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Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas

Redaktion

/ 8 Minuten zu lesen

In den vergangenen Jahren ist der Anteil von russischen Gaslieferungen nach Deutschland im Verlauf gestiegen. Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist eine verstärkte Debatte um die Abhängigkeit von Gasimporten entstanden.

In der Verdichterstation in Mallnow wird das Erdgas der Pipeline „Jagal“ nahe der deutsch-polnischen Grenze verdichtet. Solche Verdichterstationen sind nötig, um den Druck konstant und das Erdgas transportfähig zu halten. (© picture-alliance, dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul)

Hinweis

Der Artikel behandelt die Debatte um Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas bis zum 13. April 2022. Die jüngsten Entwicklungen zur Energieversorgung in Deutschland und Europa können Sie Externer Link: in der europäischen Presseschau euro|topics verfolgen. (Stand: 27.07.2022)

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat am 30. März die Frühwarnstufe für den so genannten "Notfallplan Gas" ausgerufen. Demnach treten nun erste Vorsorgemaßnahmen in Kraft. Gasversorger und Betreiber der Leitungen werden etwa verpflichtet, regelmäßig die Lage einzuschätzen. Vonseiten der Gashändler und -lieferanten sowie Leitungsbetreibern sollen marktbasierte Maßnahmen wie der Rückgriff auf Gasspeicher oder die flexible Beschaffung eingeleitet werden. Noch greift der Staat aber nicht ein. Ein "Krisenteam Gas", das aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) sowie der Bundesnetzagentur, des Marktgebietsverantwortlichen Gas und der Fernleitungsnetzbetreiber besteht, tagt nun täglich. Unterstützt wird es von Vertreterinnen und Vertretern der Bundesländer.

Grund für die Ausrufung der Frühwarnstufe ist die Sorge vor einer Eskalation mit Russland, die die Versorgungssicherheit gefährden könnte. Vorangegangen war die Ankündigung der russischen Regierung, bei Gaslieferungen nur noch die Bezahlung in Rubel zu akzeptieren. Aus Sicht des BMWK stellt dies ein Bruch der bestehenden Lieferverträge dar. Bereits am 28. März hatten die G7-Staaten erklärt, Gaslieferungen weiterhin in Euro oder Dollar zu bezahlen. Russland besteht auf eine Zahlung in Rubel. Der russische Präsident Putin erklärte, er habe ein entsprechendes Dekret unterzeichnet. Die Bundesregierung stellte klar, dass Gaslieferungen nur in westlichen Währungen bezahlt werden, prüft nun aber, ob der von Russland angebotene Weg auch den geltenden Richtlinien entspricht.

Was ist der Notfallplan Gas?

Der Externer Link: Notfallplan Gas basiert auf der europäischen SoS-Verordnung von 2017. Er hat drei Krisenstufen. In Stufe eins ("Frühwarnstufe") werden Vorsorgemaßnahmen getroffen, wenn es Hinweise dafür gibt, dass die Gasversorgung durch ein bestimmtes Ereignis erheblich eingeschränkt werden könnte. Stufe zwei ("Alarmstufe") wird ausgerufen, wenn bereits eine Störung der Gasversorgungslage besteht, aber der Markt noch in der Lage ist, eine solche Störung auszugleichen. Wenn der Markt allein nicht mehr fähig ist, für Ausgleich zu sorgen, wird die dritte Stufe des Plans ("Notfallstufe") wirksam. Dann können auch "nicht marktbasierte Maßnahmen" ergriffen werden, um die Versorgung sicherzustellen. Einen besonderen Schutz genießen dabei Privatkunden.

Gas als einer der wichtigsten Energieträger in Deutschland

Erdgas zählt neben Mineralöl zu den wichtigsten Energieträgern für den deutschen Primärenergieverbrauch und wird hierzulande vor allem für die Wärmeversorgung genutzt. Parallel zu den befürchteten Importengpässen steigen auch die Verbraucherpreise für Gas, denn importiertes Erdgas war im Februar 2022 dreieinhalb Mal so teuer wie ein Jahr zuvor. Ein Grund dafür war das einsetzende Wirtschaftswachstum in vielen Regionen der Welt nach den pandemiebedingten Einbrüchen in den Jahren 2020 und 2021 und der folgenden raschen Erholung der Wirtschaft. Zusätzlich verschärfte der geringe Füllstand der deutschen Gasspeicher die Lage – Anfang April lag er bei rund 27 Prozent. Der Krieg in der Ukraine hat die Preise noch einmal ansteigen lassen.

Energieversorgung in Deutschland

Die deutsche Bruttoenergieerzeugung betrug im Externer Link: Jahr 2021 insgesamt 579 Milliarden Kilowattstunden. In Deutschland werden laut Umweltbundesamt (UBA) etwa 29 Prozent des Primärenergieverbrauchs inländisch gewonnen. Primärenergie bezeichnet die Energie, die direkt in Energieträgern vorhanden ist und noch nicht – etwa in Strom – umgewandelt wurde. Hierzulande entfielen von der Bruttoenergieerzeugung 59 Prozent auf konventionelle Energieträger und 41 Prozent auf erneuerbare Energien.

