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„Staatliche Entwicklungszusammenarbeit hat keineswegs nur selbstlose Ziele“ | Hintergrund aktuell | bpb.de

„Staatliche Entwicklungszusammenarbeit hat keineswegs nur selbstlose Ziele“ Interview mit dem Politikwissenschaftler und Ethnologen Wolfgang Gieler

Redaktion Wolfgang Gieler

/ 9 Minuten zu lesen

Kürzungen von US-Entwicklungshilfen und strategischer Wandel in Deutschland: Die Internationale Entwicklungszusammenarbeit (EZ) befindet sich im Umbruch. Der Politikwissenschaftler und Ethnologe Wolfgang Gieler spricht im bpb-Interview über eine neue Rolle Deutschlands und erklärt, warum Entwicklungspolitik ohne lokale Mitbestimmung oft wirkungslos bleibt.

Eine Stele vor dem Dienstgebäude des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Berlin zeigt die aktuelle Zahl der Weltbevölkerung. Darunter der Leitspruch „Ein Leben in Würde weltweit.“ (© picture alliance / epd-bild | Christian Ditsch)

bpb.de: Herr Professor Gieler, die Vereinigten Staaten haben unter Präsident Trump die Hilfen für den Globalen Süden Externer Link: massiv gekürzt. Die Behörde für internationale Entwicklung USAID (United States Agency für International Development) wurden aufgelöst. Welche Folgen drohen durch den Rückzug der USA?

Wolfgang Gieler: Die USA sind traditionell einer der größten Interner Link: Geber der Interner Link: Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Die massiven Einsparungen von USAID haben deshalb für die Länder des Interner Link: Globalen Südens Finanzierungslücken für viele ihrer Projekte zur Folge: Besonders betroffen sind die Bereiche Gesundheit, Ernährungssicherung und Demokratieförderung – denn hier war USAID besonders stark engagiert. Doch es geht nicht nur ums Geld: Mit USAID geht auch eine institutionelle Expertise verloren – etwa durch Streichungen im Projektmanagement oder bei der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.

Mittel- und langfristig kann es sein, dass sich die Interner Link: Nehmerländer dann verstärkt an andere Geldgeber wenden, um an die fehlenden Mittel zu kommen – etwa an China oder die Externer Link: Golfstaaten. Dadurch steigt aber das Risiko, dass entwicklungspolitische Standards wie Transparenz, Partizipation oder Menschenrechte in den Hintergrund geraten.

Auf globaler Ebene hat der Rückzug von USAID destabilisierenden Charakter für die internationale Entwicklungsarchitektur. Die Organisation spielt bislang eine Schlüsselrolle bei Interner Link: multilateralen Initiativen – etwa beim Gesundheitsschutz, beim Klimaschutz oder der Interner Link: humanitären Zusammenarbeit. China, aber auch neuere Akteure wie die Türkei oder die Golfstaaten, könnten diese Lücke wie gesagt füllen. Statt Interner Link: Good Governance würden dann aber wohl ökonomische und geopolitische Ansätze vorherrschen.

Alles in allem könnte der Wegfall der USAID-Hilfen eine tektonische Verschiebung der Internationalen Entwicklungszusammenarbeit zur Folge haben. Deutschland muss meiner Meinung nach reagieren und die eigene Rolle bei der Entwicklungszusammenarbeit klarer definieren.

bpb.de: Allein im Jahr 2023 gaben die USA weit mehr als Externer Link: 50 Milliarden Euro für Entwicklungszusammenarbeit aus. Externer Link: Einer im medizinischen Fachmagazin „The Lancet“ erschienen Studie zufolge konnten von USAID finanzierte Programme die Sterblichkeit insbesondere von Kindern in unterstützten Ländern deutlich reduzieren. Brechen diese Programme weg, könnten bis 2030 mehr als 14 Millionen Menschen weltweit zusätzlich sterben, so die Hochrechnung der Autorinnen und Autoren der Studie. Kann Deutschland als zweitgrößtes Geberland das kompensieren?

