Hinweis: Der Text ist im Original auf Englisch verfasst und wurde von Kathrin Hadeler ins Deutsche übersetzt. Die englische Fassung finden Sie Interner Link: hier als PDF zum Download.
Einleitung
Als ich die Internationalen Filmfestspiele in Berlin im Februar 2007 zum ersten Mal besuchte, arbeitete ich für einen Verband aus dem Libanon zur Förderung des unabhängigen arabischen Kinos. Mit unseren Vorführungen auf dem Europäischen Filmmarkt wollten wir das Interesse von Verleihfirmen und Festivalmacher/-innen für das neue arabische Kino und für unsere Filme wecken. Ein Blick in das damalige Festivalprogramm machte mich sprachlos: Keine einzige arabische Produktion hatte es in eine der Festivalsektionen geschafft , und auf der Berlinale wurden lediglich die von uns auf dem Filmmarkt beworbenen Filme gezeigt.
Neun Jahre später sah die Filmlandschaft völlig anders aus. Der tunesische Spielfilm Hedi lief im Wettbewerb. Regisseur Mohamed Ben Attia wurde mit dem Preis für den Besten Erstlingsfilm ausgezeichnet, Hauptdarsteller Majd Mastoura wurde der Silberne Bär für den Besten Darsteller von Jury-Präsidentin Meryl Streep überreicht. Im Wettbewerb um den besten Kurzfilm gewann der palästinensische Filmemacher Mahdi Fleifel den Silbernen Bären für seinen Kurzfilm A Man Returned. In der Sektion Forum wurde der ägyptische Spielfilm In the Last Days of the City von Tamer El Said mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet. Der Friedensfilmpreis ging an den Dokumentarfilm A Maid for Each von Maher Abi Samra.
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Es ist kein Zufall, dass 2016 ein denkwürdiges Jahr für den arabischen Film auf der Berlinale war. In den letzten Jahren schafften es immer wieder arabische Filme auf die großen Festivals. Das internationale Interesse am arabischen Kino ist deutlich gestiegen. Doch worin liegt diese plötzliche Aufmerksamkeit begründet? Und hat die Sichtbarkeit arabischer Filme allein durch ihre Präsentation auf internationalen Festivals zugenommen? Traten in den vergangenen zehn Jahren bestimmte Themen besonders in den Vordergrund? Lassen sich neue Trends beobachten?
Bevor ich nach einer Antwort auf diese Fragen suche, möchte ich kurz erläutern, was das arabische Kino ist. Woher kommt dieser Begriff und wofür steht er? Was macht einen Film zu einem arabischen Film? Nach Angaben des Arab Film & Media Institute bezieht sich dieser Begriff "allgemein auf Filme von arabischen Filmschaffenden, die in der arabischen Welt produziert werden und/oder arabische Geschichten erzählen".
Damit kommen wir zur arabischen Welt als einem geografischen Gebiet, in dem die Menschen über ihre Muttersprache Arabisch miteinander verbunden sind. Dabei muss ein klarer Unterschied zwischen der "arabischen Welt" und dem "Nahen Osten" gemacht werden.
Die arabische Welt ist ein Gebiet, das ganz unterschiedliche Gemeinschaften mit eigenen Geschichten und verschiedenen ethnischen Minderheiten beheimatet. Und obwohl in den meisten Ländern dieser Region der Islam Staatsreligion ist, leben zahlreiche weitere Glaubensgemeinschaften in der arabischen Welt, darunter Menschen christlichen, jesidischen, drusischen sowie in geringerer Zahl auch jüdischen Glaubens, um nur einige zu nennen. Es ist daher wichtig, die arabische Welt nicht als eine geschlossene Einheit mit einer gemeinsamen Geschichte und einer Religion zu betrachten.
In diesem Artikel soll es ausschließlich um Filme arabischer Filmschaffender gehen. Einige von ihnen leben möglicherweise nicht mehr in der Region, setzen sich jedoch in ihren Filmen noch immer vor allem mit der arabischen Welt auseinander. Aus diesem Grund soll die arabische Welt in diesem Beitrag nicht als geografische Einheit betrachtet werden. Vielmehr werden Themen und Sachverhalte behandelt, die das vergangene Jahrzehnt in dieser speziellen Region stark geprägt haben. In diesem Artikel werden ausschließlich die englischen Filmtitel genannt.
Neue Möglichkeiten der Filmförderung in der arabischen Welt
Der Anstieg der Filmproduktion in der arabischen Welt im vergangenen Jahrzehnt ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass insbesondere in der Golfregion neue Fördermöglichkeiten für den arabischen Film geschaffen wurden. Alle vier weiter oben genannten Berlinale-Preisträger aus dem Jahre 2016 wurden mit Mitteln aus dem Sanad-Fonds produziert. Sanad bedeutet "Unterstützung" auf Arabisch. Der Fonds wurde 2010 in Abu Dhabi ins Leben gerufen und vergibt Fördermittel für die Entwicklung und Postproduktion von Filmen. Seine Einrichtung erfolgte im Zusammenhang mit dem Abu Dhabi Film Festival, das erstmals 2007 stattfand.
Diese Plattform in der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate wurde vor allem als direkte Reaktion auf entsprechende Einrichtungen im konkurrierenden Dubai geschaffen, das mit dem Dubai International Film Festival 2004 eigene Filmfestspiele, mit der Dubai Film Connection (DFC) 2007 einen eigenen Koproduktionsmarkt und mit Enjaaz 2009 ein eigenes Finanzierungsprogramm für die Postproduktions- und Produktionsförderung eingeführt hatte.
Dubai hatte keinen guten Start, weil das Festival unter arabischen Filmschaffenden als völlig losgelöst von der eigenen und der Realität in den umgebenden arabischen Ländern betrachtet wurde. Mit der Zeit gelang es der Leitung jedoch, mit der Kritik umzugehen. Die Einrichtung der DFC war ein Schritt in die richtige Richtung. Sie sollte die Kontakte zwischen arabischen Filmschaffenden und internationalen Akteur/-innen stärken und Koproduktionen mit der arabischen Welt fördern. Bemerkenswerte Erfolge der DFC sind der palästinensische Dokumentarfilm Ghost Hunting (2017) von Raed Andoni (Gewinner des Glashütte Original -— Dokumentarfilmpreises bei den Berliner Filmfestspielen 2017), und Wadjda (2012, deutscher Titel: Das Mädchen Wadjda), das Spielfilmdebüt der saudi-arabischen Regisseurin Haifaa Al-Mansour.
