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Die Krise um die Migration aus Venezuela | Regionalprofil Südamerika | bpb.de

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Die Krise um die Migration aus Venezuela

Luisa Feline Freier Soledad Castillo Jara

/ 15 Minuten zu lesen

In den vergangenen Jahren haben Millionen von Venezolaner/-innen ihr Herkunftsland verlassen. Wie lässt sich dies erklären und wie werden die Migrant/-innen von anderen südamerikanischen Ländern aufgenommen? Ein Überblick.

Leere Regale in einem Supermarkt in Caracas/Venezuela im Januar 2019. Selbst wenn Lebensmittel in den Supermärkten angeboten werden, sind sie aufgrund der Hyperinflation für viele unerschwinglich geworden. (© picture-alliance, ZUMA Press)

Seit Anfang 2015 haben Interner Link: aufgrund der schweren ökonomischen, politischen und humanitären Krise des venezolanischen Staates über 4,75 Millionen Venezolaner/-innen – mehr als 15 Prozent der Gesamtbevölkerung – ihr Land verlassen. Rund 80 Prozent der Emigrant/-innen haben sich in Lateinamerika und der Karibik niedergelassen. Nur eine Minderheit, die sich eine Flugreise leisten konnte und die Visumanforderungen erfüllte, migrierte in die USA, nach Kanada oder in südeuropäische Länder wie Spanien, Portugal und Italien. Mit Stand Januar 2020 wurden die meisten venezolanischen Migrant/-innen und Interner Link: Flüchtlinge von folgenden Ländern aufgenommen: Kolumbien (1,63 Millionen), Peru (864.000), Chile (371.000), Ecuador (385.000) und Brasilien (224.000). Mit Ausnahme Chiles hatten alle diese Länder in ihrer jüngeren Geschichte mehr Erfahrung mit der Auswanderung ihrer Staatsangehörigen als mit Zuwanderung aus dem Ausland. Daher taten sich die Regierungen dieser Staaten schwer, auf den raschen Anstieg der (Zwangs-)Migration aus Venezuela effizient zu reagieren.

Drei Phasen der Auswanderung

In der jüngeren Geschichte gab es drei Phasen der Auswanderung aus Venezuela. Die erste Phase begann im Jahr 2000 als Interner Link: Hugo Chávez für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wurde. Die Hauptmotive der damals einsetzenden Auswanderung waren Massenenteignungen, die Verstaatlichung von Industrien, wachsende Unsicherheit sowie soziale und politische Spannungen. In dieser Phase emigrierten vor allem Angehörige der Mittelschicht, Geschäftsleute und Studierende. Aufgrund des relativen Wohlstands dieser Gruppen waren die Hauptzielländer bzw. -regionen der Migration die USA und Europa. Der Beginn der zweiten Auswanderungsphase lässt sich auf 2012 datieren, als der Boom für lateinamerikanische Exportgüter (insbesondere Rohstoffexporte) endete und Hugo Chávez für eine dritte Amtszeit in Folge wiedergewählt wurde. Zu diesem Zeitpunkt schwächelte die venezolanische Wirtschaft bereits und das Profil der Auswandernden verschob sich in Richtung weniger privilegierter Bevölkerungsteile. Aufgrund dieser Verschiebung wurden geografisch näher liegende und mit geringeren finanziellen Mitteln zu erreichende Länder wie Kolumbien, Panama und die Dominikanische Republik zu den Hauptzielländern.

Die dritte und aktuelle Phase begann um 2015, nachdem im Jahr 2013 Hugo Chávez gestorben und Interner Link: Nicolás Maduro zum Präsidenten gewählt worden war. Zwei Jahre nach Maduros Wahl hatte die Krise in Venezuela bereits ein bedrohliches Ausmaß erreicht. Viele Venezolaner/-innen sehen in der Auswanderung mittlerweile die einzige Möglichkeit, das eigene Überleben zu sichern. In dieser dritten Auswanderungsphase wird das demografische Profil der Emigrant/-innen sehr heterogen. Es umfasst nun auch Angehörige unterer Schichten, die sich kein Flugticket oder keine Busfahrkarte leisten können und somit keine andere Wahl haben, als sich trotz der damit verbundenen Gefahren zu Fuß auf den Weg in Nachbarländer wie Interner Link: Kolumbien, Ecuador oder Peru zu machen. Die wachsende Vulnerabilität der Migrant/-innen und der zunehmend illegale Charakter ihrer Migration stellen die aufnehmenden Staaten vor gewaltige Herausforderungen.

