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Epochen der indischen Geschichte bis 1947 | Indien | bpb.de

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Epochen der indischen Geschichte bis 1947 Von den Hindu-Königreichen über Mogul-Herrschaft und Kolonialzeit zur Republik

Dr. Joachim Betz Joachim Betz

/ 12 Minuten zu lesen

Dieser Beitrag bietet einen geschichtlichen Überblick von den Besiedlungen der Frühzeit und den Hindu-Königreichen, der Herrschaft der muslimischen Mogul-Kaiser und der britischen Kolonialzeit bis zum Weg in die Unabhängigkeit.

Das Grabmal von Safdarjang in Neu Delhi, ein Beispiel der Mogul-Architektur. (© Stefan Lampe)

Einleitung

Die frühesten bisher gefundenen Spuren menschlicher Aktivität in Indien gehen zurück auf die Zeit um 200.000 vor Christus. Aus dieser Zeit sind vor allem Steinwerkzeuge und Höhlenmalereien überliefert. Die Entwicklung einer Ackerbaukultur und die ersten Ansätze von dauerhaften Siedlungen fanden im vierten Jahrtausend vor Christus statt. Von hier ausgehend, entwickelte sich im Indus-Tal eine relativ fortgeschrittene Stadtkultur (Harappa-Kultur), die sich später in den Süden und Westen ausdehnte und bis etwa 1500 vor Christus währte. Sie finanzierte sich durch landwirtschaftlichen Überschuss und trieb ausgedehnten Handel. Diese Kultur ging wahrscheinlich durch ökologische und tektonische Veränderungen (Rückgang der Niederschläge, Verlagerung von Flussläufen durch geologische Verwerfungen) zugrunde.

Es wird vermutet, dass die Induskultur schon etliche Jahrhunderte vor dem Einfall der zahlenmäßig zwar unter-, militärisch aber deutlich überlegenen Indoarier (Teil der indogermanischen Völkerfamilie) untergegangen war. Die "arische" (das Wort ist abgeleitet von damals in Indien eintreffenden nomadisierenden Rinderhirten, die sich selbst arya – die Edlen – nannten) Hochkultur überlieferte uns die Veden. Das sind die in der klassischen indischen Sprache Sanskrit verfassten Hymnen, Legenden und liturgischen Texte, die die Bausteine der hinduistischen Tradition bilden.

Frühe Zivilisationen

Diese neue Hindu-Zivilisation zeichnete sich durch Ackerbau, einen pantheistischen religiösen Überbau, Erbkönigtum und einen vergleichsweise hohen technischen Standard (Eisenverarbeitung, Mathematik und Astronomie) aus. Auf diese Zivilisation gehen auch das Kastenwesen und hinduistische Vorstellungen von pflichtgemäßer Lebensführung zurück. Dem Kastenwesen liegt die Vorstellung einer vorgegebenen, hierarchisch gegliederten gesellschaftlichen Ordnung und Separation zugrunde. Es steht damit im Gegensatz zu Gleichheits- und Brüderlichkeitsidealen anderer Religionen. Seine positive soziale Funktion war damals die Integration einer Vielzahl von neuen Gruppierungen, denen Rang und Funktion in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zugewiesen wurde.

Die Umbruchphase dieser Zivilisation (6. Jahrhundert vor Christus) war geprägt durch militärische Auseinandersetzungen, die Konsolidierung einer Reihe von Hindu-Königreichen im Norden Indiens und durch eine allmähliche Verhärtung des Kastenwesens. In dieser Zeit entwickelten sich zwei größere Reformbewegungen, der Buddhismus und der Jainismus, die zwar wesentliche Elemente des Hinduismus wie etwa die Wiedergeburt beibehielten, die aber einen individuell erreichbaren Weg zur Erlangung des Heils aufzeigten, nicht zuletzt durch Gewaltfreiheit. Aus der nachfolgenden Zeit sind – durch den Kontakt Indiens mit den hellenistischen Königreichen – relativ umfangreiche Zeugnisse erhalten.