Alle Hauptpreise der DFC und alle Enjaaz-Fördermittel werden durch das Festival selbst oder seine direkten Sponsoren vergeben, die dem Staat Dubai unterstehen. Dasselbe trifft auf den Sanad in Abu Dhabi zu, der ebenso wie das Dubai International Film Festival unter staatlicher Leitung steht. Die Nebenpreise des DFC wurden dagegen von arabischen und internationalen Sponsor/-innen und Partner/-innen vergeben.
Neben den Festivals in Dubai und Abu Dhabi wurde mit dem Doha Tribeca Film Festival in Katar eine dritte Instanz geschaffen. Wie die beiden anderen geht auch dieses Festival auf eine staatliche Initiative zurück. Es wurde im Jahre 2009 durch das Doha Film Institute in Zusammenarbeit mit Tribeca Enterprises in New York (die das Tribeca Film Festival veranstalten) und mit Unterstützung von Robert De Niro ins Leben gerufen und hatte eine Schlüsselrolle bei der Förderung von Filmschaffenden aus der arabischen Welt, insbesondere aus Katar übernommen.
Diese Festivals definierten mit der Zeit ihre eigenen Regeln in der Golfregion und konkurrierten mit kleineren Kulturplattformen, -einrichtungen und -festivals in der arabischen Welt. Sie investierten hohe Summen in die Aufführungsrechte für Filme und wetteiferten um das Prestige, die Premieren arabischer Filme zeigen und die Filmschaffenden zu ihren Festivals locken zu können.
Leider war allen drei Festivals nur eine kurze Lebensdauer beschert. Das Doha Tribeca Film Festival fand lediglich in den Jahren 2009 bis 2012 statt, das Abu Dhabi Film Festival wurde 2015 offiziell nach acht Jahren beendet und das bekannteste der drei Festivals in Dubai wurde als Letztes zum Unverständnis der Branche im Jahre 2018 eingestellt. Es gab nur wenige offizielle Verlautbarungen, warum diese Initiativen nicht fortgesetzt wurden. In keiner der Stellungnahmen werden eindeutige Gründe genannt. Das Dubai International Film Festival vermeldete im April 2019 in seinem Twitter-Account: "Die Branche unterliegt einem schnellen Wandel. So ist es auch bei uns. Die Organisatoren des DIFF werden das Festival nach einem neuen Konzept im Zweijahresrhythmus veranstalten und haben die 15. Ausgabe des Festivals für 2019 bestätigt" . Doch dieser Jahrgang hat nie stattgefunden. Und die politischen wie wirtschaftlichen Gründe für diese Einstellungen der Festivals bieten reichlich Anlass zu Spekulationen.
Einziges Überbleibsel ist ein vom Doha Film Institute eingerichtetes Förderinstrument, die Doha Film Institute Film Grants. Sie wurden im Rahmen des Festivals ins Leben gerufen und kommen noch heute zum Einsatz, um die Entwicklung und Postproduktion von Erst- und Zweitfilmprojekten von Kurz- und Spielfilmregisseur/-innen aus der Region Mittlerer Osten und Nordafrika (MENA) zu fördern. Die staatlich finanzierte Initiative entwickelte sich neben dem Arab Fund for Arts and Culture (AFAC) zu einer wichtigen Fördermöglichkeit für junge Filmschaffende.
Der im Jahre 2007 gegründete AFAC ist ein unabhängiger Verband im Libanon, der sich aus Mitteln arabischer und nicht-arabischer Institutionen oder privater Geldgeber finanziert und auf staatliche Unterstützung verzichtet , um sich eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren. Er unterstützt Filmschaffende über zwei Programme: die Kinoförderung des AFAC für kurze, mittellange und abendfüllende Spielfilme und das 2013 eingeleitete Dokumentarfilm-Programm, das Dokumentarfilmschaffen in all seinen Formen fördert.
Neben diesen beiden Fonds haben zahlreiche Filmfestivals in der Region ihr Angebot in den vergangenen zehn Jahren um Branchenplattformen erweitert, damit Filmschaffende und ihre Projekte begleitet werden können. Beispiele sind die Cairo Film Connection des Cairo International Film Festival und das CineGouna Springboard des El Gouna Film Festival in Ägypten, die Beirut Cinema Platform der Beirut Cinema Days im Libanon, Chabaka and Takmil der Journées Cinématographiques de Carthage in Tunesien, die Ateliers de l'Atlas des Marrakech International Film Festival in Marokko und Qumra des Doha Film Institute in Katar. Im Jahre 2019 brachte der Kulturverein Beirut DC mit dem Yeloguide einen Überblick über Fördermöglichkeiten für arabische Produzent/-innen heraus, die an arabischen Filmprojekten beteiligt und auf der Suche nach internationalen Koproduzent/-innen sind. Der Leitfaden wurde von der deutschen Produzentin, Verleiherin und Kuratorin von Filmen aus dem Nahen Osten, Irit Neidhardt, erstellt.
Die Plattformen erwiesen sich als ausgesprochen wertvolle Unterstützung für Filmschaffende, um ihre Projekte durch Mentoring, Beratung und Finanzhilfen voranzubringen. Doch diese Strategie hat auch ihren Preis. Es ist nicht auszuschließen, dass immer wieder dieselben Projekte auf diesen Plattformen auftauchen. Noch entscheidender ist der Aspekt, dass Filmschaffende länger mit der Produktion eines Films beschäftigt sind, wenn sie von einem Festival zum nächsten reisen müssen, um die Finanzierung zu sichern, und darüber den aktuellen Bezug zu ihrem Projekt verlieren können.
