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Das Unsichtbare sichtbar machen? Tschernobyl in der Fotografie

Daniel Bürkner

/ 7 Minuten zu lesen

Bilder von Katastrophen sind allgegenwärtig - sie schaffen einen Zugang zum Abstrakten, begrenzen aber auch unsere Wahrnehmung. Bei atomaren Katastrophen wie Tschernobyl ist das Eigentliche, die radioaktive Strahlung, nicht sichtbar. Welche Folgen hat das für die Ikonographie einer solchen Katastrophe?

Hier wird die Katastrophe noch am ehesten sichtbar: der zerstörte Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl am 26. April 1986. (© picture-alliance/akg)

Große Katastrophen haben etwas Unvorstellbares an sich, erscheinen allzu oft als abstrakte Nachricht. Wohl auch daher rührt das Bestreben, sich ein Bild derartiger Ereignisse mithilfe der Fotografie zu machen. Diese Bilder prägen wiederum das Bewusstsein, das wir von Geschehnissen haben. So bestimmt beispielsweise die berühmte Fotografie fliehender Kinder nach einem Napalm-Angriff der US-Armee bis in die Gegenwart unsere Vorstellung vom Vietnamkrieg.

Bei atomaren Katastrophen hingegen sieht das etwas anders aus. Das Verlangen, sich Bilder zu machen, ist dasselbe. Nur die Bilder nicht. Schließlich fehlt die bestimmende Komponente: Die radioaktive Belastung ist nicht sichtbar.

Und doch gilt auch hier, dass die Bilder eines Ereignisses deren Wahrnehmung bestimmen. Gerade die Schwierigkeiten, den Reaktorunfall von Tschernobyl in der Fotografie sichtbar zu machen, verdeutlichen, wie komplex das Ereignis ist. Sie zeigen, wie groß die Unsicherheiten sind, die Bedeutung einer Katastrophe einzuordnen, die unsere Sinne überschreitet.

Geheimnisse in Bildern

Die Schwierigkeit, sich ein Bild von der Katastrophe zu machen, wird bereits durch die restriktive Informationspolitik der UdSSR befördert. Nach der Havarie besteht eine strikte Informationssperre - keinerlei Informationen über den Unfall und dessen Ausmaß dürfen bekannt werden. Das spiegelt sich in der Bildpolitik der UdSSR wieder. Es fällt auf, dass die Pravda - das zentrale Presseorgan der UdSSR und im Grunde genommen Sprachrohr der kommunistischen Partei - in den ersten zwei Jahren nach dem Ereignis eine sehr sorgfältige Auswahl der Bildberichterstattung trifft. Es werden Bilder publiziert, die eine Vorstellung von Kontrolle und der erfolgreichen Beseitigung der Gefahrenquelle transportieren. Die als Liquidatoren bezeichneten Aufräumarbeiter werden bei der vermeintlich erfolgreichen Katastrophenbekämpfung gezeigt und mit entsprechenden Mitteln als Helden stilisiert. Die Errichtung des Schutzmantels um den zerstörten Reaktor im November 1986 wird als erfolgreicher Abschluss des Kampfes gegen die radioaktive Strahlung inszeniert. Vor dem Hintergrund dieses als Sarkophag bekannten Bauwerks, hält eine Reihe jubelnder Männer mit erhobenen Fäusten ein Banner empor, das die Entschlossenheit der Arbeiter propagiert. Keine dieser Fotografien lässt erahnen, dass diese Arbeiter teilweise zwangsrekrutiert wurden und mitunter Missionen von fataler radioaktiver Belastung zu erfüllen hatten - wie die Räumung des extrem kontaminierten Dachs des benachbarten Reaktorblocks. Bilder, die das körperliche Leiden unter den Liquidatoren verdeutlichen, sucht man vergeblich. Auffällig ist ebenfalls, dass der zerstörte Reaktor in keiner Aufnahme gezeigt wird.

Diese Bilder gab es durchaus - sie wurden in der Zeit direkt nach dem Unfall jedoch nur in Westeuropa veröffentlicht. Der moldauisch-ukrainische Pressefotograf Igor Kostin machte die wohl prägendsten Bilder der Havarie von Tschernobyl. Seine Fotografien stehen stellvertretend für das Bild der Ereignisse, das von den sowjetischen Behörden unterbunden werden sollte. Gleichzeitig zeigen sie bereits damals die zentralen Fragen, mit denen sich die Fotografie der Folgezeit beschäftigen sollte.

