Dissonante Diaspora: Die Musik Türkeistämmiger in Deutschland seit den 1990ern. Ein Rückspulversuch
Sinem Kılıç
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Deutschsprachiger Hip-Hop? Ohne türkeistämmige Musikerinnen und Musiker undenkbar! Und ihr Beitrag zur deutschen Musikkultur reicht viel weiter, wie ein Blick auf die vergangenen drei Jahrzehnte zeigt.
‘Gurbet’ ist ein seltsames Wort, es hinterlässt einen bitteren Geschmack im Mund, sobald man es ausspricht. —Elif Şafak, Şemspare
Die Geschichte der türkischen "Gastarbeiter" in Deutschland, der sogenannten gurbetçiler, besaß von Anfang an eine Begleitmusik. In der Fremde auf sich selbst zurückgeworfen, blieb diesen gurbetçiler oft keine Wahl. "[I]n einer fremden Sprache haben Wörter keine Kindheit", heißt es in Emine Sevgi Özdamars Roman Ein von Schatten begrenzter Raum, und so fand man inmitten fremder Wortkulissen Zuflucht in der vertrauten Sprache der Musik.
Als Remix eines Max-Frisch-Zitats könnte man auch sagen: "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Musiker." Von Folk über Rock bis hin zu Disco zeichnete sich diese gurbetçi-Begleitmusik seit ihren Anfängen durch ihren Facettenreichtum aus. Einen Eindruck davon vermitteln die Kompilationen Externer Link: Songs of Gastarbeiter Vol. 1 (2013) und Songs of Gastarbeiter Vol. 2 (2021) von İmran Ayata und Bülent Kullukçu, aber auch der Dokumentarfilm Interner Link: Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod von Cem Kaya aus dem Jahr 2022. Bis zur Entstehung solcher Beiträge blieb diese Musik außerhalb der türkeistämmigen Zuhörerschaft meist unbeachtet. Die große Mehrheit der Deutschen hörte sie allenfalls in türkischen Imbissen und Kiosken. Eine aktive Auseinandersetzung mit ihr fand lange nicht statt, und auch heutzutage spielt sie in den deutschen Medien nur eine marginale Rolle – trotz der Tatsache, dass Externer Link: fast drei Millionen Menschen in Deutschland leben, die ihre Wurzeln in der Türkei haben. Dabei eröffnet gerade Musik die Möglichkeit, die Perspektive migrantischer Menschen besser zu verstehen. Und mehr noch: Sie bietet einen erhellenden Blick auf die Kultur im Einwanderungsland Deutschland – ist es doch gerade dieser "Fremde, der bleibt", wie ihn der Soziologe Georg Simmel einmal nannte, der die Eigenarten seiner neuen Heimat am besten reflektieren kann. Anknüpfend an Cem Kayas Film Interner Link: Liebe, D-Mark und Tod soll dieser Text dazu beitragen, die türkeistämmige Musik im Deutschland ab den 1990er-Jahren ins Bewusstsein zu rücken. Denn kaum ein Bereich spiegelt die deutsch-türkische Geschichte so unmittelbar wider wie sie.
Von Brooklyn nach Berlin: Die Anfänge des Hip-Hop in Deutschland
Deutschland nach der Wende: Während alte Rock-Formationen der ersten "Gastarbeiter"-Generation wie Derdiyoklar weiterhin Musik produzieren, wird mit den traumatischen Erfahrungen der rassistischen Ausschreitungen in Interner Link: Rostock-Lichtenhagen (1992) und der rechtsextremistischen Brandanschläge in Interner Link: Mölln (1992), Interner Link: Solingen (1993) und Lübeck (1996) unter jüngeren Türkeistämmigen der Ruf nach einer Musik lauter, welche die Wut direkter einfangen und kathartisch aufarbeiten kann. Im Hip-Hop finden die in Deutschland geborenen Almancılar ("Deutschländer"), die im fortwährenden Schwebezustand zwischen zwei Kulturen oszillieren, ein adäquates Ausdrucksmittel für eine Auseinandersetzung mit institutionellem und alltäglichem Rassismus, der ihren Eltern und ihnen selbst im Arbeitsleben oder in der Schule widerfährt. Das aus den USA stammende Musikgenre hilft ihnen, sich aus dem kulturellen Abseits zu befreien und eine eigene Stimme zu entwickeln.