Filmschaffen nach dem Arabischen Frühling
Am 18. Dezember 2010 gingen in Tunesien die ersten Menschen aus Protest auf die Straße. Kurz darauf kam es zur Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi in einem Vorort von Tunis. Neben vielen weiteren arabischen Staaten erreichte die Protestwelle bald darauf auch Ägypten und Syrien, wo die Unruhen ab dem 25. bzw. 26. Januar 2011 um sich griffen.
Innerhalb kürzester Zeit und während des gesamten Jahres 2011 breiteten sich die sozialen Unruhen dieser inzwischen als Arabischer Frühling bekannten Protestbewegung in der gesamten arabischen Welt, von Jemen und Algerien über den Irak bis in den Sudan, aus. Die zunehmend gewalttätigen Demonstrationen waren von unterschiedlicher Dauer und hatten unterschiedliche Folgen. In Tunesien führten die Proteste am 14. Januar 2011 zur Absetzung des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, in Ägypten musste 18 Tage darauf Präsident Hosni Mubarak das Amt niederlegen. Doch ungeachtet der Konsequenzen waren die Ereignisse bis zu einem gewissen Grad auf ähnliche Ursachen zurückzuführen. Junge Menschen strömten in Massen auf die Straßen und forderten ein Ende der Tyrannei und Korruption durch politische Reformen sowie mehr Chancen für junge Menschen durch gesellschaftlichen Wandel.
Viele Filmschaffende aus der Region stellten sich auf die Seite der Demonstrierenden, dokumentierten die Proteste und nahmen sie in ihre Geschichten auf. Der tunesische Regisseur Hamza Ouni begann bereits vor den Ereignissen von 2011 mit den Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm El Gort (2013). Darin portraitiert er das Leben zweier Teenager in Tunesien, die Tag und Nacht für ihren Lebensunterhalt schuften müssen. Wie vielen anderen Menschen in Tunesien bleibt ihnen nur die Wahl zwischen Ausbeutung oder erneuter Arbeitslosigkeit. Obwohl der Film Tunesien vor und nach dem Aufstand gegen Ben Ali zeigt, haben die gesellschaftlichen Veränderungen und die ersten freien Wahlen kaum Auswirkungen auf die Lebensrealitäten der beiden Protagonisten. Die tunesische Filmemacherin Hinde Boujemaa folgt in ihrem Dokumentarfilm It Was Better Tomorrow (2012) der von Armut gezeichneten Tunesierin Aida auf ihrer Suche nach Obdach in einer von Protesten erschütterten Stadt.
Doch viele Filmschaffende setzten sich auch mit den Folgen der Proteste auseinander, die von einer anfänglichen Euphorie über erste Enttäuschungen bis hin zu ausbleibenden Veränderungen reichten. In The Square (2013) dokumentiert Regisseurin Jehane Noujaim die Ereignisse am Tahrir-Platz in Kairo aus der Perspektive ihrer drei Protagonisten. Sie berichten von ihren Erlebnissen im Anschluss an die 18 angespannten, aber auch ausgelassenen Tage, die zum Sturz von Präsident Mubarak und kurz darauf auch zur ersten Ernüchterung anlässlich der ersten Wahlen führten. Auch Viola Shafik folgt in ihrem Dokumentarfilm Arij - Scent of Revolution (2014) vier Protagonisten, allerdings an ganz anderen Orten in Ägypten. Anhand ihrer Lebenswege will die Filmemacherin deutlich machen, wie die Misserfolge der jüngsten Gegenwart mit denen der Vergangenheit verknüpft sind.
Im Unterschied zu Tunesien und Ägypten nahmen die Proteste in Syrien im darauffolgenden Sommer eine völlig andere Wendung. Das harte Vorgehen gegen die Protestierenden mündete in eine endlose Spirale der Gewalt, die das gesamte Land erfasste. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte verloren dabei mehr als 586.000 Menschen ihr Leben , fast 5.647.000 Menschen wurden laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR vertrieben.
Diese ersten Filme bilden die Brutalität der Regime in aller Deutlichkeit ab und werfen einen erbarmungslosen, aber auch unerschrockenen Blick auf den Konflikt. In The Return to Homs (2013) folgt Talal Derki dem bekannten jungen Torwart Abdul Baset Al-Sarout, der den Fußball gegen Waffen tauscht, um den Kampf gegen das Regime anzuführen, während sich seine Heimatstadt Homs in eine Geisterstadt verwandelt. Die Dokumentation Silvered Water, Syria Self-Portrait (2014) verfolgt einen völlig anderen Ansatz. Die kurdische Lehrerin Wiam Simav Bedirxan hat die Zerstörung der Stadt ebenfalls mit der Kamera dokumentiert und anschließend den im Pariser Exil lebenden Regisseur Ossama Mohammed kontaktiert. Neben ihrem Filmmaterial setzt sich dieser erschütternde Bericht über die grausamen Ereignisse in Syrien nach Angaben der beiden Filmschaffenden ausschließlich aus Handyaufnahmen und YouTube-Videos von 1001 syrischen Männern und Frauen zusammen.
Filmfestivals in aller Wert reagierten mit ihrer Filmauswahl umgehend auf die politischen Ereignisse, die die Region und vor allem Syrien erschütterten. The Return to Homs lief im Januar 2014 in Sundance, nachdem er im November 2013 seine Premiere auf dem International Documentary Festival Amsterdam (IDFA) gefeiert hatte. Silvered Water, Syria Self-Portrait wurde im Mai 2014 auf dem Filmfestival in Cannes uraufgeführt (und war der einzige arabische Film im gesamten Festivalprogramm des Jahres), Haunted (von Liwaa Yazji) auf dem FID Marseille im Juli 2014, The Immortal Sergeant (von Ziad Kalthoum) auf dem Filmfestival von Locarno und der animierte Kurzfilm Suleima von Jalal Maghout bei DOK Leipzig im Oktober 2014. Alle bedeutenden Festivals waren offenbar auf der Suche nach dem nächsten großen Film aus Syrien.
