Fantasy ist ein ebenso beliebtes wie umstrittenes Genre. Unzählige Menschen, junge wie alte, genießen es, sich von Filmen, Fernsehserien, Büchern und Videospielen in geheimnisvolle Welten voller Abenteuer, Gefahr und Kampf entführen zu lassen. Fans der Fantasy betrachten diese imaginären Reisen als beglückende und mitunter sogar heilsame Erfahrungen. Zugleich fehlt es nicht an Kritiker/-innen, die dem Genre vorwerfen, in einem unguten Sinn eskapistisch zu sein, dem Reaktionären zuzuneigen, ja mitunter sogar faschistische Züge aufzuweisen. Die Fantasy, so heißt es, berausche sich am Archaischen, Irrationalen und Gewalttätigen. Was aber meinen wir eigentlich, wenn wir von „Fantasy“ reden?
Die Rolle der Sekundärwelt
Wie sich Tolkiens Aufsatz Über Märchen (1939/47) entnehmen lässt, der allgemein als eine Genrepoetik der Fantasy gilt, ist eine gelungene „Sekundärwelt“ von entscheidender Bedeutung bei der Verzauberung des Publikums. Die Sekundärwelten der Fantasy sind, wie Tolkien erläutert, stets Welten, die aus Geschichten gemacht sind und ihrerseits wiederum Geschichten hervorbringen wollen. Dabei beansprucht die Sekundärwelt als Konstruktion einer eigenen Welt so überzeugend und – innerhalb der Logik ihrer jeweiligen Gesetzmäßigkeiten – so realistisch anzumuten wie unsere Primärwelt.
Es gibt in ihr den Alltag und den Ausnahmezustand, sie verfügt über eine eigene Historizität, eine eigene Sinnlichkeit, eine eigene Interpretation der Naturgesetze. Die Sekundärwelten dürfen Geschichten voller Ironie und Humor erzählen, sie müssen sich selbst in ihrer Weltlichkeit aber völlig ernstnehmen – sonst ist der Zauber dahin. Sekundärwelten wollen durch diesen eigenen Realismus eine Sehnsucht in den Rezipient/-innen erwecken, die jeweilige Welt zu bereisen und teilzuhaben an all den unerzählten Geschichten, die sie verheißt. Ein Blick auf einschlägige Genreproduktionen zeigt, dass eine überzeugend konzipierte und umgesetzte Sekundärwelt tatsächlich eine entscheidende Voraussetzung für gelungene Fantasy ist. In unserer Gegenwart ist die Fernsehserie – vom Videospiel abgesehen – wohl das Medium, in dem das Genre die größten Erfolge feiert. Die bekannteste und erfolgreichste Fantasy-Fernsehserie ist zweifellos HBOs Game of Thrones (David Benioff/D.B. Weiss, USA 2011-2019), gefolgt von der Netflix-Produktion The Witcher (Lauren Schmidt Hissrich, POL/HUN/USA/GBR seit 2019); wobei man davon ausgehen kann, dass der Erfolg von Game of Thrones Serien wie The Witcher oder auch Amazons The Lord of the Rings: Rings of Power (Patrick McKay/John D. Payne, USA/NZL/CAN seit 2022) erst ermöglicht hat.
Game of Thrones: Fantastische Historizität
Betrachten wir also zunächst Game of Thrones. Die Serie basiert auf dem bislang unvollendeten Romanzyklus A Song of Ice and Fire (seit 1996) von George R.R. Martin. Erzählt wird der Kampf um den Eisernen Thron, in den sämtliche große Häuser der Sieben Königreiche der Sekundärwelt Westeros verwickelt werden, während sich im hohen Norden, jenseits einer gewaltigen Eismauer, eine ganz andere Bedrohung zusammenballt: untote Armeen machen sich bereit, in die Welt der Menschen einzufallen. Bis zur siebten Staffel – die meisten Fans sind bitter enttäuscht von der abschließenden achten Staffel – war Game of Thrones eine Serie, der es hervorragend gelang, eine glaubhafte Sekundärwelt im Medium der Fernsehserie zu realisieren. Mit Sicherheit ist dies ganz wesentlich der künstlerischen Meisterschaft der Vorlage zu verdanken, zu der gehört, dass die Romane (und später auch die Serie) eine Geschichte über das Grauen des Krieges erzählen und – in einer für die Fantasy typischen, unaufgelösten Ambivalenz – doch auch immer wieder auf das Pathos kriegerischen Heldentums setzen. Die Meisterschaft der Vorlage hätte jedoch nicht gereicht. Game of Thrones bedurfte einer audiovisuellen Idee, um als Serie zu funktionieren.
