Zwischen den Bergen des Himalaya und dem Kap Komorin, den Gebieten an der Grenze zu Myanmar und der Wüste Thar befinden sich ganz unterschiedliche Klimaregionen. Auch die Menschen unterscheiden sich sprachlich, religiös und kulturell stark voneinander. Andererseits legen viele Inder zurecht viel Wert auf die Feststellung, dass alles auch mit allem zusammenhängt – "Einheit in Vielfalt" heißt das in einem viel zitierten indischen Slogan. Insofern lässt sich Indien weniger mit einem einzelnen Staat als etwa mit der Europäischen Union als ganzer vergleichen.
In Indien leben derzeit mehr als 1,2 Milliarden Menschen (Stand Volkszählung 2011) – schon bald wird das Land wegen seines Bevölkerungswachstums von immer noch mehr als 15 Millionen pro Jahr seinen Nachbarn China als den bevölkerungsreichsten Staat der Erde ablösen. Trotz der gewaltigen Fläche von fast 3,3 Millionen Quadratkilometern ist das Land damit relativ dicht besiedelt. Am dichtesten leben die Menschen in den rasch wachsenden städtischen Ballungsgebieten, doch auch in weiten Teilen des nordindischen Zweistromlands sowie am Unterlauf des Ganges in den Bundesstaaten Bihar und Westbengalen liegt die mittlere Bevölkerungsdichte inzwischen bei annähernd 1000 Einwohnern je Quadratkilometer. Wüstengebiete und Gebirgsregionen sind dagegen extrem dünn besiedelt. (Gesamt-Indien: 371 / Deutschland: 227)
Bevölkerung
Seit 1901 hat sich Indiens Bevölkerung mehr als verfünffacht. Wenn auch das Bevölkerungswachstum seit einigen Jahrzehnten kontinuierlich nachlässt, ist heute nahezu jeder sechste Erdenbewohner eine Inderin oder ein Inder. Darüber hinaus ist das Durchschnittsalter mit rund 25 Jahren (2011) im Vergleich zu Europa sehr niedrig. Die Lebenserwartung liegt bei rund 67 Jahren. (Deutschland: 79).
Die meisten Menschen leben noch immer
Diese Schicht kommt einerseits in der modernen globalisierten Welt mit all ihren Traditionsbrüchen an, andererseits ist der Druck zur sozialen und religiösen Konformität nach wie vor stark. Spätestens wenn es um die
Bereits 1956 hat Indien als erstes Land der Welt ein Ministerium für Familienplanung eingerichtet. Mit Aufklärung und Kampagnen für die Verwendung von Verhütungsmitteln versuchte man, das Bevölkerungswachstum – es betrug damals mehr als 4 Prozent pro Jahr – in den Griff zu bekommen. Trotz eines gewaltigen Budgets, waren die Ergebnisse aus Sicht der Bevölkerungsstatistiker enttäuschend. Zudem geriet die staatliche Familienplanung durch die unter Indira Gandhis Notstandsregime von 1975-77 praktizierte Zwangssterilisierung von Angehörigen der Unterschicht in Verruf. Auch heute noch wird Familienplanung mit zum Teil aggressiven Kampagnen verbreitet. Immerhin ist das jährliche Bevölkerungswachstum mittlerweile auf unter 1,4 Prozent gesunken.
Der wichtigste Grund für diesen Rückgang dürfte weniger die staatliche Familienplanung als die zunehmende Verbreitung von Bildung in der Bevölkerung sein. Die langsame, aber stetig zunehmende Alphabetisierung der Gesamtbevölkerung korrespondiert mit einem ausgeprägten Bildungshunger einer großen Mehrheit der indischen Bevölkerung. Es ist immer wieder erstaunlich zu erfahren, wie indische Eltern einen erheblichen Anteil ihres Einkommens für Schul- und Studiengelder ihrer Kinder zu investieren bereit sind. So sind Abschlüsse an teuren, meist anglophonen Privatschulen oft Eintrittskarten in eine erfolgreiche berufliche Laufbahn. Auch der Staat investiert Unsummen in seine Elitehochschulen, lässt aber gleichzeitig seine Grundschulen auf einem kümmerlichen Stand verharren und zementiert damit ein Zwei-Klassen-System auf dem Bildungssektor. Zugang zu einer adäquaten Ausbildung haben nur diejenigen Kinder, deren Eltern sich teure Privatschulen leisten konnten.