Die jüngere politische Geschichte

Wie konnte es dazu gekommen, dass ein Land, das vor nicht allzu langer Zeit noch das reichste in der Region und ein wichtiges Zielland für Migrant/-innen war, sich zu einem Staat wandelte, dessen Strukturen zusammengebrochen sind und dessen Bevölkerung fliehen muss, um zu überleben? In den 1970er Jahren, als viele Länder Lateinamerikas von diktatorischen Militärregierungen beherrscht wurden, Interner Link: war Venezuela ein demokratisches und wohlhabendes Land. Mit seiner florierenden Wirtschaft und dem hohen Lebensstandard stellte Venezuela aus der Sicht von Bürger/-innen aus anderen lateinamerikanischen Ländern – wie Kolumbien, Ecuador, Peru, Chile und Argentinien – ein attraktives Migrationsziel dar. Die Migrant/-innen suchten bessere Arbeitsmöglichkeiten oder fühlten sich in ihren Heimatländern wegen ihrer politischen Ansichten und/oder aufgrund von innerstaatlichen Konflikten bedroht. Allerdings war die venezolanische Wirtschaft damals – und ist es bis heute – in hohem Maße vom Ölpreis abhängig. Als dieser in den 1980er Jahren einbrach, entstand eine problematische Staatsverschuldung. Die Regierung musste im Gegenzug für die Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds Anpassungen vornehmen und ihre Politik stärker marktwirtschaftlich ausrichten. Dies führte zu Unruhe in den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten.

Im Laufe der Jahre bildete diese Politik zunehmend einen fruchtbaren Nährboden für linksgerichtete Ideen. 1998 gewann Hugo Chávez die Präsidentschaftswahl in Venezuela mit dem Versprechen, für mehr Gleichheit zu sorgen. Der Weg dazu sollte der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" sein, ein ökonomisches und politisches Konzept in Anlehnung an die Ideen des deutschen Soziologen Heinz Dieterich. Chávez profitierte zu Beginn seiner Regierungszeit von einem Anstieg des internationalen Ölpreises und leitete den Reichtum des Landes in staatliche Unterstützungsleistungen und Sozialprogramme für die Armen um. Trotz anfänglicher Erfolge entwickelte Chávez‘ Politik jedoch zunehmend interventionistische Züge und erwies sich als langfristig nicht tragbar. Nach Chávez‘ Tod war sein Nachfolger Nicolás Maduro mit einem neuerlichen Rückgang des Ölpreises sowie mit den negativen Folgen des jahrelangen wirtschaftlichen Missmanagements konfrontiert, die sich unter seiner Regierung noch weiter verschlimmerten. Nach Einschätzung der Interner Link: Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist die derzeitige Krise in Venezuela nicht einfach nur eine Nebenfolge des Ölpreisverfalls, sondern eindeutig auf die Politik der venezolanischen Regierungen seit 1999 zurückzuführen.

Die aktuelle Krise des venezolanischen Staates

Der venezolanische Staat erfüllt gegenwärtig nicht die Grundfunktionen eines funktionierenden demokratischen Staates: Sicherung des physischen Lebens seiner Bürger/-innen sowie Gewährleistung ihrer Sicherheit und Freiheit. Anfang 2019 hatten acht von zehn Venezolaner/-innen ihre Kalorienaufnahme reduziert, weil sie sich nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgen konnten, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat mindestens elf Kilogramm Gewicht verloren. Selbst wenn Lebensmittel in den Supermärkten angeboten werden, sind sie aufgrund der Hyperinflation unerschwinglich geworden. Im April 2019 beispielsweise reichte der kaufkraftbereinigte Mindestlohn nur für 4,7 Prozent des Lebensmittelwarenkorbs einer Familie.

Der Lebensmittelwarenkorb für Familien

In vielen Ländern Lateinamerikas gibt es einen definierten Lebensmittelwarenkorb für Familien ("canasta familiar de alimentos") als Zusammenstellung verschiedener Grundnahrungsmittel, die den Energiebedarf aller Familienmitglieder decken sollen. Der Preis dieses Warenkorbs wird von staatlichen Ministerien häufig als Maßstab bei der Festlegung von Mindestlöhnen für unterschiedliche sozio-ökonomische Gruppen herangezogen.*

*M. Flores/V. W. Bent (1980): Canasta familiar de alimentos, definicion y metodologia. Externer Link: https://repositorio.cepal.org/handle/11362/26329 (Zugriff: 06.11.2019).

Bereits Anfang 2019 lebten rund 87 Prozent der fast 29 Millionen Venezolaner/-innen in Armut; die Quote der extremen Armut lag bei über 60 Prozent. Selbst die sogenannten CLAP-Kartons (von Comité Local de Abastecimiento y Producción) der lokalen, von der Regierung unterstützten Komitees zur Lebensmittelverteilung an Arme entsprachen nicht mehr den Anforderungen an eine ausreichende Ernährung.