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Diese ersten Filme ebneten den Weg für Werke mit längeren Produktionszeiten, die eine andere Form der Finanzierung benötigten. Investor/-innen konnten auf den epischen Charakter einiger Geschichten setzen. Beispielsweise produzierte der britische Channel 4 den Dokumentarfilm For Sama (2019) unter der Regie von Saad al-Kateab und Edward Watts. Darin berichtet Al-Kateab ihrer neugeborenen Tochter Sama von ihren schrecklichen Erlebnissen während der Unruhen in Aleppo. Zwischenzeitlich versuchte sich National Geographic mit Feras Fayyads zweitem Spielfilm The Cave (2019), nachdem der erste Film des Regisseurs Last Men in Aleppo (2017) eine Oscarnominierung erhalten hatte. The Cave ist ein Dokumentarfilm über eine unterirdische Klinik im bereits seit mehr als fünf Jahren belagerten Ghouta. Dort kämpft Dr. Amani Ballour sowohl um das Überleben ihrer Patient/-innen als auch um ihr eigenes Überleben als Ärztin in einer fast ausschließlich von Männern dominierten Gesellschaft. For Sama und The Cave wurden beide für die 92. Oscarverleihung in der Kategorie Bester Dokumentarfilm nominiert.
Viele der genannten syrischen Filmschaffenden haben das Land verlassen und erzählen ihre Geschichten inzwischen aus dem europäischen Exil. Talal Derki ließ sich beispielsweise schon in Berlin nieder, lange bevor die Stadt zu einem Zentrum für syrische Filmschaffende wurde: "Ab 2014 kamen viele syrische Regisseurinnen und Regisseure nach Deutschland, vor allem nach Berlin, das über eine lange Tradition als Zufluchtsort für Kunstschaffende und politisch Verfolgte verfügt."
Die Geschichten, die sie aus dem Exil oder von ihrer Reise in das Exil erzählen, können genauso erschüttern wie die im Bombenhagel verfassten Berichte. Im deutsch-syrischen Dokumentarfilm Purple Sea (2020) entkommt die syrische Regisseurin Amel Alzakout nur knapp dem Ertrinken, als ihr Flüchtlingsboot nahe der Küste von Lesbos kentert. Sie verliert ihr letztes Hab und Gut, doch mit einer am Handgelenk befestigten wasserfesten Kamera dokumentiert sie das lange qualvolle und traumatische Warten auf ihre Rettung aus dem Meer. Der Film hält diese mühevolle Reise bis zu ihrer Ankunft in Berlin und ihrem Wiedersehen mit Ko-Regisseur Khaled Abdulwahed in Bildern fest. "Ich brauchte ein Jahr, um mir die Aufnahmen ansehen zu können. Ehrlich gesagt war es eine Qual, mich damit zu befassen. Doch ich wollte von meinen Erlebnissen berichten. Ich wollte keinen Film über Flüchtlinge machen, die wir überall in den Medien aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen bekommen, weil es mir wichtig ist, uns als Individuen mit eigenen Lebensentwürfen darzustellen. Diesen Blick können die Medien nicht vermitteln, die uns als Gruppe wahrnehmen" , so Alzakout.
Neue Gebiete auf der filmischen Landkarte
Im Zuge des Arabischen Frühlings tauchten auch Geschichten aus Ländern auf der filmischen Landkarte auf, die dort bisher nicht unbedingt zu sehen waren. Ähnlich wie in Syrien hatten sich auch in Libyen die Bürgerproteste innerhalb kurzer Zeit in gewaltsame Zusammenstöße verwandelt, bei denen die Sicherheitskräfte Muammar al-Gaddafis und Anti-Gaddafi-Rebellen aufeinandertrafen. Mit der Festnahme und Ermordung des Machthabers im Oktober 2011 breitete sich der Bürgerkrieg nur noch schneller über das Land aus und machte die ursprünglichen Hoffnungen der Protestierenden zunichte. Filmemacherin Naziha Arebi heftete sich an die Fersen dreier libyscher Frauen mit dem gemeinsamen Ziel, Fußball zu spielen und sich in einer von Männern dominierten Gesellschaft zu behaupten. In ihrem Dokumentarfilm Freedom Fields (2018) betrachtet sie Libyen aus der persönlichen Perspektive dieser drei Frauen. Der Film ist in erster Linie eine Koproduktion zwischen Schottland (SDI Productions) und Libyen (HuNa Productions). Doch auch in der arabischen Welt und auf internationaler Ebene stieß Arebis Film auf Aufmerksamkeit. Er wurde durch den IDFA Bertha Fund (Niederlande), das Sundance Film Institute (USA), den Hot Docs Blue Ice Group Documentary Fund (Kanada) sowie in der arabischen Welt durch den AFAC und das Doha Film Institute gefördert. Dies zeigt, dass es ein Interesse an Geschichten aus bisher unbekannten Ländern wie Libyen gibt.
Auch der Jemen wurde zum Schauplatz gewaltsamer Proteste, nachdem sich die Protestierenden zunächst an den Demonstrationen in Tunesien und Ägypten ein Beispiel genommen hatten. Die jemenitisch-schottische Regisseurin Sara Ishaq war gerade mit Filmarbeiten für ihren Dokumentarfilm The Mulburry House beschäftigt, als bei den tragischen Ereignissen in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa am 18. März 2011 etwa 50 friedliche Demonstrierende von Heckenschützen und Sicherheitskräften ermordet wurden. In ihrem kurzen Dokumentarfilm Karama Has No Walls (2012) will Ishaq mit Hilfe der Berichte zweier Väter erläutern, wie es zu diesen Angriffen kommen konnte. Kurz darauf stellte sie ihre persönliche Dokumentation The Mulberry House (2013) fertig, in der sie die Revolution auf den Straßen aus ihrem eigenen Haus beobachtet. Ihre Familie kocht für die Protestierenden vor dem Haus, während die Regisseurin der ganzen Welt von den neuesten Ereignissen berichtet.
Karama Has No Walls wurde 2014 für einen Oscar nominiert (als erster jemenitischer Film in der Geschichte des Filmpreises für den Besten Dokumentar-Kurzfilm), wie auch Jehane Noujaims The Square (Bester Dokumentarfilm) und Hany Abu Assads Spielfilm Omar (Bester internationaler Film, Palästina). Dies ist nach Meinung Ishaqs ein Zeichen für einen echten Wandel:"„Die Tatsache, dass in diesem Jahr drei arabische Filme für einen Oscar nominiert wurden, ist an sich schon eine Sensation. Und es sagt viel über die veränderte Wahrnehmung der arabischen Welt sowie darüber aus, dass in der Region erstklassige Filme produziert werden, die internationale Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdienen. Die ausgesprochen negativen Ereignisse haben hier also auch etwas sehr Positives hervorgebracht."