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Diese Idee besteht maßgeblich in einer bestimmten Form von ästhetischer Zeitlichkeit. Die Zuschauer/-innen erfahren sie zunächst als stetige Erweiterung des Erzählraums: Immer neue Figuren treten hinzu, immer neue Konflikte entwickeln sich, immer neue Schauplätze werden erschlossen. Wichtiger aber ist noch, dass diese langsame Auffaltung einer Welt, die sich über viele Staffeln hinzog, mit einem Rückgriff auf ganz unterschiedliche inszenatorische Konzepte, filmische Traditionen und verschiedene, mitunter schwer vereinbare Genres einherging, die alle zur Ausgestaltung der Sekundärwelt von Game of Thrones beitrugen.
Zunächst wird dies an der Gestaltung der Schauplätze greifbar, die bestimmte filmische Räume mit einer entsprechenden Farbkodierung verbinden: So steht dem in düsteren Erdfarben gehaltenen, weiten und einsamen Norden, Heimstatt des tragischen Heroismus, die verwinkelte Intrigenenge von King’s Landing mit Gelb-, Rot- und Ockertönen entgegen. Ein vergleichbares Prinzip prägt Game of Thrones aber auch auf anderen Ebenen. Die einzelnen Handlungsstränge wollen die Zuschauer/-innen ganz unterschiedlich ansprechen und in die filmische Sekundärwelt hineinziehen: Das Publikum soll begeistert und erschüttert, entsetzt und amüsiert sein. Im Aufstieg des als Bastard geborenen Jon Snow bis hin zum Thronanwärter ist beispielsweise ein episches Heldentum gestaltet; scharf kontrastiert dies etwa mit der als grausames psychologisches Kammerspiel inszenierten Transformation des ehemals stolzen Theon Greyjoy zum gebrochenen Sklaven Reek durch Folter und Demütigung.
Auf diese Weise entstehen für die Zuschauer/-innen immer wieder kontrastreiche Spannungen durch die vielfältige filmische Sekundärwelt. Oft entsteht diese Dynamik der scheinbar widersprüchlichen Erzählmodi sogar in aufeinanderfolgender Szenen. Bereits in der ersten Folge der ersten Staffel wechselt Game of Thrones innerhalb weniger Minuten von einer verstörenden Inszenierung sexuellen Missbrauchs (die Vergewaltigung von Daenarys durch Khal Drogo) zu Reminiszenzen an Erotikklamotten der 1970er- und 80er-Jahre (wenn Jamie Lannister seinem Bruder Tyrion gleich mehrere Prostituierte zuführt) zur melancholischen Beschwörung von verlorener Zeit und vergangener Freundschaft (das Gespräch zwischen König Robert und Eddard Stark in der Familiengruft von Winterfell).
Game of Thrones erhebt diese spannungsreiche Vielfalt in den Adressierungen der Zuschauer/-innen zum Kompositionsprinzip, zur künstlerischen Signatur, und entwickelt damit einen Entwurf der Sekundärwelt, wie er in dieser Weise nur im Medium der Fernsehserie möglich ist. Was Game of Thrones dabei zusammenhält, ist die gefühlte Authentizität der Geschichtlichkeit der Sieben Königreiche von Westeros: Es ist ein Gefühl für das Alter der Burgen, Städte und Dynastien, für die Zeitentiefe, in der Hass und Liebe, Stolz und Verworfenheit ihren Ursprung haben. Es ist, mit anderen Worten, ein Gefühl für einen historischen Realismus erzählt mit den Mitteln der Fantasy.
