"Lebensunwertes Leben", "Unnütze Esser", "Ballast-Existenzen" – diese Begriffe verraten viel über den Umgang mit Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus. Ausgrenzung, die Negierung des Menschseins, drastische Propaganda für "Rassenhygiene" und eine Popularisierung der "Gnadentod"-Idee mündeten in der Zwangssterilisierung von fast 400 000 sogenannten "erbkranken" Menschen und in der Ermordung von 300 000 Patientinnen und Patienten bis 1945 im Deutschen Reich und von deutschen Truppen besetzten Gebieten. Diese sogenannten "Euthanasie"-Morde waren ein zentraler Teil der nationalsozialistischen Verbrechen. Allein bei der sogenannten "Aktion T4" wurden 1940/41 in sechs NS-Tötungsanstalten ca. 70 000 Menschen vergast – daran schloss sich eine sogenannte dezentralen Phase an, in der das Morden in den Kliniken und Pflegeanstalten bis Kriegsende fortgesetzt wurde.
Die Biografien und Geschichten der Opfer dringen erst langsam in die Öffentlichkeit; sie sind noch immer ein marginalisierter Teil der deutschen Erinnerungskultur. Das hängt auch mit der anhaltenden Stigmatisierung nach 1945 zusammen: Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen hatten weiterhin kaum eine Stimme. Die „Euthanasie“-Morde wurden von der deutsch-deutschen Nachkriegsjustiz unzureichend aufgearbeitet, nur wenige Täterinnen und Täter wurden verurteilt. Bis heute kämpfen Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen um Anerkennung, Inklusion und Teilhabe in der Gesellschaft.
Die Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde Brandenburg an der Havel wurde 2012 auf dem Gelände einer ehemaligen NS-Tötungsanstalt eröffnet. Eine Ausstellung in einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude klärt über die Geschichte dieses historischen Ortes auf. Die Tötungsanstalt wurde 1939 auf dem Gelände des "Alten Zuchthauses" im Zentrum von Brandenburg an der Havel eingerichtet. Zwischen Februar und Oktober 1940 wurden hier über 9 000 Patientinnen und Patienten in einer Gaskammer ermordet.
Menschen mit Lernschwierigkeiten als Vermittelnde von Geschichte Historisch-politische Bildungsarbeit und inklusive Begegnungen in der "Euthanasie"-Gedenkstätte Brandenburg
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Clara Mansfeld beschreibt die historisch-politische Bildungsarbeit und die durch ihr ermöglichten inklusiven Begegnungen in der "Euthanasie"-Gedenkstätte Brandenburg.
Im April 2016 begann in der Gedenkstätte Brandenburg ein neues Projekt: Zwölf Menschen mit Lernschwierigkeiten wurden in Kooperation mit der Lebenshilfe Brandenburg-Potsdam e. V. zu "Guides" ausgebildet. Mit dem Ziel, selbst aktiv Vermittelnde zu werden, entwickelten sie gemeinsam mit den Gedenkstättenpädagoginnen und -pädagogen eine Führung durch den historischen Ort und die Ausstellung, wobei sie individuelle Schwerpunkte setzten und eigene Vermittlungsformen fanden.
Kerstin Latzke, eine Teilnehmerin des Projekts, beschrieb ihre Erwartungen rückblickend so: "Ich hab gedacht, dass ist vom Krieg irgendwie was und von Hitler und hab mir gedacht, dass da Leute umgekommen sind. Und dann habe ich erfahren, dass da Behinderte umgekommen sind und psychisch Kranke und Leute mit seelischen Erkrankungen und Epilepsie. Das ist interessant, aber das geht richtig nach innen rein."
Seit 2017 bietet die Gedenkstätte inklusive Führungen in einfacher Sprache an – ergänzt um einen Einstiegsworkshop und eine Reflexionsrunde gehören sie zum regulären Bildungsangebot. Sechs bis acht Guides, Menschen mit Lernschwierigkeiten, führen zusammen mit einer Gedenkstättenpädagogin oder einem Gedenkstättenpädagogen durch die Ausstellung und den historischen Ort. An den Führungen teilnehmen können Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten.