Im Sudan brach im Januar 2011 eine große Protestwelle aus, die etwa zwei Jahre andauerte. Doch erst in den Jahren 2018/2019 gingen die Straßenunruhen der sudanesischen Revolution in ihre zweite Runde und führten am 11. April 2019 zum Sturz des sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir durch einen Putsch des Militärs. Unter dem Übergangsmilitärrat kam es am 3. Juni 2019 zu einem Massaker, bei dem die Rapid Support Forces nach Angaben lokaler Ärzte mehr als 100 friedliche Protestierende töteten, ihre Leichen in den Nil warfen und bis zu 70 Frauen vergewaltigten. Neben der politischen vollzog sich allerdings noch eine weitere Revolution: Nach Jahrzehnten der Dunkelheit, die auf das Verbot von Kinos und Filmarbeiten nach dem Militärputsch von 1989 folgten, tauchten plötzlich Filme aus dem Sudan in der internationalen Festivallandschaft auf. Hajooj Kuka gewann mit seinem Dokumentarfilm Beats of the Antonov (2014) beim Filmfestival in Toronto den Publikumspreis. Sein Film ist eine Hommage an die Kraft der Musik, mit der er die traumatisierten Bevölkerungsgruppen aus den Nuba-Bergen und vom Blauen Nil nach endlosen brutalen bewaffneten Konflikten und Vertreibungen zusammenbringt. Kurz darauf drehte er seinen ersten Spielfilm, die Komödie aKasha (2018), die sich ebenfalls mit den Konflikten in dieser Region auseinandersetzt.
Doch vor allem im Jahre 2019 erfreute sich die noch junge Filmindustrie aus dem Sudan einer zuvor ungekannten Aufmerksamkeit. Talking about Trees (2019) feierte seine Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin und gewann den Glashütte Original — Dokumentarfilmpreis sowie den Panorama Publikumspreis. Regisseur Souhaib erzählt darin die Geschichte von vier Filmveteranen und ihrem nahezu aussichtslosen Unterfragen, während der Diktatur von al-Bashir ein altes Kino wiederzueröffnen. Im Forum der Berlinale stellte Marwa Zein ihren Film Khartoum Offside (2019) vor. Darin taucht sie in die Welt einer Gruppe junger Frauen ein, die entgegen allen finanziellen, religiösen und gesellschaftlichen Hindernissen ein sudanesisches Team für die Frauenfußball-Weltmeisterschaft aufbauen wollen. Einige Monate darauf wurde Amjad Abu Alala auf den Filmfestspielen in Venedig für You Will Die at Twenty (2019) mit einem Löwen für den besten Debütfilm ausgezeichnet. Ihr Film gehört zu den wenigen direkt im Land produzierten Spielfilmen und erzählt ein modernes Märchen über das Leben im heutigen Sudan.
Moderne und Tradition sind auch das Thema von Dhalinyaro (2019), einem Film über die Emanzipation der Jugend im heutigen Dschibuti: Drei Mädchen im Teenageralter müssen sich entscheiden, ob sie zu Hause bleiben oder im Ausland studieren wollen. Es ist der erste Spielfilm, den die dschibutisch-kanadische Filmemacherin Lula Ali Ismaïl in Dschibutiproduzierte, einem Land, das quasi über keinerlei Filminfrastruktur verfügt. "Im Grunde genommen gibt es keine Filmbranche in Dschibuti", erklärt die Regisseurin. "Es gibt Theater und Dichtkunst, aber nicht wirklich eine lokale Filmindustrie. Erstaunlicherweise habe ich in Dschibuti sowohl für meinen Kurzfilm als auch für meinen Spielfilm öffentliche und private Fördermittel erhalten. Die Menschen in Dschibuti sind also gern bereit, diese Branche zu unterstützen, auch wenn sie dort noch in den Kinderschuhen steckt."
Auch in Saudi-Arabien hatte es bisher keine Filmindustrie gegeben. Im Jahre 2018 genehmigte das konservative Königreich nach einem mehr als dreißig Jahre währenden Verbot die Öffnung des ersten kommerziellen Kinos. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es einige zaghafte Versuche der Filmproduktion. Doch vor Wadjda (2012, deutscher Titel: Das Mädchen Wadjda), dem Debüt der Regisseurin Haifa Al Mansour, wurde kein einziger Spielfilm vollständig in Saudi-Arabien gedreht. Außerdem ist es der erste Spielfilm des Landes unter weiblicher Regie. Er erzählt die Geschichte eines 10 jährigen Mädchens, das sich durch nichts davon abhalten lässt, das nötige Geld für ein eigenes Fahrrad aufzubringen, obwohl Mädchen in seiner Heimat das Fahrradfahren nicht erlaubt ist. In seiner Komödie Barakah Meets Barakah (2016), einer Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen aus unterschiedlichen Klassen, widmet sich Regisseur Mahmoud Sabbagh ebenfalls gesellschaftlichen Fragen. Die mittlerweile etablierte Filmemacherin Haifa Al Mansour drehte ihren dritten Spielfilm und ihre zweite Regiearbeit mit der Berliner Produktionsfirma Razor Film in Saudi-Arabien: The Perfect Candidate (2019, deutscher Titel: Die perfekte Kandidatin) feierte Premiere im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig. Doch im Jahre 2019 gab es noch zwei weitere ganz andere filmische Stimmen aus Saudi-Arabien, die für eine neue Generation unabhängiger Filmschaffender aus diesem Land stehen: In Last Visit (2019) von Abdulmohsen Aldhabaan unternehmen Vater und Sohn einen gemeinsamen Ausflug aufs Land. Scales (2019) von Shahad Ameen ist eine von arabischen Mythen und Folklore beeinflusste Fabel, gedreht in Schwarz-Weiß. In dem Film rebelliert Hayat, ein Mädchen im Teenageralter, gegen die patriarchalischen Normen, die in ihrem Fischerdorf herrschen. Aus zwei recht unterschiedlichen Perspektiven befassen sich beide Spielfilme mit dem Thema des Patriarchats und seinen Auswirkungen auf die konservative Gesellschaft. Im Unterschied zu The Perfect Candidate wurden beide Filme ohne europäische Fördermittel produziert. Last Visit ist eine rein saudi-arabische Produktion, Scales eine Koproduktion zwischen Saudi-Arabien, dem Irak und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
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Geschichten von Frauen
Neben den bereits erwähnten Filmschaffenden gibt es in der Region auch eine starke neue Generation von Filmemacherinnen, die sich mit den Schwierigkeiten von Frauen in der arabischen Welt von heute auseinandersetzen: Individuelle Stimmen, die ihre eigenen Geschichten aus einzigartigen Blickwinkeln erzählen.