Ebenso liegt das öffentliche Gesundheitssystem am Boden. Nach einem Bericht der OAS aus dem Jahr 2019 betrug die Unterversorgung mit Morphin 78 Prozent, mit Medikamenten zur Blutdrucksenkung 68 Prozent und mit Insulin 52 Prozent. In den Krankenhäusern fehlten 88 Prozent der Medikamente sowie 79 Prozent des benötigten medizinischen Materials und Operationsmaterials. Aufgrund des Mangels an Reagenzien war nicht ein einziges Labor des öffentlichen Gesundheitssystems vollständig funktionsfähig. Gleichzeitig waren nur 53 Prozent der Operationssäle nutzbar und 70,7 Prozent der Krankenhaus-Notaufnahmen funktionierten entweder nur eingeschränkt oder mit Unterbrechungen, beides in erster Linie bedingt durch Strom- und Wassermangel. Neben dieser Unterversorgung besteht der Verdacht einer Politisierung der Gesundheitsfürsorge in Venezuela. So berichten kubanische Ärzte, die mit weiterem medizinischen Personal aus Kuba zu tausenden für eine gewisse Zeit in Venezuela arbeiten, laut der New York Times und der BBC, dass die Erbringung dieser wesentlichen öffentlichen medizinischen Dienstleistungen strategisch genutzt werde, um Wähler/-innen zur Stimmabgabe für die regierende Partei zu bringen.

Nach Ansicht der OAS wird unter anderem über den sogenannten "Heimatausweis" (Carnet de la Patria) soziale Kontrolle ausgeübt. Dieser Identitätsnachweis wird benötigt, um Zugang zu Sozialleistungen zu erhalten, wie z.B. Lebensmittelhilfe, Medizin, Wohnungen oder Arbeit. So sollen die auf dem Heimatausweis gespeicherten Daten dazu genutzt worden sein, um das Wahlverhalten der venezolanischen Staatsbürger/-innen 2017 und 2018 transparent zu machen; auch sollen über den Ausweis personenbezogene Daten wie z.B. Einkommen, Eigentumsverhältnisse, Krankengeschichte, Mitgliedschaft in politischen Parteien oder Teilnahme an Wahlen gespeichert worden sein. Ziel sei es dabei, soziale (Dienst-)Leistungen von der Loyalität gegenüber dem Regime abhängig zu machen.

Was die Gewährleistung von Sicherheit angeht, kommt der Staat seiner Pflicht zur Strafverfolgung nicht nach, die dazu dient seine Bürger/-innen zu schützen. Im Jahr 2018 kamen 81 Morde auf 100.000 Einwohner/-innen. Damit hatte Venezuela die höchste Mordrate auf dem gesamten Kontinent. Im Jahr 2019 belegte Venezuela im Global Peace Index (dem Globalen Friedensindex) Platz 144 von 163 Ländern. Damit ist Venezuela nicht nur das am wenigsten sichere Land Südamerikas, sondern auch eines der unsichersten weltweit. Hinzu kommen Fälle von physischer oder psychischer Gewalt, die von Angehörigen der Bolivarischen Nationalgarde (GNB) und des Bolivarischen Nationalen Geheimdienstes (SEBIN) – zwei Staatsschutz- bzw. Polizeiorganen – verübt und von der OAS registriert wurden. Schätzungen zufolge wurden zwischen 2014 und Mai 2019 fast 15.000 Personen willkürlich verhaftet. Daneben gibt es umfangreiche Belege und Zeugenaussagen über außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, sexuelle Gewalt, politische Inhaftierungen sowie andere durch den Staat begangene Verbrechen, insbesondere im Zusammenhang mit von der Opposition veranstalteten Demonstrationen.