Erste Rap-Acts formierten sich bereits zuvor: Im Umfeld des Jugendzentrums Naunynritze in Berlin-Kreuzberg bildet sich schon 1986 unter dem Namen Islamic Force (später: $lamic Force – ein Name, der das oft negative Islam-Bild in Deutschland bewusst ins Positive kippt) eine antirassistische Street-Gang, die drei Jahre später mit dem Zugang von DJ Derezon, der einige Zeit in Brooklyn gelebt hat, musikalisch aktiv wird. Zusammen mit Boe B, Maxim, Killa Hakan und Nellie beginnt die Gruppe, Samples türkischer Lieder in ihre Stücke einzubauen und auf Englisch zu rappen. Die Samples entnehmen sie der Musik, die ihre Eltern zuhause oder unterwegs meist auf Musikkassetten hören: Black Hair enthält Auszüge aus Barış Manços Gülpembe sowie O-Töne aus deutschen Nachrichtensendungen, die von den Brandanschlägen berichten, My Melody wiederum nutzt Passagen aus Zülfü Livanelis Leylim Ley. Als sie im Heimatland der Eltern eine wachsende Zuhörerschaft finden, beginnen Islamic Force, auch auf Türkisch zu rappen. Rap-Acts wie King Size Terror aus Nürnberg hatten es 1991 mit dem Rap-Track Bir Yabancının Hayatı ("Das Leben eines Fremden") vorgemacht.
Im Stück Selamın Aleyküm (1997) rechnen Islamic Force in der Muttersprache mit der ungerechten Behandlung ihrer Eltern als "Gastarbeiter" ab:
Köyden İstanbul’a vardılar Alman gümrüğünde kontrol altında kaldılar Sanki satın alındılar bunları kullanıp kovarız sandılar Ama aldandılar…
Aus dem Dorf kamen sie nach Istanbul Wurden an der deutschen Grenze kontrolliert, als wären sie gekauft worden, ‘Die können wir benutzen und dann wegjagen’, dachten sie, Doch da haben sie sich getäuscht…
Mit zunehmendem Erfolg in der Türkei beschließen Islamic Force, sich in Kan-AK umzubenennen, um in dem laizistischen Land nicht für religiös oder radikal gehalten zu werden. Gleichzeitig deutet die Gruppe das rassistische K-Wort positiv für sich um und knüpft so an den Rockmusiker Cem Karaca an, der schon in den 1980ern eine LP Die Kanaken betitelte. Mit dem frühen Tod von Boe B und Maxim findet die Geschichte dieser Rap-Pioniere jedoch ein jähes Ende. Einzig Killa Hakan setzt seine Arbeit als Solist fort. Mit ihm zusammen arbeitet der Berliner Rapper Fuat Ergin, der wie seine Kollegen 1993 beginnt, in englischer Sprache zu rappen, bevor er sich 1995 mit türkischen Texten einen Namen macht und sich der Westberliner Gruppe M.O.R. (Masters of Rap) anschließt. In der Band unternimmt auch Kool Savas seine ersten musikalischen Gehversuche.
Ebenfalls aus Berlin kommt Aziza A. Seit 1997 rappt sie als erste türkisch-deutsche Musikerin über Themen wie Generationenkonflikt, Machos oder die Suche nach "dem eigenen Weg" – ein Unterfangen, das gerade in der männlich dominierten Welt des Hip-Hop kein leichtes ist. Weitere Rapperinnen wie Lady Bitch Ray aus Bremen oder Ebow aus München folgen ihren Spuren in den Nullerjahren.
Ein CNN der Migra-Kids: Die Pioniere des deutschsprachigen Raps
Auch der vermutlich erste deutschsprachige Rap-Track hat seinen Ursprung in der postmigrantischen Diaspora, genauer in Ratingen, das wegen seiner hohen Arbeitslosenquote seinerzeit als sozialer Brennpunkt gilt. Dort gründen türkisch-, marokkanisch-, mazedonisch- und deutschstämmige Jugendliche Ende der 1980er-Jahre die Hip-Hop-Gruppe Fresh Familee. Ihre Texte kreisen um Drogen, Gewalt, Kriminalität und die schwierige Lebenssituation vieler Migrant/-innen. In ihrem Song Ahmet Gündüz (1990) erzählt der Rapper Tachi in bewusst gebrochenem Deutsch die Geschichte eines Türken in Deutschland:
Mein Name ist Ahmet Gündüz, laß’ mich erzählen euch Du musse schon gut zuhören, ich kann nix sehr viel Deutsch Ich komm von die Türkei, zwei Jahre her, Und ich viel gefreut, doch Leben hier ist schwer.
Ebenfalls aus dem Ruhrgebiet kommen Sons of Gastarbeita, die sich 1993 an einer Schule in Witten zusammenschließen. Da im Unterricht nicht über die Geschichte der "Gastarbeiter" gesprochen wird, eignen sich die Mitglieder der Crew selbst entsprechendes Wissen in öffentlichen Bibliotheken an. Für ihre Fans werden sie so "Reporters of the Street", ihre Lyrics zu einem "CNN der Migranten".