Im dritten Jahrhundert bildete sich das erste große und zentralistisch organisierte Hindu-Königreich (Magadha), das bereits einen großen Teil des späteren Gesamtindien einnahm, die Landwirtschaft beherrschte und das Gewerbe effektiv kontrollierte und besteuerte. Das Königreich verfügte über eine stehende Armee und eine ausgedehnte Beamtenschaft. Der bekannteste Herrscher dieser Zeit, Kaiser Ashoka, beendete die militärische Expansion und entwickelte eine neue Staatsphilosophie sozialer Verantwortlichkeit (Toleranz, Gewaltfreiheit und Mitgefühl). Gleichzeitig wurde ein zentralistisches System der Landübertragung, Verwaltung und Unterwerfung der Bauern unter Naturalabgaben etabliert. Ashokas Staatsethik war ein säkularisierter Buddhismus. Er suchte darin eine neue Legitimationsgrundlage, ohne diesen direkt zur Staatsreligion zu machen. Nach Ashokas Tod verfielen sein Reich und seine Staatsideologie. Die Brahmanen und die von ihnen legitimierten Könige bekamen wieder die Oberhand.

Gegen Ende des Altertums gelang es der Gupta-Dynastie, ein Großreich zu errichten. Die Herrschaftszeit dieser Dynastie vom vierten bis zum Ende des fünften Jahrhunderts nach Christus gilt als die Blütezeit der klassischen Sanskritliteratur.

Die Periode des alten Indien unter der Gupta-Dynastie wurde später als goldenes Zeitalter betrachtet. Sie brachte einen erheblichen Aufschwung der Literatur, der Wissenschaften und auch wirtschaftliche Prosperität. Die Einheit ging in den Anstürmen der Hunnen verloren. Südindien erlebte in dieser Zeit eigene territoriale und dynastische Konflikte. Am bekanntesten ist hier die Chola-Dynastie, die mit ihrer Flotte den Golf von Bengalen beherrschte und einen Teil von Ceylon (heute Sri Lanka) annektierte. Der Tempel war das Zentrum des damaligen sozialen und ökonomischen Lebens in Südindien, das auch zu einem Aufschwung der südindischen Literatur beitrug. Diese griff auf Themen der Sanskritliteratur zurück und bezeugte damit, bei aller politischen Zersplitterung, die kulturelle Einheit ganz Indiens.

Islamische Herrschaft

Ende des zehnten Jahrhunderts drangen islamische Turkvölker nach Nordwestindien ein und eroberten bis zum 13. Jahrhundert Delhi und die Ganges-Ebene. Die Sultane von Delhi gründeten ihre Herrschaft auf die Pflichten und Rechte der Scharia und zogen von Nicht-Muslimen Schutzgelder ein. Sie strebten aber nicht die völlige Unterwerfung unter den Islam und die Beseitigung der hinduistischen Sozialordnung an, wenngleich etliche Tempel zerstört wurden. Selbständigkeitsbestrebungen der unteren Führer sowie fehlende Regelungen friedlicher Nachfolge und Konflikte (auch religiöser Art) mit der beherrschten Bevölkerung ließen das Sultanat auseinander brechen und führten erneut zu politischer Fragmentierung.

Die Jama Masjid in Delhi ist die größte Moschee Indiens. (© Stefan Lampe)

Anfang des 16. Jahrhunderts fielen die aus Zentralasien stammenden Moguln in Nordindien ein und brachten mit ihrer technisch überlegenen Armee (Feldartillerie) bald weite Teile Indiens unter ihre Kontrolle. Aus der Zeit der Mogul-Herrscher stammen so unvergängliche Bauwerke wie das Grabmal Taj Mahal in Agra und die große Moschee Jama Masjid in Delhi. Eine der bekanntesten Herrschergestalten war Akbar (1556-1605), der das Reich erheblich ausdehnte, für eine effiziente, uniforme Verwaltung und Steuereinziehung sorgte und sich durch religiöse Toleranz auszeichnete. Er schaffte die Reformen für einen stabilen Religionsfrieden zwischen Hindus und Muslimen und garantierte religiöse sowie kulturelle Freiheiten.

Ein Jahrhundert nach Akbar kam allerdings mit Aurangzeb (1658-1707) ein Mogul an die Macht, dessen Politik dazu führte, dass sich Hindus und Muslime tief in feindliche Fronten spalteten. Aurangzeb verfolgte wieder einen orthodox-religiösen Kurs, ließ Hindu-Tempel niederreißen und hinderte die Bevölkerung an der Religionsausübung. Durch diese Vorgehensweise und die zunehmende steuerliche Ausblutung der landwirtschaftlichen Bevölkerung kam es zu Rebellionen, die das Ende der Dynastie brachten.