Politische Reaktionen auf die Vertreibung aus Venezuela

Als Folge der oben beschriebenen Staatskrise hatten seit Anfang 2015 bis Ende 2019 mindestens 4,75 Millionen Venezolaner/-innen das Land verlassen – nach Schätzungen der UNHCR könnte diese Zahl bis Ende 2020 auf sieben Millionen steigen. Die weit überwiegende Mehrheit dieser Ausgewanderten befindet sich in benachbarten Ländern. Die rasche Zunahme der Auswanderung bzw. Flucht aus Venezuela stellt die Hauptaufnahmeländer in Lateinamerika vor ernsthafte Herausforderungen. Diese Länder haben in ihrer jüngeren Geschichte mehrheitlich keine Erfahrungen mit umfangreicher Einwanderung, geschweige denn mit der Einwanderung vulnerabler Migrant/-innen aus humanitären Gründen gemacht. Es ist daher kaum überraschend, dass ein koordinierter und nachhaltiger Ansatz bislang ausgeblieben ist und die Regierungen der lateinamerikanischen Länder eher mit Ad-hoc-Maßnahmen reagiert haben. In vielen Fällen waren die von lateinamerikanischen Aufnahmeländern ergriffenen Maßnahmen zu Beginn von relativer Offenheit und Großzügigkeit geprägt. Im Zuge einer steigenden Zahl neuankommender Migrant/-innen und der Zunahme fremdenfeindlicher Stimmungen wurden sie jedoch restriktiver.

Es können unterschiedliche Typen von Reaktionen in den Aufnahmeländern identifiziert werden. Eine erste Ländergruppe hat die pragmatischste und rechtlich tragfähigste Option gewählt. Sie haben die wohnsitzrechtlichen Abkommen der regionalen Zusammenschlüsse Interner Link: MERCOSUR bzw. UNASUR auf venezolanische Staatsangehörige ausgeweitet. Zwar wurde die MERCOSUR-Mitgliedschaft Venezuelas im Jahr 2017 ausgesetzt, dennoch beschlossen Argentinien, Brasilien und Uruguay, das Wohnsitzabkommen des MERCOSUR weiterhin auf Venezolaner/-innen anzuwenden. Damit sollte vermieden werden, die Bevölkerung mit einer Maßnahme zu treffen, die ausdrücklich darauf zielte, die venezolanische Regierung zu sanktionieren, jedoch nicht dem venezolanischen Volk zu schaden. Mit dieser politischen Regelung erhielten Venezolaner/-innen die Möglichkeit, sich im Aufnahmeland zwei Jahre lang aufhalten und anschließend eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Ursprünglich mussten Venezolaner/-innen dafür einen gültigen Reisepass und ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Beide Anforderungen wurden mittlerweile für diejenigen, die über die entsprechenden Dokumente nicht verfügten, gelockert. Ecuador hat mit seinem "Gesetz zu menschlicher Mobilität“ (Ley Orgánica de Movilidad Humana) von 2017 die Kategorie des "südamerikanischen Staatsangehörigen" geschaffen. Sie ermöglicht Personen aus jedem UNASUR-Land, Venezuela eingeschlossen, die Einreise nach und den Aufenthalt in Ecuador. Das entsprechende Visum kostet allerdings 250 US-Dollar, die sich die allermeisten Venezolaner nicht oder nur sehr schwer leisten können. Zudem steht das 2008 gegründete Staatenbündnis UNASUR vor dem Aus, da die meisten Staaten ihre Mitgliedschaft eingestellt oder aufgekündigt haben.

Eine zweite Staatengruppe hat spezielle Einreise- und Aufenthaltserlaubnisse für venezolanische Staatsangehörige geschaffen. So haben Interner Link: Kolumbien und Peru verschiedene Arten spezieller Ad-hoc-Aufenthaltstitel für venezolanische Staatsbürger/-innen geschaffen. Die kolumbianische "Grenzmobilitätskarte" TMF (Tarjeta de Movilidad Fronteriza) wurde erstmals 2017 ausgegeben und ermöglichte Venezolaner/-innen den ungehinderten Grenzübertritt zwischen beiden Ländern. Zwischen Januar 2017 und Oktober 2018 erteilte Peru die vorübergehende Aufenthaltserlaubnis PTP (Permiso Temporal de Permanencia) und Kolumbien stellte die besondere Aufenthaltsgenehmigung PEP (Permiso Especial de Permanencia) aus. Allerdings waren diese speziellen Visaprogramme zeitlich begrenzt und beschränkten sich häufig darauf, den Status von bereits im Land lebenden Migrant/-innen nachträglich zu legalisieren. In Kolumbien gibt es seit Juli 2019 die besondere ergänzende Aufenthaltserlaubnis PECP (Permiso Especial Complementario de Permanencia), die alle Venezolaner/-innen erhalten können, die die Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus zwischen dem 19. August 2015 und 31. Dezember 2018 beantragt haben.