The Witcher: Das Heldentum im Monstrum
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Auch The Witcher verfügt über eine ganz eigene audiovisuelle Konzeption der Sekundärwelt. Die auf fünf Staffeln angelegte Serie basiert auf Andrzej Sapkowskis zwischen 1990 und 2013 veröffentlichten Erzählungen und Romanen rund um den Hexer Geralt von Riva, die Zauberin Yennefer von Vengerberg und Ciri, beider Ziehtochter. In Sapkowskis Welt sind die Hexer professionelle Monsterjäger. Vor allem sind sie Mutanten. In einem ebenso geheimnisvollen wie grausamen Verfahren erhält der Hexer gewaltige Kraft, unfasslich schnelle Reflexe und rudimentäre magische Fähigkeiten. Außerdem ist er zeugungsunfähig und, wie man sagt, völlig gefühllos. Auch darum begegnen ihm diejenigen, die seiner Dienste bedürfen – seien es Bauern oder Könige –, oft genug mit Misstrauen. Oder Verachtung und Hass. Allein sind die Hexer damit bei weitem nicht. Auch den sogenannten „Anderlingen“ – den Elfen und Zwergen – schlägt in der vorurteilsgeprägten Welt von The Witcher stetiger Rassismus entgegen.
Bereits die erste Szene der ersten Folge von The Witcher gibt Aufschluss über die spezifische Idee von Fantasy, die die Serie in ihrer Sekundärwelt gestaltet. Wir sehen einen stillen, nebelverhangenen Wald. Dicht an dicht stehen kahle Bäume, die gespenstisch und leblos wirken. Es ist ein Bild des Verfalls, gehalten in düstere Töne von Blau und Grau und Braun. Plötzlich brechen zwei Kämpfende durch die Oberfläche eines sumpfigen Gewässers: eine gewaltige Kreatur, die aussieht wie eine Kreuzung von Spinne und Krabbe, und ein bleicher, weißhaariger Mann, der eine schwarze Lederrüstung trägt und ein Schwert schwingt. Kurzum, wir sehen Geralt bei der Arbeit.
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Wenn riesige Spinnenkreaturen und schwertschwingende Recken gegeneinander antreten, scheint ausgemacht, auf welcher Seite das Monströse zu verorten ist. Aber als wir Geralts Gesicht zum ersten Mal in einer Nahaufnahme erblicken, starren uns schwarze Augen aus einer von dunklen Adern überzogenen, fahlen Fratze entgegen – in der visuellen Kodierung des Horrorfilms untrügliche Anzeichen einer dämonischen Entität. Wer Sapkowski gelesen hat, weiß, dass die Hexertränke eine solche Wirkung haben: Sie machen die kriegerischen Mutanten noch gefährlicher, führen ihnen jedoch dabei Gifte zu, die für gewöhnliche Menschen tödlich wären. Geralt muss also zum Monster werden, um das Monster zu töten. Fast buchstäblich vom ersten Moment an setzt The Witcher mit Hilfe des Monströsen einen Gegenentwurf zu der in unserer Zeit vorherrschenden Idee von Fantasy ins Werk, namentlich der Erfindung einer authentisch anmutenden Historizität, die zumindest die ersten Staffeln von Game of Thrones prägt. The Witcher nutzt die Faszination der unheimlichen Schönheit eines düsteren Märchenreiches, um uns von Anfang an mit einem wesentlichen Bauprinzip dieser Sekundärwelt vertraut zu machen: das Gute verbirgt sich im Monstrum. Das vermeintlich "Fremde" und Feindliche steckt auch im Eigenen, häufig in unseren Identifikationsfiguren.