Die Herrscher aus der Gegend um Bombay (heute Mumbai), die zum Teil im Dienste der Moguln groß geworden waren und diese zu beerben versuchten, brachten mit hohen Abgaben die Bevölkerung ebenfalls gegen sich auf. Sie scheiterten bei der Bildung eines Großreiches, unterlagen gegen die eindringenden Afghanen 1761 und rieben sich zwischen 1775 und 1818 in Kriegen gegen die englische Ostindiengesellschaft (East India Company) auf, einer privaten Kaufmannsgesellschaft unter dem Schutz der britischen Krone.

Kolonialzeit

Die politische Fragmentierung Indiens nach dem Tode Aurangzebs erschwerte das Geschäft der europäischen Handelsniederlassungen, die sich seit dem 17. Jahrhundert in Indien etabliert hatten; sie wandten innerhalb ihrer Gebiete eigenes Recht an. Die britischen und französischen Niederlassungen unterstützten unterschiedliche Fraktionen in den dynastischen Nachfolgekämpfen Süd- und Nordindiens. Französische Kräfte konnten den Briten aber nicht lange widerstehen. Die Briten wiederum schlugen in der Schlacht von Plassey 1757 gegen die Bengalen den Nawab von Bengalen, der sie sechs Jahre zuvor aus Kalkutta (heute Kolkata) vertrieben hatte, und leiteten damit den Beginn der englischen Herrschaft auf dem Subkontinent ein. Großbritannien herrschte bis zu den Unruhen 1857 indirekt durch die Ostindiengesellschaft über Indien, was die territoriale Ausdehnung und wirtschaftliche Ausbeutung jedoch nicht hinderte. Südindien und die Gangesebene fielen Ende des 18. Jahrhunderts unter britische Herrschaft, um 1830 folgten Zentral- und Nordostindien, 1849 wurde der Punjab annektiert. Die dabei verwandten Expansionsmethoden waren die Einsetzung der Ostindiengesellschaft zur Einziehung von Steuern und der Abschluss militärischer Allianzen (gegen Tributzahlungen und Souveränitätsabtretung) mit den Fürsten.

Die faktische Inbesitznahme weiter Teile Indiens durch die Ostindiengesellschaft war anfangs begleitet von einer beispiellosen Ausbeutung des Landes, bis – getragen von öffentlicher Empörung – diesem Treiben mit dem India Act von 1784 ein Ende zu machen versucht wurde. Privathandel wurde untersagt, kommerzielle und finanzielle Funktionen strikt getrennt, die Einziehung der Agrarsteuer vereinheitlicht und ein System unabhängiger Gerichte eingeführt. Die Regulierung des Landbesitzes führte jedoch in Zusammenhang mit der Einsetzung der Steuereintreiber (Zamindars) als Grundherren zu einer erheblichen Belastung der Landwirtschaft und zog rasch aufeinander folgende Hungersnöte nach sich. Die Briten brauchten sich mit ihren Grundsteuerforderungen nur an die "Grundherren" zu halten. Diese wiederum waren für die Ablieferung der Grundsteuern allein verantwortlich, so dass viele der Versuchung unangemessen überhöhter Forderungen erlagen.

Zudem wurden durch den Import billigerer Tuche aus England Millionen von indischen Webern und Färbern arbeitslos. Indien wurde auf den Status eines Rohstoffproduzenten reduziert. Mit den Engländern kamen auch bald Missionare, die zwar keine Massenkonversionen bewirken konnten, deren Schulen, Hospitäler und persönlicher Einsatz auf die spätere Bewegung in Indien zur Reform des Hinduismus aber einen tiefen Einfluss hatten. Unter dem Generalgouverneur Lord Bentick wurden das indische Zivil- und Strafrecht nach englischem Muster kodifiziert und besonders gegen die Menschenwürde verstoßende Praktiken wie die Witwenverbrennung oder Ritualmorde untersagt. Die Einführung westlichen Unterrichts (in englischer Sprache) zwang die bislang persischsprachige Verwaltungselite zu entsprechender Umstellung. Englisch wurde mehr und mehr zur alleinigen Amtssprache.

Anfänge der Nationalbewegung

Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen – besonders die Entmachtung der alten, herrschenden Klasse – , die die Briten in Indien bewirkten, führten 1857 zur Sepoy-Rebellion, dem vor allem von der bäuerlichen Bevölkerung unterstützten Aufstand der indischen Söldner (Sepoy, von sipahi: Soldat) der Ostindiengesellschaft. Der Aufstand wurde in einer Serie von militärischen Aktionen blutig niedergeschlagen.

