Kanadas Migrations-, Flüchtlings- und Asylpolitik: Entwicklungen seit 2015
Seit 2015 hat die liberale Regierung von Justin Trudeau die kanadische Migrations-, Flüchtlings- und Asylpolitik reformiert. Was bedeuten diese Änderungen vier Jahre (und eine bevorstehende Wahl) später?
2015: Antritt der Trudeau-Regierung
Als die Liberale Partei 2015 die kanadische Parlamentswahl gewann, endete nach fast zehnjähriger Amtszeit die Ära von Stephen Harpers Konservatismus. Unter der Führung von Justin Trudeau, dem Sohn des verstorbenen langjährigen Premierministers Pierre Elliott Trudeau, setzte sich die Liberale Partei nachdrücklich für eine großzügigere Einwanderungspolitik ein. Im Vorfeld der Wahlen sorgte das Foto von Alan Kurdis leblosem Körper an einem türkischen Strand für heftige Diskussionen. Die Familie hatte versucht, in Kanada, wo bereits Familienangehörige lebten, Asyl zu beantragen, um dem Krieg in Syrien zu entkommen. Als das nicht gelang, floh sie in einem Boot über die Ägäis – eine Reise, die dem zweijährigen Alan, seinem fünfjährigen Bruder und seiner Mutter das Leben kosten sollte. Die kanadische Verbindung des Alan Kurdi-Fotos machte die Einwanderung für einen Großteil der Wähler_innen zu einem zentralen Wahlthema. Trudeaus Regierung schien die während ihres Wahlkampfs gemachten Zusagen zunächst zu erfüllen, indem sie bis Ende Dezember 2015 – in den ersten beiden Monaten nach ihrem Wahlsieg – 25.000 syrische Flüchtlinge in Kanada aufnahm.Die liberale Regierung schien entschlossen zu sein, Politik anders zu betreiben als ihre Vorgängerin. Eine der ersten Änderungen war die Umbenennung der Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsbehörde (Citizenship and Immigration Canada (CIC)) in Einwanderungs-, Flüchtlings- und Staatsbürgerschaftsbehörde (Immigration, Refugees and Citizenship Canada, IRCC). Dadurch wurde das Engagement der neuen Regierung für Flüchtlinge als Teil des Mandats der Behörde hervorgehoben. 2017 ernannte Trudeau Ahmed Hussen zum neuen Einwanderungsminister. Unter Hussen begann die Einwanderungsbehörde, mehrjährige Pläne zu Zielgrößen für die Zulassung von Einwanderer_innen zu erstellen. Dies bedeutete eine Abkehr von den Einjahresplänen der konservativen Vorgängerregierung. [1] Er stellt damit eine Abkehr von der auf Flüchtlinge ausgerichteten Politik dar, die ein starkes Element von Trudeaus Wahlkampagne im Jahr 2015 war. Während der vier Jahre, die die Trudeau-Regierung bislang im Amt war, gab es Änderungen in allen Bereichen der Einwanderungspolitik und -gesetzgebung.
Tabelle 1: 2019-2021 Plan zu Zielgrößen für die Einwanderung (Immigration Levels Plan)
2019 | 2020 | 2021 | ||||
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Projizierte Zahl aufzunehmender Einwander_innen | 330.800 | 341.000 | 350.000 | |||
Projizierte Zulassungsgrößen – Spektrum | Niedrig | Hoch | Niedrig | Hoch | Niedrig | Hoch |
Einwanderung zum Zweck der Erwerbstätigkeit (Staatliche Kategorien wirtschaftlicher Einwanderung und im Rahmen der Einwanderungsprogramme von Provinzen und Territorien nominierte Personen) | 142.500 | 176.000 | 149.500 | 172.500 | 157.500 | 178.500 |
Von Quebec ausgewählte qualifizierte Arbeitskräfte | Noch festzulegen | Noch festzulegen | Noch festzulegen | Noch festzulegen | Noch festzulegen | Noch festzulegen |
Familienzusammenführung | 83.000 | 98.000 | 84.000 | 102.000 | 84.000 | 102.000 |
Flüchtlinge, geschützte Personen, humanitäre und andere Gründe | 43.000 | 58.500 | 47.000 | 61.500 | 48.500 | 64.500 |
Gesamt | 310.000 | 350.000 | 310.000 | 360.000 | 320.000 | 370.000 |
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Fakten auf einen Blick
- In Kanada gibt es verschiedene Aufnahmekategorien, die es Einwanderer_innen ermöglichen, dauerhaft im Land zu bleiben: die Wirtschaftskategorie, die Kategorie zur Einwanderung aus familiären Gründen, die Kategorie der Flüchtlinge und Schutzbedürftigen sowie schließlich humanitäre Bestimmungen, die im Einzelfall gewährt werden können.* Die Hauptherkunftsländer von Menschen, die über eine dieser Kategorien nach Kanada einwandern, sind die Philippinen, Indien, China, Iran, Pakistan, die Vereinigten Staaten und Syrien.**
- Die kanadische Staatsbürgerschaft erhalten Personen, die auf kanadischem Hoheitsgebiet geboren werden (jus soli). Sie kann einmalig an die nächste Generation vererbt werden (jus sanguinis).