In jüngster Zeit ist in der Region jedoch eine Tendenz zu zunehmend restriktiven Regelungen zur Einwanderung aus Venezuela zu beobachten. Chile, Peru und Ecuador haben mit sogenannten humanitären Visa die Einreisebestimmungen für venezolanische Migrant/-innen mehr und mehr verschärft. Im April 2018 begann Chile eine spezielle, für ein Jahr gültige Aufenthaltserlaubnis – das "Visum der demokratischen Verantwortung" – auszustellen, das gegen Vorlage eines gültigen Reisepasses für rund 90 US-Dollar erteilt wird. Seit Juli bzw. August 2019 verlangen Peru und Ecuador ebenfalls sogenannte humanitäre Visa, die einen Reisepass und ein eintragsfreies Strafregister voraussetzen und in den jeweiligen Konsulaten in Venezuela beantragt werden müssen. Beide Dokumente können sich die meisten Venezolaner/-innen aufgrund von Bearbeitungsstau, Materialmangel und der herrschenden Korruption nicht leisten (einen Reisepass in einem vertretbaren Zeitraum zu besorgen kann mehrere tausend US-Dollar kosten). In der Praxis wirken diese Visaformen daher als sozio-ökonomische Filter und treiben die Mehrheit der neuen Migrant/-innen in die Illegalität, weil sie den meisten venezolanischen Migrant/-innen letztlich effektiv den legalen Zugang nach Ecuador und Peru verwehren.

Rechtliche Verpflichtungen

Angesichts ihrer bestehenden rechtlichen Verpflichtungen und vor dem Hintergrund der oben geschilderten ökonomischen, politischen und humanitären Krise, müssten die Staaten Lateinamerikas die Flüchtlingsdefinition des Abkommens von Cartagena auf die Vertriebenen aus Venezuela anwenden. Diese Definition geht auf die Erklärung von Cartagena aus dem Jahr 1984 zurück und wurde seither von fünfzehn Staaten der Region sukzessive in nationale Gesetze überführt. Sie erweitert das Recht auf internationalen Schutz als Flüchtling auf die Opfer von allgemeiner Gewalt, Aggression von außen, innerstaatlichen Konflikten, massiven Menschenrechtsverletzungen oder anderen Umständen, die zu schweren Störungen der öffentlichen Ordnung geführt haben. Damit ist die in Lateinamerika geltende Flüchtlingsdefinition, zumindest nominell, deutlich weiter gefasst als jene der Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und auf die Situation in Venezuela anwendbar. Venezolanischen Migrant/-innen den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen würde dazu beitragen, dass sie sich im Aufenthaltsland legal aufhalten und dort arbeiten könnten. Außerdem wäre ihr Zugang zu grundlegenden staatlichen Leistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung gesichert.

Derzeit sind jedoch Mexiko und Brasilien die einzigen Länder, die die Flüchtlingsdefinition der Erklärung von Cartagena zugunsten venezolanischer Staatsangehöriger anwenden. Dies lässt sich hauptsächlich damit erklären, dass Mexiko weitaus weniger venezolanische Migrant/-innen aufgenommen hat als Staaten in Südamerika und Brasilien sich außenpolitisch stark gegen Maduros Regime positioniert. Andere Regierungsverantwortliche in Südamerika hingegen befürchten, dass durch die Anwendung des Abkommens von Cartagena, wodurch praktisch alle venezolanischen Migrant/-innen als Flüchtlinge anerkannt würden, ein weiterer Zustrom ausgelöst würde, der die bereits überforderten öffentlichen Systeme zusätzlich belasten und fremdenfeindliche Ressentiments verstärken würde. Somit lässt sich feststellen, dass in Reaktion auf die venezolanische Migrationskrise nicht mehr primär der Schutz vulnerabler Venezolaner/-innen durch die Einhaltung gesetzlicher Verpflichtungen im Vordergrund steht. Stattdessen wird das Interner Link: Migrationsthema in zunehmendem Maße in Verbindung mit Sicherheitsfragen gebracht und politisch instrumentalisiert – eine Parallele zu Entwicklungen, die sich im Globalen Norden beobachten lassen. Nicht zuletzt spielen in diesem Zusammenhang lokale Medien eine entscheidende Rolle insofern, als sie Ängste vor einer vermeintlichen Kriminalitätszunahme schüren, für die die venezolanischen Migrant/-innen verantwortlich gemacht werden.

Übersetzung ins Deutsche: Textworks Translations

Weitere Inhalte

Luisa Feline Freier ist Assistenzprofessorin an der Universidad del Pacífico in Lima, Peru. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Migrations- und Flüchtlingspolitiken und -gesetze in Lateinamerika, internationale Abkommen zu Migration und Flucht sowie Süd-Süd-Migration. Sie promovierte an der London School of Economics and Political Science (LSE) in Politikwissenschaft und studierte an der University of Wisconsin–Madison, USA, und an der Universität zu Köln Regionalwissenschaften Lateinamerika.

Soledad Castillo Jara ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universidad del Pacífico in Lima, Peru.