Die Rebellion brachte das formale Ende des Mogulreiches und den Beginn der direkten englischen Herrschaft über Indien. Im Jahre 1877 wurde Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien proklamiert. An die Spitze der indischen Regierung wurde ein Vizekönig gestellt, unterstützt von einem mit sehr begrenzten Funktionen ausgestatteten Exekutiv- und einem Legislativrat, die hauptsächlich aus Mitgliedern ernannter Regierungen bzw. Beratungsorganen bestanden. Britisch-Indien wurde in Provinzen und diese in Distrikte unterteilt und vom Indian Civil Service verwaltet, einem prestigeträchtigen und gut bezahlten Beamtenapparat, der nur allmählich Indern seine Tore öffnete.

Die nicht direkt unter das Kolonialregime fallenden indischen Fürstenstaaten (insgesamt 562, mit einem Flächenanteil von mehr als 50 Prozent an Britisch-Indien) mussten sich völkerrechtlich der Souveränität Großbritanniens unterwerfen, behielten innenpolitisch aber weitgehende Autonomie. Die Sepoy-Rebellion brachte eine dauerhafte Separation der Briten von den Indern, die von ihnen mit sozialer Herablassung behandelt wurden. So hatten Inder keinen Zugang zu bestimmten Berufen (etwa dem Offiziersdienst), und es war nur eine Frage der Zeit, bis deren westlich ausgebildete Elite politische Gleichheit forderte.

Der im Dezember 1885 gegründete Interner Link: Indische Nationalkongress (Indian National Congress, INC), die spätere Kongresspartei, wurde das zentrale Sprachrohr des aufkommenden indischen Nationalismus. Seine Mitglieder bestanden anfangs fast ausschließlich aus Freiberuflern und Unternehmern aus hohen Kasten. Maßvolles Ziel seiner Aktivitäten war zunächst eine stärkere Partizipation der indischen Bevölkerung an der Regierung des Landes. Das geringe Entgegenkommen der britischen Regierung führte aber um die Jahrhundertwende zu einer Radikalisierung der Kongresspartei. Zunächst agitierte sie – durchaus auch zum Nutzen ihrer eigenen Mitglieder – für die Indisierung der höheren Beamtenschaft, die Verringerung der Militärausgaben und für die Gewährung der bürgerlichen Freiheiten. Sie tat dies vor allem auch deswegen, weil der Aufstieg der Kongresspartei von willkürlichen Verhaftungen und Deportationen durch die Briten begleitet war.

Parallel zur politischen Bewusstwerdung der Hindus entwickelte sich langsam ein stärkeres Selbstbewusstsein der Muslim-Elite, gefördert durch Wahlen zu dem oben genannten Exekutiv- und Legislativrat und durch bewusste Unterstützung der Engländer (Gründung muslimischer Bildungseinrichtungen, Einrichtung religiös separierter Wahlkreise) gegen die nationalistische Kongressbewegung. Diese Entwicklung fand ihren Ausdruck in der Gründung der All-India Muslim League (Muslimliga) im Jahr 1906. Die Liga war zunächst ausgesprochen staatstragend und versuchte im Übrigen, die politischen Rechte der Interner Link: muslimischen Bevölkerung in Indien zu schützen.

Die unglückliche Entscheidung des Vizekönigs (1905), die zu groß gewordene und unterschiedlich entwickelte gemischt muslimisch-hinduistische Provinz Bengalen zu teilen, löste eine massive antibritische, teils terroristische Protestwelle aus. Sie bewirkte einen Boykott britischer Waren und eine weitere Radikalisierung der Kongresspartei (in ihrer Forderung nach Selbstregierung). Die britische Regierung erhöhte daraufhin mit einer Verfassungsreform 1909 den Anteil der zu wählenden Mitglieder des Legislativrates und führte separate Wählerschaften für die Muslime ein. Außerdem entsandte sie Inder in den Exekutivrat.

Der Erste Weltkrieg stimulierte revolutionäre wie auch konstitutionelle Aktivitäten in Indien. Bengalen und der Punjab wurden von einer Welle der politischen Gewalt erfasst, die von den Briten brutal niedergeschlagen wurde. Gleichzeitig versuchten der Kongress und die Muslimliga, die erstmals eine gemeinsame, auf weitergehende Verfassungsreformen zielende politische Plattform fanden, Indiens Beitrag zum Krieg in politische Konzessionen umzusetzen.