Historisches Lernen als Empowerment:
Die Ausbildung zum Guide in der Gedenkstätte Brandenburg
Die Gruppe der Teilnehmenden war entstanden durch die direkte Ansprache möglicher Interessierter in der Lebenshilfe-Werkstatt in Brandenburg an der Havel. Treffen zwischen den zukünftigen Guides und den Gedenkstättenmitarbeitenden fanden in ein- bis zweiwöchigen Abständen in einem der Seminarräume der Gedenkstätte statt – wobei zunächst das gegenseitige Kennenlernen und die Etablierung einer guten Arbeitsatmosphäre im Vordergrund standen. Gemeinsam entwickelte man folgende Übereinkünfte für das gemeinsame Lernen und Arbeiten: "Immer fragen; Alles ist freiwillig; Ich achte auf meine Gefühle; Ich mache eine Pause, wenn ich sie brauche; Ich höre auf, wenn ich das möchte". Diese "Regeln", die gegenseitige Rücksichtnahme sowie Achtung des eigenen emotionalen und körperlichen Befindens betonen, bildeten eine entscheidende Voraussetzung zum Gelingen des Projekts.
Erst im Anschluss an diese Einführungsphase ging es um die Auseinandersetzung mit dem historischen Ort: Thematisiert wurden die topografischen Gegebenheiten, die Täter und der Ablauf der Verbrechen in der Tötungsanstalt Brandenburg. Das Tempo wurde dabei von den zukünftigen Guides mitbestimmt; insbesondere entschieden sie selbst, wann sie das erste Mal den Teil des historischen Ortes ansehen wollten, auf dem sich die baulichen Überreste der Gaskammer befinden.
Angeknüpft wurde dabei an das häufig zu beobachtende Bedürfnis, sich bei einem Gedenkstättenbesuch die topographischen Bedingungen zu vergegenwärtigen. Erleichtert wurde dies durch die biografischen Bezüge der zukünftigen Guides zur Stadt – fast alle leben und arbeiten schon lange in Brandenburg an der Havel, die im Zentrum der Stadt gelegene Gedenkstätte gehört zu ihrer alltäglichen Erfahrungswelt. Daraus ergaben sich Anschlussmöglichkeiten. Kathrin König, die inzwischen als Guide in der Gedenkstätte arbeitet, beschreibt das an einem Beispiel. Bezugnehmend auf ein an das Gedenkstättengelände angrenzendes Haus, in dem vermutlich die für die "Euthanasie"-Morde verantwortlichen Ärzte gearbeitet haben, sagt sie: "Das Haus, das jetzt ne Kita geworden ist. Das Eberl-Haus, ein Herr Doktor Eberl, der eigentlich nichts Gutes für die Leute getan hat, sondern Schlechtes. […] Wenn ich mit Mutti meine Nichte aus der Kita abgeholt habe, bin ich da reingegangen und hab nie und nimmer gedacht, dass das einmal ein Ärzte-Wohnhaus gewesen war, von einem Nazi-Arzt. Jetzt haben sie es so schön eingerichtet für die Kinder, mit den kleinen Stühlchen."