Das wird neben Geralt auch an der Figur Yennefer von Vengerberg deutlich. Die Schlacht von Brenna, die im Mittelpunkt der letzten Folge der ersten Staffel steht, wird aufseiten der Protagonist/-innen fast ausschließlich von Yennefer und ihren Mit-Zauberinnen geschlagen. Auf dem Höhepunkt der Schlacht, wenn alles verloren scheint, tilgt Yennefer die scheinbar übermächtigen Nilfgaarder Truppen mit ihrer noch mächtigeren Feuermagie vom Erdboden. Yennefer kann diese verbotene Magie wirken, indem sie ihr Chaos entfesselt. Und Yennefers Chaos ist stärker als das jeder anderen Zauberin, weil ihr Schmerz und ihr Zorn größer sind: Als Bucklige zur Welt gekommen, musste sie ihre Gebärmutter opfern, um schön und mächtig zu werden.
Wenn Yennefer am Ende eine Magie von unsagbarer Zerstörungskraft entfaltet, um den Vormarsch Nilfgaards aufzuhalten, ist sie bereit, sich selbst zu opfern. Doch im Unterschied zur melodramatischen Heroine, die im eigenen Untergang ihre Liebe beweist, entspricht ihr Opfer der heroischen Pathosformel der Fantasy. Es ist das Heldentum des Kriegers, der sein Leben für diejenigen gibt, die seiner Stärke und seines Schutzes bedürfen; es ist das Pathos des Zauberers Gandalf, der sich zum Schutz seiner Gefährten auf der Brücke von Khazad-dûm alleine dem Balrog entgegenstellt. Es ist, mit anderen Worten, ein Pathos, das in der Fantasy bislang Männerfiguren vorbehalten war. Yennefer wird gewissermaßen als Monster zur Heldin, weil sie eine Ordnung, die ihren Buckel ebenso wie ihre Weiblichkeit verachtet, zuletzt in Schutt und Asche legt: Es ist die misogyne Ordnung der ärmlichen Bauernwelt, der sie entstammt, ebenso wie jene der Adelshöfe, die sie später als magiekundige Beraterin der Mächtigen kennenlernt.
Ambivalente Reflexionsräume
Der Blick auf Game of Thrones und The Witcher verdeutlicht, dass der Vorwurf des wohlfeilen Eskapismus an das Fantasy-Genre und seine Sekundärwelten zu undifferenziert ist. Vielmehr errichten die Sekundärwelten einen gekrümmten Spiegel unserer Primärwelt, der sie durch eine andere Perspektive reflektiert. Das gilt ebenso für das Game of Thrones-Spin-Off House of the Dragon (Ryan J. Condal/George R.R. Martin, USA seit 2022), wobei der Feminismus hier deutlich pessimistischer ausfällt: die beiden Freundinnen und – zunächst widerwilligen – Thronanwärterinnen Rhaenyra Targaryen und Alicent Hightower werden zu Todfeindinnen, weil sie den Willen ihrer Väter erfüllen müssen. Und auch die auf den Erfolg von Game of Thrones folgende Amazon-Produktion Rings of Power hat eine politische Grundierung wenn sie zeigt, dass es in der von nordischer Mythologie inspirierten Sekundärwelt Tolkiens durchaus divers und inklusiv zugehen kann. Das trifft beim Publikum zwar nicht auf ungeteilte Gegenliebe, stellt aber unter Beweis, dass der Heroismus im Fantasy-Genre buchstäblich viele Gesichter haben kann. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Fantasy das Archaische, Irrationale und Gewalttätige nicht einfach feiert. Sie eröffnet den Zuschauer/-innen stattdessen Reflexionsräume, die es ihnen erlauben, die Faszination und das Grauen, die Sehnsucht und die Angst in der Kunsterfahrung zu durchleben.
Daniel Illger studierte Filmwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie. Er ist Professor für Populäre Kulturen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, hat zum italienischen Nachkriegskino promoviert und zum Fantasy-Modus im Videospiel habilitiert; bei Klett-Cotta erschien die Skargat-Trilogie, bei Matthes & Seitz der Essay Kosmische Angst.
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