Wolfgang Gieler: Deutschland könnte nun sein entwicklungspolitisches Profil schärfen. Aber die finanziellen und institutionellen Kapazitäten sind natürlich begrenzt. Die Bundesrepublik allein kann die durch den Rückzug der US-Amerikaner entstandene Lücke nicht schließen. Meiner Ansicht nach braucht es jetzt dringend eine engere Abstimmung mit den europäischen Partnern. Deutschland muss zudem seine Präsenz in multilateralen Organisationen stärken. Darüber hinaus müssen die Hilfen besser eingesetzt werden – es bedarf einer Priorisierung bestimmter Themen und Regionen, um möglichst viel Wirkung zu erzielen und die vorhandenen Ressourcen nicht zu zersplittern.

bpb.de: US-Präsident Trump hat mit der Interner Link: „America First“-Politik vorrangig US-amerikanische Interessen im Auge. Haben Mittel, die in die Internationale Entwicklungszusammenarbeit fließen, nicht auch einen Nutzen für den Geberstaat?

Wolfgang Gieler: Staatliche Entwicklungszusammenarbeit hat keineswegs nur altruistische Ziele wie Armutsbekämpfung, Bildung oder Gesundheitsförderung. Es stehen verschiedene andere Interessen im Vordergrund, etwa wirtschaftliche: Es geht um Markterschließung und Handel mit den Ländern des Globalen Südens. Es wird dort investiert, um langfristig wirtschaftliche Partnerschaften aufzubauen, sich Zugang zu Ressourcen zu sichern oder neue Märkte für eigene Produkte zu schaffen. Entwicklungsprojekte können in Partnerländern günstige Rahmenbedingungen für die eigenen Unternehmen schaffen. Zudem können durch sie indirekt Arbeitsplätze im eigenen Land entstehen, zum Beispiel durch den Export von Technologien oder Dienstleistungen.

Auch sicherheitspolitische Interessen stellen für Länder eine Motivation dar. Enzwicklungszusammenarbeit kann dazu beitragen, Regionen politisch und sozial zu stabilisieren. Sie verringern Migration und Konfliktrisiken. EZ kann auch einen Beitrag leisten, Extremismus und Terrorismus zu bekämpfen. Denn durch die Förderung von Bildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Bau von Infrastruktur werden auch die Ursachen einer Radikalisierung angegangen. Außerdem wird EZ genutzt, um diplomatische Beziehungen zu Nehmerländern zu stärken und strategische Partner zu gewinnen oder zu sichern.

Entwicklungszusammenarbeit

Im Rahmen der Interner Link: Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sollen die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse weltweit nachhaltig verbessert werden. Früher wurde oft von „Interner Link: Entwicklungshilfe“ gesprochen. Dieser Begriff wird heute in Deutschland zumindest von den in dem Bereich aktiven Organisationen in der Regel nicht mehr gebraucht, weil er die Partnerländer auf ihre Rolle als Leistungsempfänger reduziert. Zur Interner Link: Entwicklungspolitik wiederum gehören alle politischen Aktivitäten und staatlichen Maßnahmen, welche die technische und soziale Entwicklung der sogenannten Interner Link: Entwicklungsländer und mitunter auch Interner Link: Schwellenländer fördern. Staaten und Organisationen, die Entwicklungszusammenarbeit finanzieren, werden häufig als Externer Link: Geber bezeichnet. Staaten, die die Hilfen empfangen, bezeichnet man als Nehmer-, Empfänger- oder Partnerstaaten.

Mit dem Begriff „Globaler Süden“ wird umschrieben, dass bestimmte Länder und Regionen eine politisch und wirtschaftlich benachteiligte Position in einer globalisierten Welt einnehmen. Das sind beispielswiese viele Regionen oder Länder mit Kolonialerfahrung. Dabei ist „Süden“ hier keine rein geografische Zuordnung, da Länder des „Globaler Süden“ auch auf der Nordhalbkugel liegen können und bspw. Australien auf der Südhalbkugel als Industriestaat nicht zu diesen Ländern gezählt wird. Anders als mit dem Begriff „Entwicklungsländer“ soll betont werden, dass Ungleichheiten kein Merkmal einzelner Länder sind, sondern sich weltweit in unterschiedlichen Konstellationen wiederfinden.