Einer der großen Probleme des Bevölkerungsaufbaus ist der drastische Rückgang
Traditioneller Multikulturalismus
Hinduistin betet vor dem Jagannath-Tempel in Puri (Orissa). (© Stefan Mentschel)
Hinduistin betet vor dem Jagannath-Tempel in Puri (Orissa). (© Stefan Mentschel)
Der traditionelle Multikulturalismus in ganz Südasien war und ist für viele europäische Indienreisende eine Offenbarung. In Mumbai etwa mit seinem viktorianischen Gateway of India steht Tempel neben Moschee, Kirche neben den "Türmen des Schweigens" genannten Begräbnisstätten der Parsis, ein Gurdwara der Sikhs neben dem Bahai-Tempel. Angehörige aller Religionen pilgern zu Haji Alis Grab, um ihm Tücher und Weihrauch darzubringen und sich hier den Segen des Sufi-Heiligen zu holen.
Die charismatischen Lehrmeister einer Konfession werden oft auch von den Angehörigen anderer Konfessionen aufgesucht, verehrt, um ihren Segen gebeten. Am Grabmal des großen Sufi-Heiligen Nizamuddin Auliya in Delhi herrscht jede Woche am Donnerstagabend dichtes Gedränge. Muslims, Hindus und Sikhs umkreisen das einfache Marmorgrab ehrfürchtig, zünden Räucherkerzen an, spenden Blumenschmuck, Süßigkeiten und bunte Tücher. Die Tradition ist liberal: Selbst Transvestiten, die so genannten Hijras, reihen sich ungehindert in den Kreis der Verehrer ein.
Man weiß, mit wem man es beim Anderen zu tun hat – man kennt seine Feste, einige seiner religiösen Pflichten und Gebote, Grundlagen seines Glaubens. Man trifft sich, hat Umgang miteinander, beschenkt sich an Festtagen. Doch spätestens beim Heiraten sind die Grenzen der Toleranz erreicht. Selbst bei bester Freundschaft und sozial ähnlicher Hierarchieposition schafft das Heiraten über die Grenzen von Konfessionen und Kasten nur Probleme. Wer nicht bei den Seinen, bei seiner Kaste, seinen Gewohnheiten und Ritualen bleibt, muss im Ernstfall mit drakonischen Maßnahmen rechnen: Ausschluss aus Kaste und Familie, Enterbung, ja sogar physische Gewalt bis zum Mord. Zwar gibt es wie überall auf der Welt Menschen, die Grenzen bewusst überschreiten, doch Multikulturalismus ist in Indien mehr ein Mosaik von unterschiedlichen Identitäten bzw. Kommunitäten als ein "Schmelztiegel".
Religion und Politik
Muslime in einer Moschee in Bhopal (Madhya Pradesh). (© Rainer Hörig)
Muslime in einer Moschee in Bhopal (Madhya Pradesh). (© Rainer Hörig)
Der staatspolitisch viel bemühte Slogan von der "Einheit in Vielfalt" trägt der ungeheuren Fülle an Menschen, Kulturen, Religionen und Sprachen Rechnung. Der moderne indische Staat zollt dieser Vielfalt nicht nur Respekt, er greift auf sie als kulturelle Ressource des Nationalismus zurück. Während in Europa mit seinem Verbund von Nationalstaaten diese Erfahrung der kulturellen und religiösen Vielfalt historisch neuartig ist und damit Ängste auslöst, kann Indien auf eine Vielfalt von historischen Erfahrungen im multikulturellen Miteinander zurückgreifen. In sprachlicher, kultureller und religiöser Hinsicht ist die heutige Republik Indien ein ungeheuer vielfältiges Land, in dem unter anderem Hindus, Muslime, Christen, Juden, Sikhs, Buddhisten und Zoroastrier (Parsen) zum Teil seit Tausenden von Jahren zusammen leben. Und die jeweiligen religiösen Gemeinschaften ist keineswegs monolithische Blöcke, sondern in sich wiederum vielfach aufgefächert.