Rap-Crews postmigrantischen Hintergrunds beginnen auf Deutsch zu performen und ebnen so den Weg für Die Fantastischen Vier und andere deutsche Hip-Hop-Gruppen. In der Chronologie des deutschen Hip-Hop wird dieser wichtige Beitrag Türkeistämmiger regelmäßig unterschlagen. "Wenn wir ehrlich sind, dann waren es die Migrantenkids, die mit Hip-Hop hier angefangen haben", kommentierte der Rapper "Segnore" Rossi Pennino der deutsch-türkisch-italienischen Rap-Gruppe TCA the Microphone Mafia aus Köln diesen Umstand. "Es gibt überhaupt keinen ‘Deutschrap’, es gibt nur deutschsprachigen Rap. Tut mir leid, aber Rap kommt aus Amerika." In ihrem Song Kein Platz im deutschen Format wird "die Mafia" noch deutlicher: "Ohne uns Schwarzköpfe wärt ihr nur Scheißdreck!"
Bald sorgen die "Schwarzköpfe" auch in der Heimat ihrer Eltern für Furore: Mitte der 1990er-Jahre werden Cartel, ein Zusammenschluss aus den türkeistämmigen Rappern Karakan (ehemaliges Mitglied von King Size Terror), Da Crime Posse und Erci E. aus Nürnberg, Kiel und Berlin, in der Türkei zu Superstars, die ganze Stadien füllen.
Pop in Vierteltonschritten: Disko-Klänge aus der Diaspora
Am Bosporus entsteht in den 1990ern mit der pop müzik eine selbstständige Jugendkultur, die wiederum nach Deutschland schwappt. Mit den melancholischen Arabesk-Liedern der Eltern (einer Mischung aus türkischer Volksmusik, arabischen Klängen und westlichem Pop) kann die Jugend hier wie dort nicht viel anfangen, und so findet sie im Hip-Hop und im Pop identitätsstiftende Wege aus der Larmoyanz der älteren Generation. Mehrere Stars dieser Romantikpopwelle haben ihre Kindheit in Deutschland verbracht: So kommt Tarkan aus Alzey bei Worms, Rafet el Roman ist größtenteils in Reinheim im Odenwald aufgewachsen.
Mitte der 1990er-Jahre rücken der türkische und der deutsche Musikmarkt dann enger zusammen. Erleichtert wird dies dadurch, dass die türkischsprachigen Haushalte in Deutschland nun auch die privaten TV-Sender aus der Türkei empfangen und mit neuen türkischsprachigen Radiostationen wie Metropol FM in Berlin, das sich 1999 zur Sendung Köln Radyosu des WDR (seit 1964 on Air, heute unter COSMO Türkçe) gesellt, aktuelle Musik aus ihrer Heimat (memleket) hören können. Den größten Durchbruch schafft Tarkan, dessen Hits wie Şımarık (1997) auch ohne Türkischkenntnisse gefeiert werden und noch heute in TikTok-Videos der Generation Z auftauchen. Ein Jahr später macht der türkeistämmige Musikproduzent Mousse T. aus Hagen mit seiner Single Horny international auf sich aufmerksam – so sehr, dass er im Jahr darauf mit Sex Bomb eine Hitsingle für Tom Jones schreiben darf. Fortan wird nicht nur auf türkischen, sondern auch auf deutschen und englischen Radiosendern die Musik Türkeistämmiger gespielt. Neben Tarkan dröhnt die Musik von Aşkın Nur Yengi, Mustafa Sandal und Yonca Evcimik aus den Boxen der Diskotheken in den Urlaubsorten der Ägäis bis zum Mittelmeer, und ihre neuesten Musikvideos flackern rund um die Uhr auf den Bildschirmen heimischer Röhrenfernseher.
Ein zentrales Medium für die Musikvermittlung zwischen der Türkei und Deutschland ist schon seit den 1970er-Jahren die Musikkassette. Ihr Vorteil: Man kann sie im Auto hören – auf der Fahrt zur Arbeit oder in den großen Ferien auf dem langen Weg in die anatolische Heimat. "Man darf nie vergessen, Migration bedeutet Mobilität", merkt Cem Kaya in einem Interview an. "Und man ist ja in den Sommerurlaub in die Türkei mit der Großfamilie nicht geflogen, das konnte man sich gar nicht leisten. Also hat man den Ford Transit vollgepackt, ist drei Tage gefahren, und unterwegs musste man ja irgendwie unterhalten werden."