Ein verlassenes Areal

Elf Stunden nach der Havarie sitzt Igor Kostin an Bord eines Hubschraubers und machte einige der wenigen Fotografien, die vom Tag des Unfalls bekannt sind. Die Mechanik und Filme seiner Kameras werden von der radioaktiven Strahlung extrem beeinträchtigt. Eine kleine Zahl an Aufnahmen lässt sich nichtsdestotrotz entwickeln, eine davon offenbart den fragmentierten Reaktor aus der Vogelperspektive, fotografiert durch das Fenster des Hubschraubers. Ein Bild der Verwüstung tut sich auf. Die Fotografie zeigt das zerstörte Dach des Reaktorgebäudes und gibt den Blick auf ein Gewirr an geborstenen Materialien frei. Weder Lösch- oder Arbeitsfahrzeuge, Helikopter noch einzelne Menschen sind auf der Fotografie zu erkennen. Das Bild vermittelt unmittelbar, was an diesem Ort fehlt: menschliche Kontrolle.

Nur elf Stunden nach dem Reaktorunfall schießt Igor Kostin dieses Bild aus einem Hubschrauber heraus. Das von der radioaktiven Strahlung stark beeinträchtigte Bild ist eines der wenigen Fotos, das vom Tag der Katastrophe bekannt ist. (© Igor Kostin)

Dieses grundsätzliche Fehlen von Menschen und ihrem kontrollierenden Einfluss ist für die Fotografie der Folgezeit immens wichtig. Zahlreiche Fotografen aus Presse-, Kunst- und touristischer Fotografie besuchen in den Jahren danach die unter Einschränkungen zugänglichen Sperrgebiete. Sie setzen ein Areal in Szene, das fernab menschlichen Einflusses zunehmend von der Natur wiedereingenommen wird. Besonders Robert Polidoris Bildband "Pripyat and Chernobyl. Zones of exclusion" wurde breit wahrgenommen und nimmt eine sehr nüchterne, reflektierte Perspektive auf das Areal ein. Dabei bleibt es aber nicht. Die Sperrgebiete und ihr Verfall werden für andere Fotografen Ästhetisches Objekt und Gegenstand eines globalen "Dark Tourism". Nicht selten, wie für die Bloggerin Elena Filatova, werden sie zu einer Projektionsfläche für die Welt nach der Apokalypse, einer Vision, wie die Erde ohne Menschen aussehen würde. Touristen und professionelle Fotografen setzen die von jungen Bäumen überwucherten Plätze der Stadt Pripyat in Szene und Ästhetisieren mit morbidem Vergnügen den Sieg der Natur über die Zivilisation. Dabei gerät nur allzu oft aus dem Auge, dass hier keine Naturkatastrophe die Gebiete unbewohnbar macht. Es ist die Folge einer menschlichen Technologie, die sehr konkrete und überaus einschneidende soziale Folgen hat.

Bildstörung

Wenden wir den Blick wieder Kostin und den Aufnahmen zu, die er am 26. April 1986 aus dem Hubschrauber macht. Nicht nur menschliche Kontrolle sucht man in diesen Bildern vergeblich. Noch etwas fehlt im Bild: Die radioaktive Strahlung. Nach Kostin ist sie aber doch zu sehen: Die Aufnahme ist von einer eigentümlichen Farbigkeit und Grobkörnigkeit bestimmt. Kostin führt diese Spuren auf den Einfluss der Strahlung auf das fotografische Material zurück. Die Fotografie wird hier wie ein wissenschaftlicher Indikator verwendet, der unsichtbare physikalische Phänomene anzeigt, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Und gleichzeitig funktioniert es ein wenig wie eine Geisterfotografie.

Tatsächlich finden sich in den folgenden Jahren zahlreiche Äußerungen von Fotografen und Filmemachern, dass sich die radioaktive Strahlung in der Störung von Bildmaterial abbilde. Die Künstlerin Alice Miceli nimmt hier wohl eine besondere Stellung ein. Zwischen 2007 und 2009 bringt sie an Bäumen und Gebäuden in den Sperrgebieten Röntgennegative an, um die Strahlung als Störung im fotochemischen Material abzubilden. Ihre Resultate erinnern an Versuche des 19. Jahrhunderts, paranormale Phänomene durch Störungen im Fotomaterial zu beweisen. Darauf basiert nicht selten auch die historische Geisterfotografie: Eine Störung im Bild wird als Spur einer unsichtbaren Macht interpretiert. Darin offenbart sich ein zentrales Problem dieser Zuschreibung: Wenn das eigentliche Objekt nicht sichtbar ist, kann die Bildinterpretation beliebig ausfallen. Die Fotografie bewegt sich hier in einem besonders kritischen Feld: Seit jeher dient sie als objektives Beweismittel, ist allerdings überaus einfach zu manipulieren sei es in Form der Retusche, oder - wie in dieser Ausprägung - durch eine beliebige Interpretation des Bildes.

