, indem sie Austauschplattformen schaffen und als "Vermittler" zwischen einheimischen und geflüchteten Menschen wirken können. Zudem können sie auf Ungerechtigkeiten und Probleme hinweisen, Veränderungen fordern und so aktiv auf die Gestaltung des Zusammenlebens in Deutschland einwirken. Damit die Euphorie des bürgerschaftlichen Engagements, wie sie im "Sommer der Migration" zu spüren war, nicht verebbt, erscheint es daher umso wichtiger, über die zukünftige Ausgestaltung bürgerschaftlichen Engagements nachzudenken. Folgende Voraussetzungen könnten von Bedeutung zu sein, um die Inklusion geflüchteter Menschen in Zukunft positiv zu beeinflussen:

Zusammenarbeit auf Augenhöhe und "Hilfe zur Selbsthilfe"

Geflüchtete sollten in Zukunft vermehrt als eigenständige und autonome Mitbürgerinnen und Mitbürger anerkannt werden, die individuelle Bedürfnisse und Wünsche sowie eine eigene Stimme besitzen, um diese zu äußern. Insofern sollte der Fokus zivilgesellschaftlichen Engagements verstärkt darauf ausgerichtet sein, Begegnungen auf Augenhöhe zu schaffen, wie zum Beispiel in den neu entstandenen Asylcafés in vielen Städten Deutschlands. "Hilfe" sollte in diesem Zusammenhang als wechselseitige Interaktion, als Zusammenarbeit statt als lineares und einseitiges Verhältnis zwischen Geber und Empfänger verstanden werden. Zudem erscheint es wichtig, Geflüchtete zu befähigen, ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern. Um Abhängigkeiten vorzubeugen, sollte der Fokus von Engagement verstärkt auf einer nachhaltigen, bedarfsorientierten "Hilfe zur Selbsthilfe" liegen.

Die Stimmen der Geflüchteten hören

Die politische Theoretikerin Hannah Arendt, einst selbst vor dem Nazi-Regime in die USA geflüchtet, sah Geflüchtete als Ausgestoßene, welchen ein "Recht, Rechte zu haben" aberkannt wurde. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen erscheint es wichtig, Geflüchtete in Deutschland als Trägerinnen und Träger von Rechten anzuerkennen. Aktive Bürgerinnen und Bürger sollten geflüchteten Menschen daher ermöglichen, für sich selbst zu sprechen und sich selbst gegenüber politischen Instanzen und den Medien zu repräsentieren. Wichtige Grundlage ist hier die Aufklärung der Geflüchteten über demokratische Rechte und Pflichten sowie die eigene Möglichkeiten der Teilhabe. Das Projekt "Neuland.Wahl" des "Jmd2 Ortenau", das junge Geflüchtete über die baden-württembergische Landtagswahl informierte, ist ein erfolgreiches Beispiel.

Zudem bestehen schon seit einigen Jahren eigene Bestrebungen Geflüchteter, sich selbst zu organisieren und demokratische Rechte einzufordern. Dies wurde nicht zuletzt im Zuge der von Geflüchteten organisierten Externer Link: Refugee Konferenz in Hamburg deutlich, bei der mehr als 2000 Menschen zusammenkamen, um über die Rechte Geflüchteter zu diskutieren.

Auf Probleme hinweisen und Reformen einfordern

Die kurzfristige Hilfe in akuten Notlagen, insbesondere im Bereich der Aufnahme und Erstversorgung, sollte mit Bemühungen verbunden sein, staatliche Reformen einzufordern, um so die langfristige Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Zivilgesellschaft zu verhindern. Aktive Bürgerinnen und Bürger sollten problematische Gesetze und Strukturen daher thematisieren. Der oft einseitig positiven Darstellung der 'Willkommenskultur' könnte ein Verweis auf aktuelle rechtliche oder gesellschaftliche Defizite entgegengestellt werden, die sich negativ auf die Teilhabe und Inklusion von Geflüchteten auswirken. Hierzu zählen u.a. umstrittene Asylrechtsverschärfungen oder das geplante Integrationsgesetz welches eine akute Verschlechterung der Situation Geflüchteter herbeiführen könnte und von Seiten der Geflüchteten als erheblicher Eingriff in ihre Rechte gedeutet wird.

Um der Forderung nach Reformen mehr Gewicht zu verleihen, könnten sich Initiativen auf regionaler oder Landesebene zusammenzuschließen, wie das erfolgreiche Beispiel "Bündnis gegen Abschiebungen" aus Osnabrück zeigt. Als unabhängige Interessenvertretung engagierter Bürgerinnen und Bürger auf Landesebene spielen die Externer Link: Landesflüchtlingsräte zudem eine bedeutsame Rolle. Diese leisten einen wichtigen Beitrag zur politischen Meinungsbildung von Engagierten, indem sie über aktuelle Entwicklungen und politische Entscheidungen informieren, zum Beispiel in Form von Newslettern oder Fortbildungen.

Fazit: Anerkennung, ein Schlüsselwort

Auch in Zukunft wird zivilgesellschaftliches Engagement von besonderer Bedeutung für die angekommenen Geflüchteten in Deutschland sein. Nach der kurzfristigen Hilfe in akuten Notlagen treten aktuell jedoch neue Herausforderungen in den Vordergrund, die die langfristige Inklusion geflüchteter Menschen als gleichberechtigte Mitbürgerinnen und Mitbürger betreffen.

Auf lange Sicht sollte eine engagierte Zivilgesellschaft die Anerkennung geflüchteter Menschen als autonome Akteure, als gleichberechtigte Mitbürger, als Individuen mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und einer eigenen Stimme, unterstützen. Die unmittelbare humanitäre Hilfe und Integrationsarbeit sollte daher durch Maßnahmen begleitet werden, die zu langfristigen Änderungen der strukturellen Bedingungen in Deutschland führen. Dies betrifft nicht nur staatliche und gesetzliche Defizite, sondern auch Formen von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Rassismus, die trotz der vielgepriesenen "Willkommenskultur" nach wie vor bestehen. Auf diese Weise könnten aktive Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft einen nachhaltigen Beitrag zur Mitgestaltung einer offenen und inklusiveren Migrationsgesellschaft in Deutschland leisten.

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft".

Weitere Inhalte

Larissa Fleischmann ist Doktorandin im Doktorandenkolleg "Europa in der globalisierten Welt" am Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration" an der Universität Konstanz.