Relevante Themen sind dabei Mutterschaft oder Kinderlosigkeit. In Ägypten stehen Frauen unter einem enormen gesellschaftlichen Druck, ihrer Rolle als Mutter gerecht zu werden. Wenn eine Frau keine Kinder bekommen kann, zieht sie den Zorn ihres Umfelds auf sich. Eine dieser Frauen ist Hanan, die in ihrem Dorf wegen ihrer Unfruchtbarkeit auch "Um Ghayeb", Mutter des ungeborenen Kindes, genannt wird. In ihrem Dokumentarfilm Mother of the Unborn (2014) zeigt Regisseurin Nadine Salib den Kampf von Hanan, die ihren in immer weitere Ferne rückenden Traum von einem Kind nicht aufgeben will und sich gleichzeitig auf die Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft begibt. In Marokko gelten uneheliche Kinder als unrechtmäßig. Sie müssen erst von ihren Vätern anerkannt werden, um einen rechtmäßigen Status zu erhalten. Die Filmemacherinnen Maryam Ben’Mbarek and Maryam Touzani haben ihre Spielfilme Sofia (2018) und Adam (2019) dieser grausamen Realität gewidmet, die alljährlich unzählige Frauen ins gesellschaftliche Abseits treibt.
Der soziale Druck in vielen konservativen arabischen Gesellschaften hat auch Folgen für den Übergang junger Frauen vom Jugend- ins Erwachsenalter. Leyla Bouzids erster Langfilm As I Open My Eyes (2015) spielt am Vorabend der tunesischen Proteste und vor dem Sturz des Regimes von Ben Ali. Wenn es nach ihrer Familie ginge, soll die Musterschülerin Farah Medizin studieren. Doch Fahrahs Interesse gilt allein der Musik. So muss sie einerseits dem familiären Druck standhalten. Anderseits sitzt ihr aber auch das politische Regime im Nacken, das sie wegen der Songtexte ihrer Band auf Schritt und Tritt verfolgt. In Kaouther Ben Hanias Spielfilm Beauty and the Dogs (2016) entwickelt sich das Leben der Hauptfigur Mariam zum Alptraum, als sie auf dem Heimweg von einer Party vergewaltigt wird. Um ihre Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen, muss sie eine qualvolle Odyssee zwischen Krankenhaus und Polizeistation über sich ergehen lassen. Die Regisseurin zeigt unverblümt die vielen Regeln, die in dieser patriarchalischen Gesellschaft vor allem beim Umgang mit Recht und Gesetz herrschen.
Auch in dem Dokumentarfilm Nearby Sky (2014) steht die patriarchalische Gesellschaft im Mittelpunkt. Regisseurin Nujoom Alghanem portraitiert darin Fatima Alhameli, die als erste Frau in den Vereinigten Arabischen Emiraten Kamele besitzt. Als sie es schafft, eines ihrer Tiere für einen Kamelwettbewerb anzumelden, sieht sie sich dem erbitterten Widerstand der männlichen dominierten Konkurrenz, aber auch ihrer eigenen Gemeinschaft ausgesetzt.
Frauen im Filmgeschäft setzen sich jedoch nicht nur mit reinen Frauenthemen auseinander. Einige von ihnen stellen sich den dunklen Schatten der kollektiven Vergangenheit, um der Gegenwart einen Sinn zu geben. In ihrem Dokumentarfilm Sleepless Nights (2012) konfrontiert die libanesische Regisseurin Eliane Raheb einen ehemaligen Geheimdienstoffizier, der grausame Kriegsverbrechen begangen hat, mit der Mutter eines Mannes, der in den Wirren des libanesischen Bürgerkriegs verschwunden ist. Sofia Djamas The Blessed (2016) widmet sich einer anderen Form der Konfrontation. In ihrem ersten Spielfilm portraitiert die algerische Filmemacherin zwei Generationen: Die erste hat das Schwarze Jahrzehnt miterlebt , die zweite blickt nach dieser Zeit in eine ungewisse Zukunft.
Filmemacherinnen werden darüber hinaus zunehmend als treibende Kräfte der Branche anerkannt. Ihre Filme erfreuen sich sowohl auf Festivals als auch im Publikum großer Beliebtheit. Nadine Labakis dritter Spielfilm Capernaum (2018) entwickelte sich zum umsatzstärksten Film in der Geschichte des arabischsprachigen Kinos. Er erzielte ein weltweites Einspielergebnis von 64 Millionen Dollar , nachdem er sich zuvor den Preis der Jury beim Filmfestival in Cannes und eine Oscar-Nominierung sichern konnte.
Die palästinensische Regisseurin Annemarie Jacir dreht schon seit zwanzig Jahren Filme, in denen der Nahostkonflikt eine zentrale Rolle einnimmt. Jeder ihrer drei Spielfilme wurde auf großen Festivals uraufgeführt (Salt of this Sea, 2008, in der Sektion Certain Regard der Filmfestspiele von Cannes, When I Saw You, 2013, auf dem Forum der Berlinale und Wajib, 2017, im Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno), bevor er eine ausgedehnte Reise durch die Kinos dieser Welt antrat. Ihr viel beachteter Film Like Twenty Impossibles (2003) lief als erster arabischer Kurzfilm in der offiziellen Auswahl der Filmfestspiele von Cannes. Im Wettbewerb der Berlinale 2020 war sie unlängst Mitglied der Internationalen Jury.