London reagierte mit deutlichen Zugeständnissen. Mit den Montagu-Chelmsford (Montford)-Reformen (1921) bekam Indien eine neue Verfassung, zehn Prozent der männlichen erwachsenen Bevölkerung erhielten das Wahlrecht. Die Provinzen bekamen erhebliche finanzielle und gesetzgeberische Kompetenzen. Der zentrale Legislativrat erhielt eine in Wahlen bestellte zweite Kammer.

Der Kongress unter der Führung von Mahatma Gandhi wies die Reformen als nicht ausreichend zurück. Gandhi hatte seine ersten politischen Erfahrungen bei der Vertretung der indischen Minderheitsinteressen in Südafrika gewonnen. Nach seiner Rückkehr 1914 gelang es Gandhi, aus dem INC, bis dahin eine jährlich tagende Versammlung der indischen Bildungselite, nach 1920 eine Massenorganisation zu machen. Aus ihr ging schließlich die Kongresspartei hervor.

Gandhi rief zu indienweiten Aktionen des gewaltfreien Widerstands auf. Die politische Mobilisierung setzte sich trotz der Inhaftierung Gandhis fort und erreichte andere Gruppen, wie die Sikhs, die gegenüber der Kolonialregierung die eigene Tempelverwaltung durchsetzten. In Maharashtra entstand eine politische Bewegung der so genannten Unberührbaren unter Bhimrao Ramji Ambedkar, in Südindien mit der Gerechtigkeitspartei eine Gruppierung, die separate Wahlkreise für Hindus aus niedrigen Kasten forderte. Die Wiedergründung der Interner Link: Kommunistischen Partei Indiens (erstmals gegründet 1920 in Taschkent), wichtiger indischer Verbände (Gewerkschaften, Handelskammer, Studentenverband) und Interner Link: hinduistischer Kampforganisationen fällt ebenfalls in diese Zeit.

Im Gefolge einer Kommission, die 1928 die bisher praktizierte Selbstverwaltung überprüfen sollte, in der aber kein einziges indisches Mitglied vertreten war, berief der Kongress eine Allparteienkonferenz ein. Sie sollte eine politische Alternative zum Kommissionsbericht formulieren. Die Kongresspartei forderte volle Unabhängigkeit, die zum 26. Januar 1930 erreicht sein sollte, und Gandhi lancierte eine Massenbewegung zivilen Ungehorsams. Er nahm das britische Salzmonopol als Aufhänger und organisierte einen Marsch der Massen ans Meer zur Salzgewinnung, der mit der Verhaftung von über 100.000 Personen, inklusive des Führungsgremiums der Kongresspartei, endete.

Gandhi wurde bald wieder freigelassen, und in London fanden Verhandlungen zur konstitutionellen Reform statt, die 1935 in einer neuen Verfassung für Britisch-Indien ihren Ausdruck fanden (Government of India Act). Deren Prinzipien waren Föderalismus (bei rechtlicher Autonomie der Provinzen, aber starker Position der Zentrale) und die Reservierung von Parlamentssitzen für Minderheiten. Die Frage vollständiger Unabhängigkeit wurde offen gelassen. Die 1937 abgehaltenen Provinzwahlen brachten in den meisten Provinzen deutliche Mehrheiten für die Kongresspartei. Die Muslimliga konnte nur in einer Provinz die Mehrheit erringen, ihr Angebot der Regierungsbeteiligung wurde von der Kongresspartei zurückgewiesen.

Weg in die Unabhängigkeit

Während des Zweiten Weltkrieges wurde Indien von den Briten als Operationsbasis genutzt. Rund zwei Millionen indische Soldaten kämpften für die Sache der Briten, die sie versorgende Industrie expandierte kräftig. Die Unterbrechung der Reisimporte aus Burma und spekulative Preistreiberei führten zu dramatischen Hungersnöten in Bengalen. Der Krieg brachte daher eine weitere Radikalisierung innerhalb der Kongresspartei. 1940 beschloss sie eine Kampagne des zivilen Ungehorsams, bis eine nationale Regierung etabliert sei und Indien seine Freiheit erhalten habe. Ein halbherziges Entgegenkommen der Briten wurde 1942 mit der Quit-India-Kampagne ("Raus aus Indien"), einer von der Kongresspartei beschlossenen Protestkampagne, beantwortet. Sie wurde jedoch von den Briten niedergeschlagen, und die Kongressführung verblieb für den Rest des Krieges im Gefängnis.