Gewiss: Es gibt in allen Religionen Indiens Eiferer, die die jeweiligen Gläubigen auf eine Linie bringen wollen und gegen die Aufweichung von Glaubensformen durch das allgegenwärtige religiöse Miteinander und Durcheinander wettern. In den letzten Jahrzehnten nimmt das Lagerdenken sogar sichtlich zu. Manche Hindu-Fundamentalisten ähneln den radikalen Islamisten: So wie jene einen rein arabischen Islam auf der Basis des Korans etablieren wollen, bemühen sich diese, islamische Elemente aus Sprache und Kultur auszumerzen.
Militante hindunationalistische Organisationen erklären Indien zum heiligen Land der Hindus. Politisch hat sich dieses Gedankengut im Aufstieg der Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) in den 90er Jahren und dem gleichzeitigen Niedergang der Kongresspartei manifestiert. Die Leitkultur sei hinduistisch, der säkulare Staat solle sich über seine Mehrheitskultur definieren. Die Minderheiten – vor allem die muslimische (etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung) und die christliche Minderheit (2,3 Prozent) – werden damit zu Gästen im eigenen Land. Aus Sicht vieler selbst moderner Hindus geht die Existenz der Minderheiten auf erzwungene oder durch wirtschaftliche Vorteile erkaufte Konversion von Bevölkerungsgruppen zurück, die "eigentlich" Hindus sind und es hätten bleiben sollen. Damit steht die Legitimität anderer Religionen insgesamt in Frage. In einer zunehmenden Zahl von Bundesstaaten wie Chhattisgarh, Madhya Pradesh und Gujarat steht die religiöse Konversion sogar unter Strafe.
In der Kolonialzeit hatten die Briten suggeriert, dass Indien aus sich selbst heraus nur einen ungenügenden Zusammenhalt habe, dass die zentrifugalen Kräfte zu stark seien. Nur dank der vermittelnden Kraft der ausländischen Kolonialherrschaft könne vor allem der Bürgerkrieg zwischen Hindus und Muslimen vermieden werden.
Heute hat diese Behauptung keine Bedeutung mehr. Trotz der traumatischen Folgen der Teilung von 1947, als Millionen Muslime nach Pakistan und Millionen Hindus und Sikhs nach Indien emigrieren mussten, trotz zahlreicher regionaler Konfliktherde und gelegentlich gewalttätig aufbrechender innergesellschaftlicher Probleme ist die ganz große Krise ausgeblieben.
Im Gegenteil: Der indische Staat hat eine bemerkenswerte Flexibilität beim Umgang mit separatistischen, sozialrevolutionären, kommunalistischen oder politisch gezielt angezettelten Konflikten entwickelt und sie mit einer Mischung aus staatlicher Gewalt, Verhandlungsangeboten und geduldiger Überzeugungsarbeit in den Griff bekommen. Im Großen und Ganzen ist es gelungen, die lebenswichtige Balance zwischen den vielen Interessengruppen zu erhalten und sich damit die grundsätzliche Loyalität von Minderheiten für das Staatswesen zu erhalten. Auf diese nicht nur politische, sondern gesamtgesellschaftliche Leistung kann Indien stolz sein.
Voraussetzung für diesen Erfolg ist die indische Demokratie, die es den vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ermöglicht, sich zu repräsentieren, ihre Interessen zu artikulieren und im politischen Diskurs mit anderen Interessen auszuhandeln. Auch der in der Präambel der Verfassung festgeschriebene Säkularismus als Grundprinzip des Staatswesens ist dabei von Bedeutung, wobei dieser Begriff in Indien weniger im Sinne von Privatisierung der Religion und der Gottesferne westlicher Gesellschaften zu verstehen ist. Er wird vielmehr als Gegenbegriff zum so genannten Kommunalismus verstanden: Eine Haltung, bei der die Solidarität der eigenen religiösen Gemeinschaft und nicht dem größeren Ganzen der Nation gilt.
Das heißt, der Säkularismus signalisiert die an sich unumstrittene Äquidistanz (Neutralität) des Staates gegenüber allen Religionen, wobei deren Umsetzung, etwa bei der Gestaltung von Schulbüchern, im staatlichen Zeremoniell und im öffentlichen Leben, zunehmend umstritten ist. Viele Hindus sehen den Säkularismus der Kongresspartei als eine Methode der Bevorzugung der Minderheiten gegenüber der hinduistischen Mehrheit.
