Wie afrikanische Regionen Migration regeln: Personenfreizügigkeit in West- und Nordost-Afrika
In der EU gilt Freizügigkeit als wichtige Errungenschaft. Auch Großregionen in Afrika wollen intraregionale Migration durch den Abbau von Hindernissen fördern. Diesen Bestrebungen stehen aber Sicherheitsinteressen gegenüber – nicht zuletzt die der EU.
Durch die stark angestiegenen Zahlen von – aus europäischer Sicht – irregulären Migrantinnen und Migranten, die versuchen, das Gebiet der Europäischen Union zu erreichen, ist die sogenannte Fluchtursachenbekämpfung nach 2015 ein zentrales Feld europäischer Politik geworden. Gerade der afrikanische Kontinent steht im Mittelpunkt von entwicklungs- und sicherheitspolitischen Initiativen, die das Ziel verfolgen, Menschen aus Afrika von dem gefährlichen Weg nach Europa abzuhalten. Dabei wird häufig übersehen, dass sich der Großteil der Menschen, die in Afrika ihre Heimat verlassen, innerhalb des Kontinents bewegt – und nicht in Richtung EU. Viele Migrantinnen und Migranten – das schließt auch Geflüchtete ein – bleiben dabei in der Herkunftsregion (z. B. innerhalb West-Afrikas; siehe Tabelle). Wie aber begegnen die afrikanischen Regionalorganisationen dieser Migration? Gibt es hier Bestrebungen nach Personenfreizügigkeit wie in Europa? Wie äußert sich in den afrikanischen Regionen der Einfluss der Europäischen Union, wenn es um innerafrikanische Migration und vor allem um die Frage der Freizügigkeit geht?
Migration innerhalb Afrikas
Migration und das Überwinden von Grenzen spielen im afrikanischen Kontext seit jeher eine besondere Rolle. Als vor rund 60 Jahren ein Großteil der afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit von den alten europäischen Kolonialmächten erlangte, gab es Bestrebungen, die von diesen zumeist willkürlich gezogenen Staatsgrenzen zu überwinden. Dieser panafrikanische Gedanke führte dazu, dass afrikanische Länder und Organisationen sich immer wieder zum Ziel der Personenfreizügigkeit bekannten – also dem Prinzip, dass Bürgerinnen und Bürger eines Landes ohne größere Beschränkungen in ein anderes Land einreisen, dort wohnen und arbeiten dürfen, so wie es die Europäische Union Anfang der 1990er Jahre im Rahmen des Schengen-Abkommens in Europa etablierte.Im Jahr 2018 wurde eine afrikanische Freihandelszone gegründet, welche auch eine Afrikanische Wirtschaftsgemeinschaft zur Freizügigkeit von Personen und zum Recht auf Aufenthalt und Niederlassung vorsieht. Aber auch der Schutz von Geflüchteten spielt für die meisten afrikanischen Länder und Organisationen eine besondere Rolle. Dies kommt etwa durch die Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit aus dem Jahr 1969 zum Ausdruck, die über die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention deutlich hinausgeht.[1]
Dieses Bekenntnis zu Freizügigkeit und zum Flüchtlingsschutz liegt auch darin begründet, dass Flucht- und Migrationsbewegungen innerhalb des afrikanischen Kontinents weitaus stärker ausgeprägt sind als die in Richtung Europa oder anderer Erdteile. Gerade innerhalb der afrikanischen Regionen gibt es viel Mobilität: In West-Afrika etwa migrieren über 80 Prozent der internationalen Migrantinnen und Migranten in ein anderes westafrikanisches Land.
Anteil der intraregionalen Migration an allen grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen in afrikanischen Regionen/Regionalorganisationen
East African Community (EAC) | 55% |
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Union du Maghreb Arabe (AMU) | 5% |
Economic Community of Central African States (ECCAS) | 39% |
Economic Community of West African States (ECOWAS) | 89% |
Intergovernmental Authority on Development (IGAD) | 85% |
Southern African Development Community (SADC) | 44% |
Quelle: UNDESA (2019): International Migrant Stock: The 2019 Revision. https://www.un.org/en/development/desa/population/migration/data/estimates2/estimates19.asp (Zugriff: 11.05.2020). Eigene Berechnung.
Das Thema Migration bei den Organisationen ECOWAS und IGAD
Neben der Afrikanischen Union (AU) als Organisation für den gesamten Kontinent haben afrikanische Staaten in den letzten Jahrzehnten Regionalorganisationen gegründet, wie etwa die Economic Community of West African States (ECOWAS) mit 15 Mitgliedstaaten in Westafrika, die Intergovernmental Authority on Development (IGAD) mit derzeit sieben Ländern in Nordostafrika oder die Southern African Development Community (SADC) mit 16 Staaten im südlichen Afrika. Diese vertreten die wirtschaftlichen und politischen Belange ihrer jeweiligen Region und verfügen über recht unterschiedliche Themenschwerpunkte und Regelungskompetenzen.[2]Gemäß mehrerer Schlüsselabkommen der AU fällt die Einführung der Personenfreizügigkeit in die Verantwortung der Regionalorganisationen. Doch in den meisten Regionen stößt die Umsetzung auf zahlreiche Hindernisse. Ein Beispiel stellt die westafrikanische ECOWAS [3] dar, die – nur kurz nach ihrer Gründung – im Jahr 1979 ein Freizügigkeitsprotokoll formulierte. Dieses sieht einen schrittweisen Übergang von visumfreier Einreise und Aufenthalt zum Recht auf Beschäftigung und Niederlassung in ihren 15 Mitgliedstaaten vor. Obwohl nicht alle Mitgliedsländer das Recht auf Niederlassung ratifiziert haben, gilt der politische Rückhalt für das Protokoll im regionalen Kontext als hoch.