Vertieft wurde die Ortsaneignung mithilfe von historischen wie auch aktuellen Fotografien, die von den zukünftigen Guides selbst gemacht wurden. Mario Sommer, ebenfalls Guide in der Gedenkstätte, beschreibt dies so: "Obwohl man in dieser Zeit nicht dabei war [...] so hat das früher alles mal ausgesehen, was die mit den Leuten gemacht haben, da habe ich mir selber ein Bild gemacht, da habe ich alles vor mir gesehen, wie sie die Leute mit den Bussen da rein gefahren haben." Zudem machten ausgedehnte Gespräche innerhalb der Gruppe einen essenziellen Teil der Ausbildung aus. Dass die entwickelte Führung unter dem Motto "Eine Führung ist ein Gespräch" steht, soll das zum Ausdruck bringen: "Ich finde es schön, dass wir eine Führung machen, dass wir soweit alles wissen, wir haben alles untereinander bequatscht, wie man auf Deutsch sagt. Man hat Fragen gestellt, man hat Antworten gekriegt […] Und durch die Gespräche kam es mehr ins Gedächtnis [...]" (Kerstin Latzke 2016)
Die zu Beginn festgelegte ›Regel‹ "Immer fragen" trug offensichtlich dazu bei, diese Atmosphäre zu ermöglichen. Ergänzt wurde der historische Teil der Ausbildung um fünf Empowerment-Workshops mit dem Regisseur und Theaterpädagogen Kay Langstengel. In diesen Workshops standen Stimm-, Sprech- und Bewegungstraining sowie Übungen im Nacherzählen und Beschreiben im Zentrum. Anschließend wurde die konkrete Führung entwickelt und eingeübt.
Das Training der performativen Anteile einer Führung hat sich als unverzichtbar erwiesen. Vor einer Gruppe unbekannter Menschen zu stehen und (laut) zu sprechen, sie aufzufordern, mitzukommen oder Fragen zu stellen – das sind Elemente des öffentlichen Auftretens, die eingeübt werden müssen, insbesondere wenn sie im bisherigen Arbeitsleben kaum eine Rolle gespielt haben. Kathrin König bilanziert den Lerneffekt folgendermaßen: "Ich bin lockerer geworden mit meiner Art vor anderen zu reden". Der Guide Alf Düsterhöft äußert sich ähnlich: "Durch die Führungen bin ich selbstbewusster und sicherer geworden."
Inklusive Führungen in der Gedenkstätte Brandenburg – ein Angebot für alle
Anfang 2017 gab es die ersten Führungen vor Publikum – erweitert um einen Einführungsworkshop und eine Reflexionsrunde. Der Einführungsworkshop ermöglicht ein "Ankommen" im doppelten Sinne: zunächst am Ort selbst und in der Workshopsituation. Dazu dienen ein langsamer Start und eine Vorstellungsrunde. Zum anderen im Thema: Am Beispiel von ausgrenzender Sprache kann vermittelt werden, dass die Geschichte der NS-"Euthanasie"-Morde nicht unvermittelt 1939/40 einsetzte, sondern dass dem Morden Vernachlässigung und Diskriminierung vorausgingen. Das geschieht mithilfe einer Übung zu Adjektiven, die die Nationalsozialisten benutzten, um sich selbst und die sogenannte "Volksgemeinschaft" von z. B. Menschen mit Behinderungen abzugrenzen (z. B. "nützlich / unnütz", "lebenswert / lebensunwert"), und durch eine Auseinandersetzung mit NS-Propaganda.
In der Führung werden dann die Geschichte des Ortes (seine Funktionen vor 1940, topographische Beschaffenheit), der Ablauf der "Euthanasie"-Verbrechen (Meldebogenverfahren, Rolle der Ärzte, die fünf anderen Tötungsanstalten) sowie Biografien von Opfern thematisiert. In die Führung sind das Zeigen von historischen Fotografien, das Vorlesen von Zitaten sowie kurze Rollenspielelemente integriert.
Im Rahmen der Reflexionsrunde werden Bilder aus der Führung auf dem Boden verteil, alle, die an der Führung teilgenommen haben bekommen ein Steinchen und können es auf eines der Bilder legen. Wer möchte, kann etwas über ihre bzw. seine Entscheidung erzählen.
Zunächst war das entwickelte Bildungsangebot ausschließlich für Menschen mit Lernschwierigkeiten gedacht. Jedoch stellte sich schnell heraus: Die Guides hatten selbst großes Interesse daran, es auszuweiten, und andererseits wollten auch Menschen ohne Lernschwierigkeiten daran teilnehmen. Deshalb entschied die Gedenkstätte, das Angebot entsprechend auszubauen.