Ebenfalls kontrovers diskutiert wird die in der Verfassung festgeschriebene Förderung benachteiligter Bevölkerungsgruppen: "Kastenlose", die sich selbst Dalits (Unterdrückte) nennen, und Adivasi, die als Indiens Urbevölkerung gelten. Beide zusammen machen beinahe ein Viertel der Bevölkerung aus und werden vom Staat mit gezielten Maßnahmen wie etwa der Quotierung von öffentlichen Positionen und Studienplätzen unterstützt. Damit sollen sie nach jahrtausendelanger Unterdrückung allmählich in die Mitte der Gesellschaft finden, zu Bildung und Wohlstand sowie einer eigenen Stimme und Selbstbewusstsein.
Wirtschaft und Politik
Das starke, wenn auch wellenförmig verlaufende Wirtschaftswachstum seit Anfang der 90er Jahre stellt zweifellos ein wichtiges Element des nationalen Zusammenhalts dar, ist aber auch eine wichtige Stütze für das selbstbewusste Agieren Indiens auf der Weltbühne.
Als 1991 der Staat in eine schwere Zahlungsbilanzkrise geriet, startete unter dem damaligen Finanzminister und heutigen Premierminister Manmohan Singh eine Politik der Wirtschaftsliberalisierung, die Indien ein anhaltendes Wirtschaftswachstum von zum Teil mehr als 8 Prozent pro Jahr (8,2 Prozent im ersten Halbjahr des Fiskaljahres 2006/07) bescherten – ein Grund für die große Aufmerksamkeit, die Indien im 21. Jahrhundert zuteil wird.
Der Nachbarstaat Pakistan ist Indien von seiner Mentalität sehr ähnlich. Doch vor allem wegen der ungeklärten territorialen Ansprüche auf das ehemals unabhängige Fürstentum Jammu und Kaschmir sind die beiden südasiatischen Atommächte nach wie vor miteinander verfeindet. Trotz des anhaltenden Konfliktpotenzial hat man inzwischen jedoch sowohl in Pakistan als auch in Indien verstanden, dass ein stabiles, von bilateralen Spannungen ungetrübtes Wirtschaftswachstum wichtiger ist als die Durchsetzung territorialer und machtpolitischer Interessen.
Perspektiven
Im Rummel über die Entwicklungsfortschritte Indiens sollte nicht vergessen werden, dass ein großer Teil der indischen Bevölkerung von all dem Glanz nichts hat. So können viele Bauern nicht mehr rentabel wirtschaften.
Wie lange wird der internationale Indien-Enthusiasmus anhalten? Es gibt viele Faktoren, die die Entwicklung ernsthaft bedrohen können – Korruption, separatistische Bewegungen, Religionskonflikte,
Kleine Erfolge sind wohl da – etwa die Verbesserung der Luftqualität in einigen Metropolen durch die Umstellung der Motor-Rikschas, Taxis und des öffentlichen Bustransports auf Erdgas als Treibstoff. Auch hat die indische Gesellschaft immer wieder erstaunliche Kräfte der Selbstorganisation und Selbstheilung mobilisiert. Wichtig für den Wachstumskurs Indiens ist auch, das außenpolitische Konfliktpotential vor allem mit China und Pakistan in den Griff zu bekommen. Innenpolitisch gilt es, die Religionen in einer für alle vorteilhaften Balance zu halten und den Unterschied zwischen arm und reich spürbar auszugleichen.
Indische Intellektuelle können sich an den Zuständen in ihrer Heimat aufreiben, doch das Grundvertrauen in Indiens "Einheit in Vielfalt" ist ihnen bis heute nicht abhanden gekommen. Sie haben keine Angst vor der Zukunft, befürchten keine großen sozialen Umwälzungen oder gar einen Atomkrieg. Unzählige Initiativen der Zivilgesellschaft setzen sich für Alphabetisierung der Armen, für Aids-Opfer und die Stammesbevölkerung, gegen Tierversuche und Mitgiftmorde, gegen die Einsamkeit im Alter und für Vegetarismus ein. Sicher sind darunter auch viele mehr oder weniger liebenswürdige Schrullen verborgen, manchmal auch eine knallharte politische Agenda, Geltungssucht oder Geschäftsinteressen. Doch alles in allem ist diese Gesellschaft jung, quicklebendig, ungestüm, bildungssüchtig, engagiert, karrierebewusst und dabei auch noch stolz auf ihren Staat und seine alte Kulturgeschichte. Mit diesem Potenzial kann die aufstrebende Großmacht Indien rechnen.