Erdgas soll laut dem Bundeswirtschaftsministerium einen klimaschonenden Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien ermöglichen, da sie im Vergleich zu anderen Energieträgern weniger CO2-Emissionen verursachen. Steinkohle hat laut Berechnungen des UBA beispielsweise einen um Externer Link: 40 Prozent höheren CO2-Faktor als Erdgas. Nach dem bereits 2011 beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft bietet die Verwendung von Erdgas nach Ansicht der Bundesregierung die Möglichkeit, auch den Ausstieg aus der besonders klimaschädlichen Kohle zu vollziehen. Diesen will sie Externer Link: laut Koalitionsvertrag "idealerweise" bis 2030 durchsetzen, gesetzlich festgelegt ist der Ausstieg bis spätestens 2038. Zudem kommt Gas bei der Energieversorgung eine besondere Rolle zu: Während die Erzeugung von Wind- und Solarenergie von äußeren Umständen abhängig ist, die tagesbedingt sehr unterschiedlich ausfallen können, werden Gaskraftwerke rund um die Uhr betrieben. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit, da sie die so genannte "Grundlast" im deutschen Stromnetz garantieren – also die Mindestmenge an Strom, die zu jeder Tageszeit nachgefragt wird.

Gasimporte bereits aus der Sowjetunion

Die BRD importierte bereits während des Kalten Krieges Erdgas aus der Sowjetunion: 1973 strömte zum ersten Mal sibirisches Gas in die Bundesrepublik. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) war daran, auch in seinem vorherigen Amt als Außenminister, maßgeblich beteiligt. Trotz des Widerstandes der US-Regierung unter Ronald Reagan, unterzeichnete die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) 1980 ein Abkommen über eine langfristige wirtschaftliche deutsch-sowjetische Zusammenarbeit. Kurze Zeit später begannen Verhandlungen über ein Pipelineprojekt. Obwohl Reagan sich unter Androhung eines US-Embargos auf Technologielieferungen entschieden gegen die Pipeline stellte, gab es nach langen Verhandlungen schließlich eine Einigung. Die westeuropäischen Regierungen hatten Kompromissbereitschaft gezeigt, indem sie beispielsweise die Reduktion der Rohrleistung und eine restriktivere Kreditpolitik gegenüber der Sowjetunion zusagten. Ende der 1980er-Jahre deckten sowjetische Importe bereits etwa die Interner Link: Hälfte des Gasbedarfs der BRD.

Keine amtlichen Zahlen zu deutschen Gasimporten

Interner Link: Zwar gab es über die Jahre Schwankungen, in den vergangenen zehn Jahren ist die Abhängigkeit von russischem Gas jedoch gestiegen. Russland profitierte nicht zuletzt von dem Anstieg des deutschen Erdgasbedarfs. Die Datenlage ist bei Erdgas-Importe allerdings weniger transparent als beispielsweise bei Erdöl, für das ein Gesetz die Meldung der Im- und Exporte vorsieht. Zwar erheben das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) und die Bundesnetzagentur Daten zu Erdgaslieferungen, diese würden laut einer Recherche des Bayerischen Rundfunks aber teilweise auf freiwilligen Angaben der Gasunternehmen basieren.

Im Jahr 2007 lag der Anteil der russischen Gasimporte laut dem Mineralölkonzern BP bei 43 Prozent. Bis 2015 kletterte der Anteil auf 45 Prozent und liegt heute bei über der Hälfte des deutschen Bedarfs. Gleichzeitig ist die Gesamtimportmenge an Erdgas stetig gewachsen, von etwa 84 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2007 auf 102 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2020. Deutschland selbst verfügt nur über minimale Gasreserven, lediglich fünf Prozent des deutschen Verbrauchs wird durch einheimische Produktion gedeckt. Damit ist die Bundesrepublik abhängig von Importen. Russische Lieferungen deckten 2020 etwa 55 Prozent des deutschen Gasimports. Mit weitem Abstand dahinter folgen Norwegen und die Niederlande als Energielieferanten.

Bau der Nord-Stream-Pipelines

Die Bundesregierung hat über Jahre bewusst auf Russland als einen der Hauptenergielieferanten für Deutschland gesetzt. Im Jahr 2005 unterzeichnete die Regierung aus SPD und den Grünen unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Absichtserklärung für den Bau der Erdgaspipeline Nord Stream 1. Die Trasse sollte durch die Ostsee führen und direkt russisches Gas nach Deutschland leiten. Im Jahr 2011 wurde Nord Stream 1 in Betrieb genommen. Die Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vereinbarte 2015, ein Jahr nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, den Bau einer weiteren Pipeline auf der Ostsee-Trasse: Nord Stream 2. Im gleichen Jahr kaufte der staatliche russische Energiekonzern Gazprom rund ein Viertel der deutschen Erdgasspeicher von dem Chemiekonzern BASF. Dazu gehörte auch der größte deutsche Erdgasspeicher im niedersächsischen Rehden, der eine zentrale Bedeutung für die Krisenvorsorge hat. Da der Kauf über eine deutsche Tochterfirma erfolgte, Externer Link: erklärte das damals von der SPD geführte Bundeswirtschaftsministerium, dass es für die Übernahme keinen Prüfungsbedarf gegeben habe.