- Seit 1988 fordert das offizielle kanadische Multikulturalismus-Gesetz (Multiculturalism Act) den Erhalt und die Stärkung des Multikulturalismus in Kanada.*** Im Rahmen dieser Politik wird Multikulturalismus als wesentlicher und grundlegender Bestandteil des kanadischen Erbes und der kanadischen Identität verstanden und somit durch das Gesetz geschützt und gefördert.
- Die Integration von Zugewanderten wird durch Niederlassungsprogramme (settlement programs) unterstützt, die teilweise von der Regierung finanziert werden. Diese Programme fördern unter anderem Orientierung, Sprachkenntnisse und Zugang zum Arbeitsmarkt.
** Statistics Canada (2017): Immigrant Population in Canada, 2016 Census of Population. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2017. https://www150.statcan.gc.ca/n1/pub/11-627-m/11-627-m2017028-eng.htm (Zugriff: 20.6.2019).
*** Canadian Justice Laws (2019): Canadian Multiculturalism Act. https://laws-lois.justice.gc.ca/eng/acts/c-18.7/ (Zugriff: 20.6.2019).
Änderungen der Wirtschaftskategorie: Ländlicher und nördlicher Fokus
In Kanada wird Einwanderung häufig als Mittel der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung betrachtet. Kanadas bekanntes Punktesystem bevorzugt hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte. Das System weist Personen, die über die Wirtschaftskategorie einwandern wollen, Punkte nach sechs Auswahlfaktoren zu: Kenntnisse der Amtssprache (Englisch und/oder Französisch), Alter, Ausbildung, Berufserfahrung, Stellenangebot in Kanada und Anpassungsfähigkeit.[2] Je mehr Punkte erzielt werden, desto höher ist die Chance, dass eine Person im Rahmen des staatlichen Programms für qualifizierte Arbeitskräfte (Federal Skilled Worker Program) nach Kanada einwandern darf.Im März 2019 kündigte die Trudeau-Regierung eine neue Initiative für die Wirtschaftskategorie an: das Rural and Northern Community Pilot Program. Dieses Pilotprogramm hilft kleineren Gemeinden in ländlichen Regionen und im Norden des Landes, Wirtschaftsmigrant_innen zu rekrutieren, um ihre wirtschaftlichen und arbeitsmarktbezogenen Bedürfnisse zu befriedigen.[3] Für Neueinwandernde scheinen größere Städte wie Vancouver, Toronto und Montreal häufig einen besseren Zugang zu Dienstleistungen und Arbeitsmarktchancen zu bieten. Die Konzentration auf ländliche und nördliche Gemeinden könnte eine Verlagerung hin zu einer Dezentralisierung der Einwanderungspolitik bedeuten. Lokale Gemeinschaften haben jetzt eine Stimme bei der Gestaltung einer Einwanderungspolitik, die sich an der wirtschaftlichen Nachfrage ausrichtet und nicht nur kompetenzorientiert ist.
Familienzusammenführung und Bürgschaft: Neues Jahr, neuer Plan
Kanadische Staatsangehörige und dauerhafte Einwohner_innen können für Familienmitglieder bürgen und ihnen so im Rahmen der Familienkategorie die Einwanderung ermöglichen. Lebenspartner, Ehepartner, Eltern, Großeltern und unterhaltsberechtigte Kinder gelten als zuwanderungsberechtigte Familienangehörige, nicht jedoch Geschwister, Cousins und Cousinen, Tanten oder Onkel.[4] Seit 2015 haben sich die Regeln zur Zuwanderung über die Bürgschaften für Eltern und Großeltern geändert. Diese Zuwanderung wurde lange im Rahmen eines Papierantragssystems geregelt, das nach dem Prinzip "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" betrieben wurde. 2017 wurde es durch ein Online-Lotteriesystem ersetzt. Im neuen Lotteriesystem wählte die Einwanderungsbehörde nach dem Zufallsprinzip 10.000 Anträge aus, die dann in den Aufnahmeprozess überführt wurden. Dieses Lotteriesystem war umstritten und wurde von Bürgen (sponsors), Einwanderungsanwält_innen und Politiker_innen anderer kanadischer Parteien als unfair und "auf Glück basierend" kritisiert.Das Programm zur Familienzusammenführung änderte sich 2018 erneut, als die Einwanderungsbehörde bekannt gab, dass sich Kanada in den nächsten zwei Jahren zur Aufnahme von 40.000 Eltern und Großeltern verpflichten würde.[5] Damit ging auch die Nachricht einher, dass das System wieder nach dem alten "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst"-Prinzip verfahren würde. Die 27.000 im Jahr 2019 verfügbaren Plätze für den Familiennachzug wurden innerhalb weniger Minuten nach Öffnung des Bewerbungsportals am 28. Januar 2019 besetzt.