Das Medium wechselt nach und nach von der Kassette zur CD, in den internationalen Charts sind auch nach der Jahrtausendwende noch die Pop-Stars der 1990er präsent. 2003 gewinnt die türkische Musikerin Sertab Erener den Eurovision Song Contest, 2005 spielt Sandal ein Duett mit dem deutschen Reggae-Sänger Gentleman ein. In Deutschland breitet sich eine türkische Diskothekenlandschaft aus, wo neben Pop auch eine neue Musik namens R’n’Besk gespielt wird, eine Symbiose aus Arabesk-Gesang und R’n’B-Standards, geprägt von Sängern wie Muhabbet aus Köln.
Vom postmigrantischen Paralleluniversum ins Feuilleton
Mittlerweile ist postmigrantischer Hip-Hop längst im deutschen Mainstream angekommen. Kool Savas gelingt Anfang der 2000er der Durchbruch. Unter seinem Label Optik Records nimmt er Ekrem Bora alias Eko Fresh aus Köln unter seine Fittiche, mit dem es wegen unterschiedlicher kommerzieller Interessen – Fresh schreibt Songs für Pop-Sängerinnen wie Yvonne Catterfeld – zum Bruch und in der Folge zu vielen Disstracks auf beiden Seiten kommt.
Anfang der 2010er-Jahre erfährt der postmigrantische Hip-Hop dann auch eine breitere Würdigung seitens der deutschen Feuilletons – was sich zuvor in erster Linie auf Musikmagazine wie Spex beschränkt hatte. Besonderes Augenmerk gilt dabei vor allem Haftbefehl aus Offenbach am Main. "Hafti Abi", bürgerlich Aykut Anhan, stößt mit seinem Sprachmix aus Deutsch, Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Zaza sowohl auf deutscher als auch auf postmigrantischer Seite auf großes Interesse. "Haftbefehl wurde im Zuge seines Erfolgs für viele Migranten und Migrantinnen zu einer essenziellen Identifikationsfigur", schreibt die Journalistin Miriam Davoudvandi. "Weil er unsere Sprache spricht. Weil er sich in seiner Kunst zu vielem positioniert, was uns beschäftigt, darunter Rassismus und das in der Rap-Welt oft tabuisierte Thema Depression." Auch Kollegen wie Summer Cem aus Mönchengladbach, KC Rebell aus Magdeburg sowie junge Rapper wie Mero, Eno und Ufo361 sind Leser/-innen deutscher Medien nun dank der höheren Aufmerksamkeit für Hip-Hop ein Begriff.
Was ist indes mit der Musik der ersten "Gastarbeiter"-Generation geschehen? Dank einiger Neuauflagen, etwa vom Label Finders Keepers im Jahr 2006, kam es zu einer Renaissance des Anadolu Rock, die immer noch vielerorts zu neuen Formationen führt. Und so üben deutsche Großstädte auch heute noch eine starke Anziehungskraft auf postmigrantische Künstlerinnen aus – allen voran Berlin: Die türkische Bağlama-Spielerin und Sängerin Derya Yıldırım aus Hamburg-Veddel wohnt mittlerweile genauso in der deutschen Hauptstadt wie der Bağlama-Spieler der niederländischen Retro-Band Altın Gün, Erdinç Ecevit Yıldız. Auch Rappern wie Ezhel dient Berlin seit 2019 als neue Heimat. Fast täglich begegnet man hier wie auf vielen anderen Bühnen Deutschlands Künstler/-innen aus dem postmigrantischen Milieu: Seien es türkeistämmige Künstlerinnen wie die in İzmir geborene Wahlberlinerin Güner Künier, die in ihrer Musik Elemente aus Postpunk, Riot Grrrl und Krautrock kombiniert, oder Rapper wie Apsilon aus Berlin-Moabit, der mit seinem Song Köfte (2022) an den rassistischen Terroranschlag von Hanau (2020) erinnert. Postmigrantische Musik ist heute fester Bestandteil deutscher Musikkultur. Sie vereint auf tonaler Ebene zwei ehemals so unterschiedliche Welten so selbstverständlich, wie es auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene zu wünschen wäre.
Sinem Kılıç hat Philosophie, Latein und Musikwissenschaft in Mainz studiert und zog danach für eine DFG-geförderte Promotion in Philosophie nach Berlin, Montréal und New York. An der FU Berlin und am Bard College Berlin gibt sie Kurse in Philosophie und schreibt als freie Kulturjournalistin v.a. für das Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT und das Kulturressort von ZEIT ONLINE.