Die Wahlen 1945 brachten in London eine Labour-Regierung ans Ruder. Damit hätte theoretisch die Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit erleichtert werden können, aber die neue Regierung zögerte. In Indien hatte derweil die Agitation der Muslimliga für die Schaffung eines muslimischen Separatstaates ("Pakistan") erheblich an Boden gewonnen. Eine 1946 nach Indien entsandte britische Kabinettsmission sollte muslimische Befürchtungen gegenüber dem Einheitsstaat durch den Vorschlag weitgehender Provinzautonomie zerstreuen. Kongresspartei und Muslimliga akzeptierten zwar diesen Vorschlag, konnten sich aber nicht auf die Verteilung der Kabinettssitze in einer Interimsregierung einigen. Gegenseitige Vorwürfe und erste größere religiös motivierte Konflikte waren die Folge.

Langsam wuchs bei allen Beteiligten die Erkenntnis, dass die Teilung unvermeidlich sei, gefördert durch den Wunsch der Briten nach möglichst schnellem Rückzug aus Indien. Im Juni 1947 kündigte der britische Vizekönig, Lord Mountbatten, seinen Unabhängigkeits- und Teilungsplan an: Zum 14./15. August sollten Pakistan und Indien unabhängig werden und je eine eigene Verfassung entwerfen. Die Fürstenstaaten, darunter auch Kaschmir, sollten sich für die jeweilige Zugehörigkeit entscheiden. Für den Punjab und Bengalen sollten Grenzkommissionen eingesetzt werden. Genau so geschah es. Gandhi und sein engster Vertrauter Jawaharlal Nehru waren gegen die Teilung, akzeptierten sie dann aber, um weitere Konflikte zu vermeiden.

Interner Link: Für Indien und Pakistan war die Teilung ein Desaster; wenige Tage danach wurden die jeweiligen Minderheiten (vor allem im Punjab) Opfer gewalttätiger Gruppen. Es gab circa eine Million Tote. Bis zu zwölf Millionen Menschen wurden auf beiden Seiten in die Flucht getrieben. Zudem konnte die Teilung das Problem der Religionskonflikte nicht lösen, da nur zwei Drittel der Muslime in Pakistan lebten, ein Drittel jedoch in Indien verblieb. Gandhi, der sich für eine faire Behandlung Pakistans bei der Teilung der kolonialen Erbmasse eingesetzt hatte, wurde am 30. Januar 1948 von einem Hindu-Fanatiker erschossen. Der Mörder, ein Brahmane, gab bei seiner Vernehmung an, er habe Gandhi getötet, weil er der muslimischen Minderheit in Indien die gleichen Rechte wie den Hindus zugebilligt habe.

Indien wurde allerdings nicht nur mit Problemen in die Unabhängigkeit entlassen: Anders als viele Entwicklungsländer konnte es einen effizienten Beamtenapparat übernehmen, eine professionelle Armee, eine unabhängige Justiz und nicht zuletzt ein repräsentatives Regierungssystem, innerhalb dessen indische Politiker langjährige Erfahrungen hatten sammeln können.

Die noch nach der alten Verfassung gewählte Konstituierende Versammlung entwarf nach der Unabhängigkeit die Interner Link: Verfassung der Indischen Republik (Inkrafttreten: 1950), die einen föderalen Staat mit starken zentralistischen Elementen schuf. Der erste Premierminister des unabhängigen Indien, Jawaharlal Nehru, glaubte fest an die Demokratie als beste und einzig mögliche Regierungsform, um Indien zusammenzuhalten und den erwünschten sozialen Fortschritt zu erzielen.

Dieser Beitrag erschien in einer längeren Fassung erstmals in der Schwerpunkt-Ausgabe "Indien" der Reihe Informationen zur politischen Bildung (Heft 257, 1997).

Fussnoten

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Dr. Joachim Betz, Jahrgang 1946, ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Übersee-Institut in Hamburg und Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg. Er veröffentlichte unter anderem zu Entwicklungsfinanzierung, Strukturanpassung und Rohstoffpolitik sowie zur Wirtschaft/Politik Indiens und Sri Lankas. Zudem ist Betz Autor der Schwerpunkt-Ausgabe "Indien" der Reihe Informationen zur politischen Bildung (Heft 257, 1997), in dem dieser Beitrag in einer längeren Fassung erstmals erschien.