Queere Stimmen
Queere Hauptfiguren sind im arabischen Kino keineswegs eine neue Erscheinung. Im ägyptischen Kino der 1960er- und 1970er-Jahre kamen sie vor allem in stereotypen Rollen zur Erheiterung des Publikums zum Einsatz. Einige Filmschaffende wollten diese Form der Wahrnehmung ändern, darunter Youssef Chahine mit Filmen wie The People and the Nile (1972), Adieu Bonaparte (1985) und mit seiner gefeierten Alexandria-Trilogie Alexandria Why? (1979), An Egyptian Story (1982) und Alexandria Again and Forever (1989) oder Youssry Nasrallah mit seiner schwarzen Komödie Mercedes (1993). Der Journalist und Filmkritiker Adham Youssef schreibt dazu: "Chahine macht deutlich, dass unerwiderte Liebe, Leidenschaft und Herzschmerz auch in gleichgeschlechtlichen und nicht nur in heterosexuellen Partnerschaften vorkommen. Die Kämpfe und Lebenswege seiner Figuren haben nichts mit ihrer sexuellen Orientierung zu tun. Einige haben Erfolg, andere verfallen in Depression, wieder andere sterben."
Allerdings benötigen diese Figuren für ihre Darstellung in ägyptischen Filmen vor allem eine "psychologische Validierung" , stellt Autor und Filmkritiker Joseph Fahim fest. In Marwan Hameds The Yacoubian Building (2006) mussten die "schwulen Protagonisten in ihrer Kindheit einen schmerzhaften sexuellen Missbrauch über sich ergehen lassen, der die sexuelle Orientierung ihrer Figuren begründete", so Fahim. Die Hauptfigur in Hany Fawzys Family Secrets (2013) "begibt sich schließlich in Behandlung und wird auf wundersame Weise von ihrem ‚krankhaften‘ Schwulsein geheilt".
Doch mit dem Arabischen Frühling erhob auch eine neue Generation ihre Stimme, die sich auf viel direktere und persönlichere Weise mit dem Thema Sexualität auseinandersetzt. Und obwohl Homosexualität in den meisten Ländern der arabischen Welt formal noch immer illegal ist, wollten sich diese Filmschaffenden nicht nur ausdrücken, sondern damit auch die gängigen Normen in Frage stellen, gleichzeitig aber auch ihre Identität mit filmischen Mitteln untermauern. Das Persönliche ist bei ihnen auch politisch.
"Im Anschluss an die Dekolonisierung wollten arabische Führer ihren Bürgerinnen und Bürgern weis machen, dass sie nichts wert sind. Doch heute, nach dem Arabischen Frühling und ungeachtet dessen, was im Anschluss daran passierte, bieten die Menschen ihren Regierungen die Stirn, um zu zeigen, dass sie etwas wert sind" 21, so der marokkanische Filmemacher Abdellah Taïa. In seinem autobiografischen Spielfilmdebüt Salvation Army (2013) beschließt Abdellah, der sich wegen seiner Sexualität von seiner Familie und der Gesellschaft zurückgewiesen fühlt, aus Marokko in die liberale Schweiz zu gehen. Dort muss er sich allerdings in ein völlig neues Umfeld einleben, das sich vollkommen von dem in seiner Heimat unterscheidet.
Regisseur Abdulla Al Kaabi aus den Vereinigten Arabischen Emiraten widmet sich den Themen Gender und sexuelle Identität in seinem selbstfinanzierten und vom Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten koproduzierten Drama Only Men Go to the Grave (2016). Er war sich dabei sehr wohl der Tatsache bewusst, dass er sich mit Themen auseinandersetzte, die in seiner eigenen Gesellschaft als ausgesprochen heikel gelten. Allerdings sagt er dazu: "Mit dem Ansprechen von Tabus oder kontroverseren Themen wollte ich einen Dialog in Gang setzen."
Im Libanon wurden in den vergangenen Jahren verhältnismäßig viele LGBTIQ-Filme produziert. In seinem experimentellen Spielfilmdebüt, der deutsch-libanesischen Koproduktion Chronic (2017), adressiert Mohamed Sabbah Privates wie Politisches, wenn er vom Leben in einer bedrückenden Stadt wie Beirut und von der ständigen Auseinandersetzung mit dem Thema Verlust berichtet.
Die libanesischen Filmschaffenden Roy Dib und Lara Zeidan haben jeweils den Teddy Award der Berlinale für den besten Kurzfilm für ihre Filme Mondial 2010 (2014) und 3 Centimetres (2018) gewonnen. Im ersten Film nimmt uns Dib mit auf die virtuelle Autofahrt eines schwulen libanesischen Pärchens durch Ramallah, die angesichts der geschlossenen Grenzen in der Realität nicht möglich wäre. Im zweiten Film folgt Zeidan vier Teenagermädchen, die in einem Riesenrad stecken bleiben und sich die Zeit mit intimen Gesprächen und unerwarteten Geständnissen vertreiben.
Doch vor allem in Dokumentarfilmen gewähren libanesische Filmschaffende einen echten Einblick in ihre Sexualität, wenn sie ihre alltäglichen Kämpfe beschreiben und ihre Lebensentwürfe vor der Kamera offenlegen. In seinem Dokumentarfilm Room for a Man (2017) führt uns Anthony Chidiac durch sein Privathaus, das er gemeinsam mit seiner Mutter bewohnt, die seine persönlichen Entscheidungen und seinen queeren Lebensstil nicht billigt. In This Little Father Obsession (2016) konfrontiert Selim Mourad seine Eltern unmittelbar mit seiner sexuellen Orientierung. Und in Here I Am…Here You Are (2017) erzählt Raed Rafei von seiner Fernbeziehung und von den Schwierigkeiten, ein normales Leben als Paar zu führen.