Anders sieht die Situation bei der IGAD in Nordostafrika [4] aus. In der Region gibt es bisher kein Freizügigkeitsabkommen. Allerdings bemüht sich die Organisation mit Unterstützung der EU derzeit darum, dass ihre Mitgliedstaaten einen Entwurf für ein Freizügigkeitsprotokoll und einen "Fahrplan" zu dessen Einführung für ihre Bürgerinnen und Bürger verabschieden. Mit Migrationsthemen im Allgemeinen beschäftigt sie sich erst seit knapp zehn Jahren. Die bisherigen Programme beziehen sich auf ein verbessertes Migrations- und Grenzmanagement (zur Verhinderung irregulärer Migration), die Einführung von nationalen Migrationspolitiken in den Mitgliedstaaten der IGAD sowie den Umgang mit grenzüberschreitenden Flüchtlingskrisen. Ein Beispiel sind die regionale Nairobi-Erklärung und der dazugehörige Aktionsplan (Nairobi Declaration and Action Plan) zur Lösung der somalischen Flüchtlingskrise.
Worauf ist das sehr unterschiedliche Interesse der beiden Regionen für die Migrationsthematik zurückzuführen? Eine wichtige Rolle dürften die jeweilige Regionalgeschichte und die unterschiedlichen Interessenslagen politischer Eliten spielen. Seit der Unabhängigkeit der westafrikanischen Staaten gab es Bestrebungen, die kolonial geprägten Sprach- und Landesgrenzen durch die Intensivierung wirtschaftlicher und Handelskooperation zu überwinden – zumal es in der Region traditionell gewachsene Migrationsmuster gibt. Für Nordostafrika – eine von Dürrekatastrophen und gewaltsamen (u.a. zwischenstaatlichen) Konflikten geprägte Region – stand hingegen der Umgang mit humanitären Krisen im Vordergrund. In diesem Kontext wurden regionale Freizügigkeit und damit einhergehende schrittweise Grenzöffnungen in erster Linie als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Auch deshalb konnte die Diskussion über die Einführung eines Freizügigkeitsprotokolls erst nach dem Zustandekommen des Friedensabkommens zwischen Äthiopien und Eritrea im Jahr 2018 Fahrt aufnehmen.
Neben regionalspezifischen Problem- und Interessenslagen sind auch institutionelle Faktoren bedeutend. So besitzt die ECOWAS im Gegensatz zur IGAD stabilere Institutionen und ein formal abgesichertes Mandat zur Verabschiedung von Gesetzen und politischen Zielen. Die IGAD hingegen verfügt nicht über eigene, den Mitgliedstaaten übergeordnete (migrations-)politische Entscheidungskompetenzen. Sie kann nur unverbindliche Empfehlungen aussprechen.[5]
Der Einfluss der Europäischen Union
Die Europäische Union hat seit den 2000er Jahren die migrationspolitische Zusammenarbeit mit Subsahara-Afrika zunehmend ausgeweitet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Westafrika und dem Horn von Afrika – den Hauptherkunftsregionen sogenannter irregulärer Migrantinnen und Migranten in Europa. Dies zeigt sich insbesondere im 2015 geschaffenen Finanzfonds European Emergency Trust Fund for Africa (EUTF), der vor allem migrationsbezogene Projekte in Ländern der Sahel- und Tschadsee-Region und am Horn von Afrika fördert. Darüber hinaus hat die EU 2016 mit Äthiopien, Mali, Niger, Nigeria und Senegal sogenannte Migrationspartnerschaften geschlossen. Schwerpunkt dieser Aktivitäten ist die Bekämpfung irregulärer Migration.[6]Demgegenüber spielt die Förderung von Freizügigkeit eine immer geringere Rolle. So läuft ein großes Regionalprogramm der EU zur Unterstützung der Freizügigkeit in Westafrika im Jahr 2020 aus, eine Folgephase ist vorerst nicht geplant. In der IGAD-Region fördert die EU zwar mit Mitteln aus dem EUTF derzeit die Einführung eines Freizügigkeitsprotokolls.[7] Die dafür aufgewendeten zehn Millionen Euro sind jedoch gemessen am EUTF-Gesamtvolumen von fast 1,5 Milliarden Euro für die Region sehr gering.[8]
Ungeachtet der Hindernisse und Schwierigkeiten innerhalb der Regionen selbst, erschweren vor allem die im Rahmen des EUTF durchgeführten migrationspolitischen Maßnahmen der EU die Umsetzung von Freizügigkeit in Subsahara-Afrika. So sind in Westafrika die Folgen besonders problematisch: Bestehende Rechte der Bevölkerung der ECOWAS-Staaten zur visumfreien Ein- und Ausreise innerhalb der Region werden durch verstärkte und durch die EU unterstützte Kontrollaktivitäten in Transit- und Grenzorten wie etwa der Stadt Agadez in Niger regelrecht untergraben. In Ostafrika wird die EU hingegen noch als eine Institution wahrgenommen, die Freizügigkeit unterstützt. Hier besteht aber die Gefahr, dass ohne deutlich umfangreichere Förderung und Finanzierung bisher Erreichtes wieder "verpufft" – nicht zuletzt angesichts der bewaffneten Konflikte und politischen Instabilität, die die Region prägen.[9]