Gezeichnete Körper

Nach seinem Flug über dem Reaktor verfolgt Kostin die Entwicklungen in den Sperrgebieten weiter. Er dokumentiert die Arbeit der Liquidatoren sowie deren provisorische Panzerung. Teilweise tragen sie wirkungslose Masken gegen Giftgasangriffe oder behelfen sich mit Vorrichtungen aus Bleiplatten, die aufgrund der hohen Strahlenabsorption nur einmal verwendet werden können. Die Folgen dieser mangelhaften Ausrüstung sind inzwischen bekannt, und auch Kostin fotografiert erkrankte Arbeiter in Krankenhäusern. Dabei zeigt sich eines der deutlichsten Mittel, die radioaktive Belastung sichtbar zu machen: ihre Wirkung auf den menschlichen Körper.

In der Folgezeit nehmen sich zahlreiche Fotografen dieses Themas an und setzen den von der radioaktiven Langzeitexposition gezeichneten Körper ins Bild. Dem Leiden der Bevölkerung in den besonders von der Kontaminierung betroffenen Gebieten wird so ein tragisches Gesicht verliehen.

Fotografen wie Robert Knoth, Magdalena Caris oder Paul Fusco konzentrieren sich in ihren Bildern auf die physisch oder psychisch beeinträchtigten Körper in Krankenhäusern der Ukraine und Weißrusslands. Mit Schrecken sieht der Betrachter Kinder mit deformierten Körpern. Dabei werden die Fotografien in vielen Fällen als Belege für die Langzeitwirkung niedrigdosierter Strahlung auf den Menschen herangezogen. Diese wird von etablierten Organisationen wie der WHO jedoch nur unter großen Einschränkungen bestätigt. Unter anderem werden besonders psychosoziale Ursachen für eine Vielzahl an Leiden verantwortlich macht. Das ist natürlich sehr umstritten, und genau hier zeigt sich eine besondere Problematik dieser Bilder. Die durch die Fotografien ausgelöste Betroffenheit wird auch als politisches Argument verwendet. Dabei muss man sich fragen, was schwerer wiegt - das soziale Engagement oder die individuelle Würde des Körpers?

Einigen Fotografen wie Andrej Krementschouk ist es hingegen gelungen, beides zu vereinen. Der russische Kunstfotograf macht Bilder der Rücksiedler in den Sperrgebieten und veranschaulicht die Absurdität dieses Lebens, ohne den Körper als politisches Symbol zu verwenden. Wir sehen lachende Kinder, die in einem verfallenen, industriellen Becken baden. Wir sehen nichts von der unsichtbaren Katastrophe dahinter - und verstehen sie gerade deshalb umso mehr.

Ausblick

Die Fotografien von Tschernobyl machen ein grundlegendes Spannungsfeld auf, das sich wohl auf alle traumatischen Ereignisse übertragen lässt, die mit atomaren Technologien verbunden sind. Die Bilder des Ereignisses sind hochpolitisch - besonders das Bestreben, ihre Veröffentlichung zu verhindern. Wenn sie aber gezeigt werden, spielt das Verborgene immer noch eine vehemente Rolle: Die radioaktive Kontaminierung bleibt schließlich unsichtbar. Die Strategien, sie dessen ungeachtet zu verbildlichen, sind nicht unproblematisch. Sie laufen Gefahr, das Ereignis zu mythisieren oder den individuellen Körper politisch zu instrumentalisieren.

Was angesichts dieser hochkomplexen Ereignisse gefragt ist, sind kritische Bilder, deren Herkunft und Assoziationen reflektiert werden, und die es vermögen, die sozialen Folgen der Ereignisse in Bilder zu bannen. Das ist kein leichtes Unterfangen, wenn das, was abgebildet werden soll, unsichtbar ist. Zentral ist, sich dieses Problem bewusst zu machen. Denn mit Tschernobyl ist das Thema nicht Geschichte - Fukushima wird uns vor die gleichen Probleme stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jaroshinskaja, Alla (2006): Lüge-86. Die geheimen Tschernobyl-Dokumente, in: Astrid Sahm, Manfred Sapper und Volker Weichsel (Hg.): Tschernobyl. Vermächtnis und Verpflichtung, Berlin: BWV, S. 39-56 sowie Tschernousenko, Wladimir Michailowitsch (1992): Tschernobyl. Die Wahrheit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 205-222.

  2. Vgl. Daum, Christine (2006): Der Wodka sollte unsere Schilddrüsen reinigen. Igor' Kostin über seine Tschernobyl-Fotos, in: Astrid Sahm, Manfred Sapper und Volker Weichsel (Hg.): Tschernobyl. Vermächtnis und Verpflichtung, Berlin: BWV, S. 57

  3. Vgl. Kostin, Igor (2006): Tschernobyl. Nahaufnahme, München: Kunstmann, S. 6.

  4. Vgl. Geimer, Peter (2010): Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg: Philo Fine Arts.

Weitere Inhalte

Dr. phil. Daniel Bürkner, geb. 1981, promovierte am Institut für Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema "Fotografie und atomare Katastrophe". Kontakt: E-Mail Link: kontakt@danielbuerkner.de