Bereits im Jahr 2015 hatte es eine ganze Serie von kritischen Berichten in der britischen Tageszeitung „Financial Times“ (FT) über den deutschen Zahlungsdienstleister Wirecard gegeben. Der Journalist Dan McCrum hatte zum Geschäft des Unternehmens in Asien recherchiert und Unregelmäßigkeiten in den Interner Link: Bilanzen von Wirecard öffentlich gemacht.
Während dieExterner Link: „FT“ weitere kritische Berichte veröffentlichte, wurde Wirecard 2018 in den Interner Link: Aktienindex DAX aufgenommen und stieg zu einem der meistbeachteten börsennotierten Unternehmen in Deutschland auf. Zahlreiche positive Medienberichte hierzulande lösten einen regelrechten Hype auf die Aktie aus. Auch, weil Wirecard als eines der wenigen erfolgreichen Fintech-Unternehmen aus Deutschland als Hoffnungsträger galt. Der Zahlungsdienstleister war an der Börse zwischenzeitlich wertvoller als die Deutsche Bank, das damals und heute größte deutsche Finanzinstitut.
Dem Milliarden-Betrug auf der Spur
Im Februar 2019 durchsuchte die Polizei Wirecard-Büros in Singapur. Zuvor hatte die „FT“ berichtet, dass ein hochrangiger Manager an diesem Standort Verträge und Bilanzen gefälscht haben soll. Im Herbst 2019 veröffentlichte die „Financial Times“ erneut Hinweise darauf, dass Teile der Bilanz von Wirecard gefälscht waren – die Zahlen seien demnach aufgebläht worden, um Anleger über den wahren Wert des Unternehmens zu täuschen. Die Aktie verlor daraufhin fast ein Viertel ihres Wertes. Wirecard hatte die Zeitung zuvor bereits auf Unterlassung verklagt und auch die deutsche Banken- und Finanzaufsicht BaFin hatte im April 2019 Strafanzeige gegen die Journalisten wegen des Verdachts auf Marktmanipulation erstattet (siehe weiter unten).
Im April 2020 verdichteten sich die Anzeichen, dass das Unternehmen in Schwierigkeiten steckt: Eine Sonderprüfung durch die Wirtschaftsprüfer von KPMG konnte Zweifel an den Umsatz- und Gewinnzahlen nicht ausräumen. Am 26. Mai 2020 wurde öffentlich, dass die von Wirecard beauftragte Prüfungsgesellschaft „Ernst & Young“ (EY) den Abschluss der Jahresbilanz für 2019 verschieben musste. Damit einhergehend wurde auch der Termin der Jahreshauptversammlung verlegt. Interner Link: Aktiengesellschaften (AG) sind verpflichtet, ihre Bilanzen jährlich prüfen zu lassen und das Ergebnis zu veröffentlichen. Auf den Interner Link: Hauptversammlungen müssen die Vorstände vor den Aktionären über das Geschäftsjahr Rechenschaft ablegen.
Wirecard meldet Insolvenz an
Anfang Juni 2020 erwirkte die Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbefehl für die Konzernzentrale von Wirecard in Aschheim bei München. Kurz vor der geplanten Bilanzpressekonferenz am 18. Juni 2020 wurde bekannt, dass „EY“ der Bilanz das sogenannte Testat verweigerte. Damit bestätigen Interner Link: Wirtschaftsprüfer, dass Geschäftszahlen korrekt und nachvollziehbar sind. Doch „EY“ konnte für angebliche Guthaben auf Treuhandkonten in Asien über 1,9 Milliarden Euro keine ausreichenden Nachweise finden. Später wurde klar, dass wohl weder das Geld noch die Konten existierten und die Bilanzen über Jahre gefälscht worden waren.
In der Folge musste der Wirecard-Vorstand gehen: Der operative Geschäftsführer (Chief Operating Officer, COO) Jan Marsalek war noch am gleichen Tag von seinen Tätigkeiten freigestellt worden. Vorstandschef Markus Braun trat am 19. Juni 2020 zurück. Die Wirecard-Aktie wurde binnen weniger Tage nahezu wertlos, am 25. Juni beantragte das Unternehmen ein Insolvenzverfahren wegen drohender Zahlungsunfähigkeit.
Mutmaßlich größter deutscher Finanzskandal
Der Wirecard-Skandal hat in mehrfacher Hinsicht eine historische Bedeutung. Zum einen ist es der wohl größte Bilanzfälschungs- und Betrugsskandal in der Geschichte der Bundesrepublik, der das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland erschütterte. Binnen kurzer Zeit wandelte sich Wirecard von einem milliardenschweren DAX-Konzern zu einem fast wertlosen „Pennystock“-Unternehmen. Tausende Anleger verloren zum Teil hohe Geldbeträge. 2022 wurden auch die von „EY“ bestätigten Jahresabschlüsse 2017 und 2018 für nichtig erklärt. Interner Link: Schadensersatzverfahren gegen Wirecard und auch seine langjährigen Wirtschaftsprüfer blieben bislang erfolglos.