Wie viel ein Land im internationalen Vergleich für Entwicklungszusammenarbeit ausgibt, wird oft mit der sogenannten ODA-Quote gemessen. Der Externer Link: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge handelt es sich bei öffentlichen Entwicklungsleistungen (ODA, Offical Development Assistance) um staatliche Unterstützung, „die gezielt darauf ausgerichtet ist, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von Enzwicklungsländern zu fördern“. Um die ODA-Quote zu ermitteln, werden die ODA-Ausgaben im Verhältnis zum Interner Link: Bruttonationaleinkommen eines Staats gesetzt.

bpb.de: Seit Interner Link: über sechs Jahrzehnten gibt es hierzulande Entwicklungszusammenarbeit, beziehungsweise -hilfe. Wie hat sie sich in dieser Zeit verändert? Und was wurde erreicht?

Wolfgang Gieler: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Neben den klassischen Themen wie wirtschaftliche Interner Link: Armutsbekämpfung, Bildung oder Gesundheit rücken heute vor allem Klimaschutz, nachhaltige Transformation und die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Vordergrund. Wichtig ist dabei auch der Ansatz der Partnerschaft auf Augenhöhe – zum Beispiel in den Externer Link: Reformpartnerschaften mit afrikanischen Staaten, wo es um Investitionen, erneuerbare Energien und Digitalisierung geht. Im internationalen Vergleich steht Deutschland sehr stark da: Wir gehören zu den größten Gebern weltweit und setzen stark auf Multilateralismus – also enge Zusammenarbeit mit EU, UN und Weltbank.

bpb.de: In welchen Bereichen liegen die Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und welche Strategien und Motive stehen dahinter?

Wolfgang Gieler: Deutschland zeichnet sich durch eine eher breite, vernetzte Entwicklungsagenda aus, die Außen-, Klima- und Wirtschaftspolitik miteinander verbindet. Andere Länder wie die USA agieren oft geopolitischer, während die skandinavischen Staaten sehr fokussiert sind.

Die deutsche EZ hat mehrere Beweggründe. Zum einen geht es um humanitäre Verantwortung – also darum, wirtschaftliche Armut zu bekämpfen und Lebensbedingungen zu verbessern. Gleichzeitig spielen Sicherheit und Stabilität eine große Rolle, genauso wie außenpolitische und wirtschaftliche Interessen sowie der Schutz von Klima und Umwelt.

Strategisch verfolgt die deutsche EZ einen ganzheitlichen Ansatz. Das heißt: Verknüpfen der einzelnen Sektoren wie Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft oder Wirtschaftsförderung. Besonders wichtig sind Nachhaltigkeit, die Stärkung lokaler Strukturen und die Beteiligung der Menschen vor Ort. Innovationen wie etwa die Digitalisierung oder erneuerbare Energien spielen ebenfalls eine immer größere Rolle.

bpb.de: Die neue Bundesregierung hat einen entwicklungspolitischen Wandel angekündigt. Ziel sei, eine „Entwicklungspolitik im Dreiklang mit Außen- und Verteidigungspolitik als nachhaltige Sicherheitspolitik“. Welche Folgen könnte Ihrer Meinung nach dieser Strategiewechsel haben?

Wolfgang Gieler: Wir sehen hier einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Als Folge könnte sich die Prioritätensetzung der EZ verschieben. Diese wird künftig möglicherweise stärker entlang der Sicherheitsinteressen Deutschlands und seiner Verbündeten ausgerichtet – etwa in den Bereichen Konfliktprävention, Migration oder Terrorismusbekämpfung. Projekte mit primär sozialen oder wirtschaftlichen Zielen könnten dadurch zugunsten strategischer Maßnahmen in den Hintergrund treten. Zudem besteht die Gefahr, dass Deutschlands Glaubwürdigkeit als neutraler Entwicklungsakteur auf internationaler Ebene leidet. Partnerländer könnten die Zusammenarbeit eher als geopolitisches Instrument sehen und weniger als Ausdruck von Solidarität oder wirtschaftlicher Armutsbekämpfung. Außerdem besteht das Risiko, dass entwicklungspolitische Maßnahmen zunehmend an militärische oder politische Interessen gebunden werden. Dies könnte langfristig die Unabhängigkeit der deutschen EZ gefährden.

Gleichzeitig eröffnen sich aber auch Chancen: Ressourcen für Krisenregionen könnten schneller mobilisiert werden und Deutschland hätte die Möglichkeit, globale Stabilität proaktiver zu fördern. Besonders in konfliktgefährdeten Regionen kann die Verbindung von Entwicklungs- und Sicherheitsmaßnahmen langfristig stabilisierende Effekte erzeugen.