Die Struktur des Besuchs für die jeweiligen Gruppen unterscheidet sich in der Regel ein wenig: Bei Gruppen ohne Lernschwierigkeiten wird häufig auf den Einführungsworkshop zugunsten einer anschließenden Diskussionsrunde oder der Arbeit mit historischen Quellen verzichtet.
Erfahrungen mit dem inklusiven Angebot
Die Beteiligten haben während des Inklusionsprojekt viele empowernde Faktoren bemerkt: Die Guides haben neue Qualifikationen erworben, ihr Arbeitsplatz ist nicht mehr ausschließlich die Werkstatt für behinderte Menschen, und viele berichten, dass sich durch die neue Arbeit auch ihr Selbstverständnis verändert habe. So etwa Kerstin Latzke: "Ich stehe manchmal am Bus und denke: Mensch! Jetzt gucken mich die Leute so an. Wenn die wüssten, ich mache ne Führung, was würden die dann sagen."
Die Mehrheit der Gäste gibt ein positives Feedback, viele nutzen während des Besuchs immer wieder die Möglichkeit zur Interaktion, stellen Fragen und kommentieren; manche erzählen auch von eigenen Diskriminierungserfahrungen. Der Besuch in der Gedenkstätte Brandenburg bietet nicht nur die Möglichkeit, sich historisches Wissen über den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen anzueignen, sondern auch Raum, um darüber zu sprechen, wie es einem mit diesem neuen Wissen geht und was es für die eigene Biografie bedeutet.
Wenn Gruppen ohne Lernschwierigkeiten an das inklusive Angebot eine Arbeit mit historischen Quellen (z. B. Kranken- und Fürsorgeakten, Prozessakten der Täter) anschließen, lassen sie sich häufig stärker darauf ein. Ihr Verständnis der Dokumente ist oft vielschichtiger, ihnen gelingt eine Differenzierung zwischen der stigmatisierenden Tätersprache in den Quellen und den dahinter durchscheinenden Biografien der Opfer.
Historisch-politische Bildungsangebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten werden nur im geringen Umfang angeboten; für Formate, die den Nationalsozialismus und die "Euthanasie"-Morde thematisieren, gilt dies im verstärkten Maße. Das Projekt in der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde Brandenburg kann auch als Ermunterung dienen, Vermittlungsformate dieser Art zu entwickeln.
Inklusive Projekte wie in der Gedenkstätte Brandenburg können einen emanzipatorischen Charakter haben: Sowohl die Potenziale der Guides als auch ihr immer wieder geäußerter Wille, an der Erinnerungskultur aktiv und selbstbestimmt zu partizipieren, wurden im Verlauf des Projekts mehr als deutlich. Der Guide Lutz Albrecht etwa sagt: "Ich möchte Schülern und anderen Menschen über die Euthanasie erzählen." Und auch Lutz Zabel äußert sich ähnlich: "Mich interessiert, was hier in Brandenburg passiert ist. Was früher passiert ist, während des Krieges mit Behinderten. Ich möchte das anderen Menschen erzählen."
Der Artikel ist eine gekürzte Version des Beitrages Clara Mansfeld, Menschen mit Lernschwierigkeiten als Vermittelnde von Geschichte. Historisch-politische Bildungsarbeit und inklusive Begegnungen in der "Euthanasie"-Gedenkstätte Brandenburg. In: Dorothee Meyer/ Wolfram Hilpert/ Bettina Lindmeier, Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung, Bonn. S. 239–252. Dort finden Sie auch weitere Fundstellenangaben und weitere Literatur.
Weitere Inhalte
Clara Mansfeld, M.A., ist pädagogische Mitarbeiterin an der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde Brandenburg an der Havel und Doktorandin am Europäischen Kolleg Jena.
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