Zum anderen hat der Fall Wirecard auch eine politische Dimension: Zahlreiche prominente Lobbyisten und Berater, darunter ehemalige Spitzenpolitiker wie Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU, ehemaliger Wirtschafts- und Verteidigungsminister, 2009-2011), hatten sich bei der deutschen Bundesregierung und sogar direkt bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für Wirecard eingesetzt. Der Deutsche Bundestag setzte im Oktober 2020 einen Untersuchungsausschuss ein, der sich unter anderem auch mit der Frage beschäftigte, inwiefern der damalige Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hätte intervenieren können und welche Möglichkeiten die Interner Link: Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (kurz: BaFin) gehabt hätte, den Betrug früher zu entdecken.
Die Firma Wirecard
Wirecard war ein deutscher Finanzdienstleister mit Sitz in Aschheim bei München. Das Unternehmen wurde 1999 gegründet und wickelte zunächst vor allem Zahlungen für Pornografie- und Glücksspielseiten im Internet ab. 2005 ging Wirecard in das Unternehmen InfoGenie auf und unter seinem eigenen Namen an die Börse. Im Jahr 2006 wurde Wirecard in den deutschen Aktienindex für Technologieunternehmen (TecDAX) aufgenommen.
Das Unternehmen profitierte in den folgenden Jahren sehr stark vom Boom im Onlinehandel: Immer mehr Menschen kauften Waren und Dienstleistungen im Internet – Wirecard bot die nötige Technologie und Logistik für die Zahlungsabwicklung an. Im September 2018 wurde Wirecard in den bedeutendsten deutschen Aktienindex DAX aufgenommen . Zu diesem Zeitpunkt wurde der Finanzdienstleister mit fast 25 Milliarden Euro bewertet – und damit höher als die Deutsche Bank.
Wirecard existiert bis heute als Unternehmen, befindet sich aber seit August 2020 in einem Insolvenzverfahren.
Die juristische Aufarbeitung des Betrugsfalls zieht sich in mehreren straf- und zivilrechtlichen Prozessen hin. Dabei geht es neben der Verantwortung der Wire-Card-Vorstände auch um die Frage, ob die Wirtschaftsprüfer von „EY“ mitverantwortlich für den finanziellen Schaden der Anleger sind – und somit auch, ob Schadensersatz geleistet werden muss. Das wurde zuletzt im Februar 2025 durch das Bayerische Oberste Landesgericht in einem Musterverfahren abgelehnt. Haftungsansprüche gegen die BaFin hatte der Bundesgerichtshof im Januar 2024 in letzter Instanz zurückgewiesen.
Wer überwacht Banken und Finanzinstitute in Deutschland?
Finanzdienstleistungen und auch der Handel mit Wertpapieren sind in Deutschland reguliert. Unternehmen, die solche Dienstleistungen anbieten, wie Banken, Zahlungsdienstleister und Versicherer, werden kontrolliert von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz: BaFin.
Neben dem Banken- und Versicherungswesen wacht die BaFin darüber, dass die Vorschriften des Externer Link: Wertpapierhandelsgesetzes eingehalten werden. Das betrifft zum Beispiel Vorgaben für die Anlageberatung, aber vor allem die Berichts- und Meldepflichten für Kapitalgesellschaften. Gibt es bei einem an der Börse gehandelten Unternehmen zum Beispiel Entwicklungen, die den Aktienkurs beeinflussen können, müssen diese unverzüglich öffentlich gemacht werden (Interner Link: „Ad-hoc-Meldungen“). Damit soll sichergestellt werden, dass der Wertpapierhandel möglichst transparent abläuft und es nicht zu Marktmanipulationen kommt (zum Beispiel durch Interner Link: „Insiderhandel“).
Gibt es Hinweise auf solche Manipulationen, muss die BaFin diesen nachgehen. Sie ist zudem berechtigt, strafrechtlich relevante Beobachtungen an die Ermittlungsbehörden zu melden. Außerdem stehen ihr direkte Eingriffsinstrumente zur Verfügung: So kann die BaFin beispielsweise den Handel mit oder von bestimmten Finanzprodukten zeitweise aussetzen oder sogar ganz verbieten. Externer Link: Sie darf auch selbst Strafen wie zum Bespiel Bußgelder verhängen, wenn sie Verstöße gegen geltende Gesetze beobachtet. Darüber hinaus braucht jede in Deutschland tätige Bank eine Zulassung durch die BaFin. Dadurch ist die Behörde letztlich in der Lage, die Geschäftstätigkeit von betrügerischen Finanzinstituten zu unterbinden.