Letztlich hängt der Erfolg dieser Strategie davon ab, wie ausgewogen der Dreiklang umgesetzt wird. Eine einseitige Sicherheitslogik könnte entwicklungspolitische Ziele untergraben, während eine intelligente Verzahnung von Entwicklungs-, Außen- und Verteidigungspolitik nachhaltige Sicherheits- und Entwicklungseffekte in Krisenregionen ermöglichen kann. Dafür ist ein starkes Entwicklungsministerium unverzichtbar.

bpb.de: Angesichts der Haushaltslage spart auch die Bundesregierung bei der Entwicklungszusammenarbeit. Im nächsten Jahr soll der Externer Link: Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erstmals seit 2018 unter zehn Milliarden Euro liegen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Wolfgang Gieler: Es bräuchte mehr Mittel. Entwicklungspolitik wird als Querschnittsaufgabe perspektivisch eine immense Bedeutung einnehmen.

bpb.de: Auch Interner Link: Schwellenländer bekommen noch Gelder, wenn auch oft in Form von Darlehen. Ist es sinnvoll, Staaten wie Indien, die mit deutschen Unternehmen in Konkurrenz stehen, weiter zu fördern?

Wolfgang Gieler: Auch Schwellenländer erhalten weiterhin Entwicklungsgelder, weil Entwicklungsprozesse nicht immer linear verlaufen und weiterhin Unterstützung benötigen. Zwar haben viele dieser Länder ein höheres Einkommen als klassische Länder des Globalen Südens, aber sie stehen oft weiter vor strukturellen Herausforderungen: Ungleichheit, unzureichende Infrastruktur, Bildungslücken oder Umweltprobleme.

Die Mittel sollen gezielt eingesetzt werden, um eine nachhaltige Entwicklung zu fördern – zum Beispiel in Bereichen wie Gesundheit, Klimaschutz, Bildung oder erneuerbare Energien. Zudem ist Unterstützung ein Instrument, um globale Stabilität zu sichern: Wirtschaftliche Schwächen in Schwellenländern können regionale Krisen oder Migration verstärken, die auch internationale Auswirkungen haben.

bpb.de: China benutzt Entwicklungspolitik dazu, neue Märkte für die eigene Wirtschaft zu erschließen oder an benötigte Rohstoffe zu gelangen. Als Darlehensgeber und Investor wird der Staat im Globalen Süden immer präsenter. Warum?

Wolfgang Gieler: China konnte sich etablieren, weil es seine Vergabe nicht an Bedingungen knüpft. Die Antragsstellung ist seitens Peking nicht mit der Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Standards verbunden. Viele Staaten des Globalen Südens haben sich durch die Konditionierung seitens westlicher Staaten bevormundet gefühlt. Sie empfanden dessen Wegfall als Befreiung. Autoritäre Tendenzen wurden in den Ländern durch das chinesische Engagement jedoch oft gestärkt. Zudem floss im Ergebnis eindimensional Kapital nach China und eben nicht in die Nehmerländer. Auch brachte die Volksrepublik für zahlreiche Projekte ihr eigenes Personal mit, sodass vor Ort kaum Arbeitsplätze entstanden.

bpb.de: Welche Kritik gibt es an der aktuellen Entwicklungszusammenarbeit westlicher Staaten und wie sollte Ihrer Meinung nach die „ideale“ Entwicklungspolitik aussehen?

Wolfgang Gieler: Die Entwicklungszusammenarbeit folgt oft einem Geber-Paradigma: Programme werden von außen diktiert, ohne die tatsächlichen Bedürfnisse vor Ort ausreichend zu berücksichtigen. Dies führt häufig zu ineffektiven Projekten und schafft Abhängigkeiten, da Länder und Gemeinden lernen, auf Unterstützung statt auf eigene Lösungen zu setzen. Hinzu kommt: Zahlreiche Organisationen arbeiten nebeneinander, wodurch eher die Geberländer profitieren als die eigentlichen Zielgruppen. Jede Organisation hat dabei ihre eigene Struktur mit Verwaltung und Personal, anstatt Ressourcen zu bündeln – ein erheblicher Teil der Mittel fließt so wieder in die Geberländer zurück, anstatt vor Ort wirksam zu werden.