Fazit
Die gesamte arabische Region befindet sich im Umbruch. Die Geschichten der Filmschaffenden werden immer persönlicher, und sie scheuen sich nicht, heikle Themen anzusprechen und kontroverse Diskussionen anzustoßen. Doch die arabische Welt ist noch weit davon entfernt, ihre eigene Stimme zu finden und sich neu zu definieren. Der Arabische Frühling, der eigentlich als Befreiungsschlag unterdrückter Völker gedacht war, erwies sich nicht nur als große Enttäuschung, sondern für einige Länder sogar als weitaus zerstörerischer. Es braucht einen langen Atem, bis arabische Geschichten produziert und gezeigt werden können. Einige der persönlicheren Geschichten erreichen zudem nur schwerlich das einheimische Publikum. In den meisten Ländern der Region spielt Zensur noch immer eine zentrale Rolle. "Die politischen, religiösen oder sexuellen Beschränkungen, die in der Mehrzahl der arabischen Staaten gelten, haben in Beirut keinerlei Bedeutung" , sagt Jad Abi Khalil, Leiter der Beirut Cinema Platform, des Branchenzweigs der Beirut Cinema Days. Trotzdem passieren zahlreiche Filme am Ende nicht die Zensur und können ihr Publikum nicht erreichen. Abi Khalil ist überzeugt, dass es schon immer Zensur gab: "Die Situation war noch nie besser. Jede Ausgabe der Beirut Cinema Days hatte mit Zensurproblemen zu kämpfen. Und jede Veranstaltung ist grundsätzlich immer mit Zensur konfrontiert." Es dauerte zehn Jahre, bis Tamer El Said seinen Film In the Last Days of the City (2016) fertigstellen konnte. Die bewegende Hommage an seine Heimatstadt Kairo tourte durch die ganze Welt, durfte aber nicht vor ägyptischem Publikum gezeigt werden. Und obgleich Zensur in der Regel Regierungssache ist, kann sie auch gesellschaftlich motiviert sein. Nach einer Vorführung von Salvation Army (2013) auf einem Festival in Tanger stellte Taïa fest: "Das Publikum war peinlich berührt. Zum ersten Mal sahen die Zuschauerinnen und Zuschauer einen Film mit einer schwulen Hauptfigur. Sie lachten. Auf der Pressekonferenz waren die Fronten verhärtet. Die Stimmung war äußerst angespannt." Darüber hinaus geht es auch um Offenheit und Akzeptanz. Einige Themen gelten noch immer als Tabu, und eine Mehrheit der Gesellschaft ist weiterhin nicht bereit (oder weigert sich), sie anzunehmen. Nach Angaben der namhaften tunesischen Produzentin Dora Bouchoucha (des bereits erwähnten Films Hedi), "hat sich die direkte Zensur in eine Selbstzensur verwandelt, so wie die Religion die Politik als größtes Tabuthema des Landes ersetzt hat.“
Das Patriarchat und seine gravierenden Auswirkungen auf die Situation, den Status und die Rolle von Frauen in der Gesellschaft liefern eine wichtige Inspirationsquelle, wie die weiter oben besprochenen Filme zeigen. Das vorherrschende korrupte System in mehreren, wenn nicht sogar in den meisten arabischen Ländern, wird in zahlreichen Filmen aus der Region inzwischen offen thematisiert. Dies trifft insbesondere (aber nicht nur) auf die Arbeiten von Filmemacherinnen zu, die sich in ihren jeweiligen Gesellschaften lautstark für eine Gleichstellung der Geschlechter einsetzen. In einem Gespräch über die Herausforderungen von Filmemacherinnen in Marokko spricht Maryam Ben’Mbarek davon, dass die Situation noch immer sehr schwierig ist: "Als Erstes brauchen wir Frauen in zentralen Entscheidungspositionen. Wir müssen in diesem Teil der Branche für Gleichstellung sorgen. Das würde vieles erleichtern. Diesem Thema habe ich mich auch in Sofia (2018) gewidmet - der Tatsache, dass das Patriarchat nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer eine Gefahr darstellt."
Doch es gibt offensichtlich eine neue Generation von Filmschaffenden, die sich an Themen heranwagt, die die jahrzehntelange Tyrannei, die Gesellschaft und ihre unzähligen Probleme, herrschende Moralvorstellungen, archaische Traditionen und Sexualität betreffen. Heute erblicken Geschichten die Leinwand, die bislang selten im arabischen Kino erzählt wurden, die vielfältiger und inklusiver sind und frische Perspektiven vermitteln. Regisseur Abu Bakr Shawky befasst sich in seinem Spielfilmerstling Yomeddine (2018) mit verschiedenen marginalisierten Gemeinschaften in Ägypten über die Geschichte eines älteren Leprakranken, der seine Kolonie zusammen mit einem Waisenjungen verlässt.
Rabih ist ein junger blinder Musiker, der sich in Vatche Boulghourjians Spielfilmdebüt Tramontane (2016) auf einer Reise durch seine libanesische Heimat ebenfalls auf die Suche nach seiner wahren Identität begibt. Barakat Jabbour, der in diesem Film die Rolle des Rabih spielt, ist im wahren Leben ein blinder Violinist und Sänger.
Einige Filmschaffende loten die Grenzen der Filmkunst neu aus, wenn sie Geschichten in die Welt tragen, die erzählt, aber auch gesehen werden müssen. Zwar kann man in der arabischen Welt, in der es im Grunde keine Kulturindustrie und nur begrenzte Fördermöglichkeiten gibt, noch nicht von einer echten Filmindustrie sprechen. Doch ungeachtet dessen hat sich im vergangenen Jahrzehnt eine neue Generation aufregender und einzigartiger Stimmen entwickelt, die bereit ist, ihrem Publikum neue Perspektiven zu eröffnen und die bestehenden Normen und den Status Quo in der arabischen Welt unablässig zu hinterfragen.
Rabih El-Khoury ist als Diversity Manager im Team des DFF - Deutsches Filmmuseum & Filminstitut in Frankfurt am Main tätig. Darüber hinaus arbeitet er als Geschäftsführer am Metropolis Art Cinema sowie als Generalkoordinator des arabischen Filmfestivals The Beirut Cinema Days. Er hat über 20 arabische Filmwochen in der arabischen Welt und Europa organisiert. Seit 2014 ist er Programm-Manager von Talents Beirut und Mitglied des Verwaltungsrats der Metropolis Association. Er war außerdem Kurator des Filmpreises der Robert Bosch Stiftung.