Gasexporte als politisches Druckmittel

International wurde besonders der Bau der Nord-Stream-Pipelines kritisiert. Bis dato wurden russische Gasexporte über Pipelines abgewickelt, die durch das Territorium anderer osteuropäischer Länder führten wie zum Beispiel Polen oder die Ukraine. Abgeordnete in diesen Ländern sahen in den Nord-Stream-Projekten deswegen auch ein geopolitisches Druckmittel gegen ihre eigenen Länder.

Viele Staaten, die selbst nur im geringen Maße Erdgas fördern können, sind besonders stark auf russisches Erdgas angewiesen. Dazu zählen etwa Finnland, die baltischen Länder, Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Österreich. Im Schnitt bestreiten die EU-Staaten knapp 40 Prozent ihres Erdgasverbrauchs durch Importe aus Russland. Allerdings macht Erdgas in Ländern wie Finnland nur fünf Prozent des Primärenergieverbrauchs aus. In Deutschland liegt dieser Wert bei 27 Prozent, was die Abhängigkeit erhöht.

Der Kreml hat Erdgasexporte bereits häufiger als politisches Druckmittel gegen andere Länder eingesetzt. Die bislang schwerste Krise entstand infolge der Orangenen Revolution in der Ukraine und der Hinwendung des Landes zum Westen. Uneinigkeiten bei einem Anschlussvertrag zwischen der Ukraine und Russland führten zur Einstellung der Gaslieferungen an die Ukraine im Januar 2009. Da die Ukraine ein wichtiges Transitland für Gaslieferungen ist, kam es vor allem in südosteuropäischen Staaten Bulgarien, Moldau und Serbien zu erheblichen Engpässen. Unter Vermittlung der Bundesregierung und der EU konnte der Gasstreit Ende Januar beigelegt werden – vor dem Hintergrund der Drucksituation sehen Expertinnen und Experten darin einen unvorteilhaften Gasvertrag für die Ukraine.

Debatte um Gas-Embargo

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich eine Debatte um ein Embargo gegen Gasimporte aus Russland entwickelt. Befürworterinnen und Befürworter eines Embargos sagen, dass Russland durch die Einnahmen aus den Rohstoffexporten den Krieg mitfinanziere. Die Bundesregierung lehnt ein schnelles Embargo bisher ab, unter anderem auch deswegen, weil dadurch der Energiebedarf für die deutsche Industrie gefährdet sei. Dies könnte letztlich auch zu einem "Wohlstandsverlust" führen, wie Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) plädiert dafür, die Bundesrepublik schrittweise unabhängig von russischem Gas zu machen.

Parallel arbeitet die Bundesregierung daran, die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Bereits jetzt sei der Anteil der Importe aus Russland laut Bundeswirtschaftsministerium auf 40 Prozent gesunken. Wirtschaftsminister Habeck sagte Ende März, dass ein vollständiger Ausstieg aus russischem Erdgas bis Sommer 2024 gelingen könnte. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte Ende Februar angekündigt, Flüssiggasterminals (Liquefied Natural Gas-Terminals) bauen lassen zu wollen. Diese sogenannten LNG-Terminals sollen eine Gasversorgung abseits des bestehenden, mit gasförmigen Erdgas belieferten russischen Pipelinenetzes möglich machen, indem flüssiges Erdgas aus anderen Staaten nach Deutschland importiert werden kann. Für den Export soll flüssiges Gas, das für die Verflüssigung auf minus 162 Grad Celsius heruntergekühlt werden muss, mit Schiffen in deutsche Häfen gebracht werden. An den mobilen LNG-Terminals können sie entladen und weiterverteilt werden. Bislang ist Deutschland auf die LNG-Terminals der Nachbarstaaten wie den Niederlanden, Frankreich oder Belgien angewiesen. Die Verflüssigung des Erdgases ist energieintensiver als das Pipeline-Gas, da Emissionen bei Verflüssigung, Transport und Regasifizierung anfallen.

Wirtschaftsminister Habeck hat indes eine langfristige "Energiepartnerschaft" mit Katar angekündigt. Das Land ist einer der größten Flüssiggasexporteure der Welt, steht aber gleichzeitig wegen der dortigen Menschenrechtslage in der Kritik. Zuvor war bereits das Genehmigungsverfahren für die Pipeline Nord Stream 2 gestoppt worden.

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Korrekturhinweis: Im Teaser haben wir die Formulierung "stetig" durch "im Verlauf" ersetzt, da es Schwankungen in den Importmengen aus Russland gegeben hat.

Hinweis: Als Reaktion auf eine Zuschauermail haben wir den Absatz "Gasimporte bereits aus der Sowjetunion" um zwei Sätze erweitert.

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