Ein zentrales Problem liegt zudem in der fehlenden direkten Kommunikation: Wer die lokalen Sprachen und kulturellen Kontexte vor Ort nicht versteht, kann die eigentlichen Bedürfnisse kaum erkennen. Dass die Konzepte der EZ weiterhin aus westlicher Sicht entwickelt werden, widerspricht dem eigentlichen Ziel, die eigenständige Entwicklung der Länder des Globalen Südens zu fördern. Die Partnerländer sollten daher ein stärkeres Mitspracherecht haben – insbesondere bei der Festlegung von Zielen, der Projektleitung und der Umsetzung von Projekten.

Die Begriffe „Entwicklung“ und „Kultur“ werden oft westlich gefärbt verwendet. Sie setzen westliche Interner Link: Modernisierungswege als allgemeingültig voraus und ignorieren alternative Entwicklungswege. Durch die westliche Fokussierung wird der Beitrag von lokalem Wissen häufig ausgeblendet. Ziel sollte ein gleichwertiger Dialog zwischen Kulturen sein, bei dem beide Seiten neue Perspektiven gewinnen und bestehende Praktiken kritisch hinterfragt werden.

bpb.de: Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen, bei dem zu wenig auf die Interessen und Expertise vor Ort eingegangen wurde?

Wolfgang Gieler: Traditionelles Wissen wurde lange Zeit bei der Planung von Projekten ignoriert, da man auf Modernisierung setzte. Jahrzehntelang wurde etwa in Ländern wie Guinea, Ruanda und Kenia bäuerlichen Familien empfohlen, Pflüge auf ihren Feldern einzusetzen. Diese Felder dienten der Selbstversorgung mit Lebensmitteln. Die Technik passte jedoch nicht zu den bewährten, subsistenzwirtschaftlichen Methoden und Erfahrungen der Bauern im Umgang mit Boden und Klima. Heute weiß man, dass pfluglose Bodenbearbeitung oft besser ist: Sie schützt vor Erosion, erhält die Bodenqualität, fördert die Humusbildung und trägt zum Klimaschutz bei. Dieses lokale Wissen fließt heute in ökologische Projekte ein, etwa bei Wiederaufforstung und nachhaltiger Landwirtschaft.

Ein weiteres Beispiel: Für die Wasserversorgung wurden etwa in Afghanistan, Burkina Faso und Senegal Brunnen in ländlichen Gegenden mit Dieselpumpen ausgestattet. Weitgehend unbeachtet blieb dabei die Frage, inwieweit der lokalen Bevölkerung überhaupt genügend Geld zur Verfügung stünde, um längerfristig den erforderlichen Dieselkraftstoff zu kaufen. Deshalb werden diese Pumpen kaum genutzt.

Entwicklung ist kontextabhängig und lässt sich nicht allein durch standardisierte Indikatoren erfassen. In meinem Band Interner Link: „Reguliertes Chaos. (Re-)Konstruktionen zum westlichen Ethnozentrismus“ habe ich dies als einen „geistigen Inzest“ bezeichnet: Die Kriterien zur Messung werden vom Globalen Norden festgelegt, der selbst definiert, was Entwicklung bedeutet, und damit das Ergebnis bereits vorwegnimmt.

Ein Sprichwort der Dogon, einer Volksgruppe, die vor allem in Mali lebt, rundet diesen Gedanken ab: „Der Fremde hat große Augen, aber er sieht nicht viel.“

Fussnoten

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„Hintergrund Aktuell“ ist ein Angebot der Onlineredaktion der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Es wird von den Redakteur/-innen und Volontär/-innen der Onlineredaktion der bpb redaktionell verantwortet und seit 2017 zusammen mit dem Südpol-Redaktionsbüro Köster & Vierecke erstellt.

Interner Link: Mehr Informationen zur Redaktion von "Hintergrund aktuell"

Prof. Dr. Wolfgang Gieler, geboren 1960, ist Politikwissenschaftler und Ethnologe mit langjähriger Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit. Er ist Professor am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. Gastprofessuren führten ihn unter anderem nach Aserbaidschan, Bahrain, Belarus, Burkina Faso, China, Ghana, Kenia, Nigeria, Österreich, Südkorea, die Schweiz und die USA. Er ist Autor des Bandes Interner Link: „Reguliertes Chaos. (Re-)Konstruktionen zum westlichen Ethnozentrismus. Ein Essay" in der bpb-Schriftenreihe.