Die BaFin entstand im Jahr 2002, als die drei Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, den Wertpapierhandel und das Versicherungswesen zusammengelegt wurden. In Folge der Interner Link: Finanz- und Bankenkrise von 2007 bis 2009 wurden die Aufgaben und Kompetenzen der Behörde ausgebaut und ihr Personal erhöht. Die BaFin hat ihren Sitz in Bonn und Frankfurt am Main, Stand Mai 2025 sind rund 2.800 Menschen dort beschäftigt.
Seit 2011 besteht zudem das Europäische Finanzaufsichtssystem, das unter anderem die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (European Bank Authority, EBA) und die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Markets Authority, ESMA) umfasst. Ihre Aufgabe ist es vor allem, einen Handlungsrahmen für die nationalen Aufsichtsbehörden vorzugeben, während „bedeutende Großbanken“ direkt von der Europäischen Zentralbank (EZB) beaufsichtigt werden. Für die konkrete Aufsicht über deutsche Unternehmen und deutsche Märkte ist nach wie vor die BaFin zuständig.
Welche Rolle spielte die BaFin bei Wirecard?
Die BaFin blieb im Fall Wirecard keineswegs untätig. Nach der Insolvenz des Unternehmens im Sommer 2020 wurde bekannt, dass die Behörde in den Jahren 2017 und 2019 zwei so genannte „Sonderprüfungen“ bei der zum Konzern gehörigen „Wirecard Bank“ durchgeführt hatte. Solche Sonderprüfungen gelten als eine der schärfsten Waffen der Finanzaufsicht. Gravierende Verstöße gegen das Kreditwesen- oder Geldwäschegesetz stellte die BaFin damals nicht fest.
Im Externer Link: Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages wurde Kritik daran laut, dass sich die Prüfer zu sehr auf die „Wirecard Bank“ konzentriert und der Wirecard AG – wo die dubiosen Finanztransaktionen stattfanden – zu wenig Beachtung geschenkt hätten. Zudem wurde bemängelt, dass die BaFin über zu wenige Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer verfügte. Während die Fraktionen der Regierungsparteien von CDU, CSU und SPD die Verantwortung vor allem bei den Wirtschaftsprüfern sahen, kritisierte die Opposition im Deutschen Bundestag ein generelles Aufsichtsversagen von der BaFin bis hin zum Bundesfinanzministerium.
Bereits vor der Insolvenz von Wirecard hatte die Tätigkeit der BaFin Kritik ausgelöst. Obwohl es keine Hinweise auf Insiderhandel gab, verhängte die BaFin im Februar 2019 ein zweimonatiges Interner Link: Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien – obwohl unter anderem die Bundesbank zu einer anderen Lageeinschätzung kam. Damit wollte die Behörde nach eigenen Angaben den Aktienkurs des Unternehmens vor Manipulationsversuchen und damit das Vertrauen in den Aktienmarkt in Deutschland schützen.
Auch der Gehalt der kritischen Berichte der „Financial Times“ über Wirecard wurde von der BaFin offenbar nicht oder zu spät erkannt. Im Gegenteil: Die Behörde stellte im April 2019 Strafanzeige gegen die beteiligten Journalisten, weil sie hinter den Berichten selbst Marktmanipulationen vermutete, indem der Wert der Wirecard-Aktie gezielt unter Druck gesetzt werden sollte. Die Staatsanwaltschaft München stellte ihr Ermittlungserfahren gegen die Journalisten im September 2020 ein. Seit 2022 laufen Strafverfahren am Landgericht München gegen mehrere ehemalige Wirecard-Manager. Zudem sind tausende zivilrechtliche Klagen von geschädigten Anlegern eingegangen. Im gesamten Insolvenzverfahren geht es um mehr als 15 Milliarden Euro, die Gläubiger und Aktionäre von Wirecard einfordern.
Welche Reformen gab es im Zuge des Skandals?
Die Bundesregierung reagierte auf den Wirecard-Skandal mit dem Externer Link: Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (FISG), das 2021 im Bundestag verabschiedet wurde. In dem Gesetz wurde die Rolle der BaFin gestärkt, sie erhielt mehr Durchgriffsrechte. Börsennotierte Unternehmen wurden darüber hinaus dazu verpflichtet, interne Kontrollsysteme sowie Risikomanagementsysteme zu installieren. Die Maßnahmen sollen dazu dienen, das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland wiederherzustellen. Die BaFin selbst hat infolge des Skandals die Regeln für den privaten Aktienhandel ihrer Mitarbeiter verschärft. Bei einer internen Prüfung der Behörde gab es bei mindestens 42 Beschäftigten Anhaltspunkte für Verstöße gegen Compliance-Richtlinien im Zusammenhang mit dem Wirecard-Fall.
Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) sieht weiterhin Nachbesserungsbedarf. Zwar habe die Bundesregierung mit ihren Reformen in vielen Bereichen Verbesserungen erreicht, Externer Link: stellte die ESMA in einem Bericht von 2024 fest. Die BaFin sei jedoch als Aufsichtsbehörde nicht vollständig vor Einflussnahme aus dem Finanzministerium geschützt.
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