In der Politikwissenschaft, und zunehmend auch in der politischen Bildung, wird in den letzten Jahren (…) die auf den ersten Blick etwas überraschende Unterscheidung von der Politik und dem Politischen diskutiert. Was konkret unter der Politik und dem Politischen zu verstehen ist, hängt dabei von der Perspektive ab, aus der der jeweilige Gegenstand beschrieben wird.
Ganz allgemein gesprochen kann festgehalten werden: Die Politik meint zunächst einmal das, was wir als alltägliches politisches Geschehen wahrnehmen und beschreiben können, also beispielsweise politische Institutionen, politische Inhalte und die sie begleitenden Auseinandersetzungsprozesse der politischen Akteure. Wird die Politik als Kern politischer Bildung betrachtet, liegt der Fokus auf dem “Was”, zum Beispiel „Was ist der Bundestag?“.
Eine andere Möglichkeit den Kern politischer Bildung zu beschreiben liegt in der Fokussierung auf den Begriff des Politischen. Das Politische fragt nach den »Wesensmerkmalen« von Politik, die Politik als Politik konstituieren, also nach dem, was Politik ausmacht. Anders ausgedrückt: Als Kern politischer Bildung kann bei einem Fokus auf das Politische das „Wie“ politischer Prozesse gelten. Beispielhafte Fragen können hier sein: Wie kann ich mich gegen rassistische Angriffe wehren? Wie funktioniert Diskriminierung? Wie kann ich demokratisch einen Streit lösen?
(…) Für eine Didaktik der inklusiven politischen Bildung erscheint insbesondere Hannah Arendts Begriff des Politischen aufschlussreich (…). Sie sieht »das Recht jedes Menschen auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen« ( Arendt 2008a: 766), als zentral an, die sie in der prägnanten Formel »das Recht, Rechte zu haben« zum Ausdruck bringt (…)(vgl. dazu ebd.: 611 ff.; Arendt 1949). Hieraus ergeben sich zentrale Fragestellungen: Wie kann möglichst vielen bzw. allen Menschen das Recht eingeräumt werden, vollwertiges Mitglied in einem politischen Gemeinwesen zu sein? Und was heißt es konkret, als politischer Mensch in diesem Gemeinwesen zu agieren? (…) .
Will man das Politische näher ergründen, gilt es also vor allem den »Modus«, also das „Wie“ des Politischen zu beschreiben und danach zu fragen, was wir eigentlich tun, wenn wir als Menschen im politischen Raum agieren.
Am Anfang von Arendts Überlegungen steht dabei ihre Feststellung, dass Politik »auf der Tatsache der Pluralität der Menschen [beruht]« ( Arendt 2007: 9). Pluralität bedeutet für Arendt mehr als bloße Vielheit, wie wir sie bei Pflanzen oder Tieren beobachten können. Es handelt sich für sie um ein spezifisch menschliches Phänomen, das sich in einer paradoxen Form äußert, nämlich als Gleichheit und gleichzeitig als Verschiedenheit. Die Gleichheit der Menschen zeigt sich darin, dass sie über ähnliche physiognomische Merkmale verfügen, in der Lage sind, die gleiche Sprache zu sprechen und sich als Gleiche anzuerkennen und miteinander zu verkehren. Die Verschiedenheit hingegen zeigt sich darin, dass jeder Mensch über einen individuellen Kern verfügt, der ihn unterscheidet von allen anderen Menschen, die je gelebt haben und je leben werden. Die Art und Weise, wie die Menschen ihre Pluralität zum Ausdruck bringen, sind die Tätigkeiten des Sprechens und Handelns. Sie sind es, »in denen sich das Menschsein selbst offenbart« (vgl. Arendt 2008b: 214), und es sind nach Arendt zugleich diese beiden Tätigkeiten, die im Kern den Modus des Politischen ausmachen.
Politisch sein bedeutet demzufolge zuallererst, in der öffentlichen Sphäre von diesem spezifisch menschlichen Vermögen tatsächlich Gebrauch zu machen, d. h., anderen Menschen in Pluralität zu begegnen und in Freiheit sprechend und handelnd miteinander die gemeinsame Welt zu gestalten. Dies meint Arendt auch, wenn sie schreibt: »Der Sinn von Politik ist Freiheit« (Arendt 2007: 28). Für Arendt ist Freiheit der Sinn von Politik (bzw. des Politischen). Freiheit ist »Sinn« und nicht etwa das »Ziel« von Politik. Denn der Sinn einer Sache, so Arendt, liege in dieser selbst begründet (vgl. ebd.: 203). »D. h., wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, dann ist dieser nicht in überprüfbaren Ergebnissen von Politik, sondern im Vollzug derselben zu finden.
Da das Politische als das in der Pluralität gründende gemeinsame Sprechen und Handeln mit anderen Menschen zu sehen ist, bedeutet dies, dass eine einzelne Person niemals ›frei‹ sein kann. Entgegen dem verbreiteten Verständnis von Freiheit als einer subjektiven Eigenschaft findet sich hier ein Konzept von Freiheit, das an die Anwesenheit anderer Menschen geknüpft ist. (…) Frei sein kann nur, wer sich in den öffentlichen Raum begibt und dort sprechend und handelnd mit anderen Menschen agiert« (Oeftering 2019a: 19). (…)
Ein Merkmal des Handelns im öffentlichen Raum ist für Arendt die menschliche Möglichkeit, bestehende Prozesse zu unterbrechen, und damit einen neuen, unvorhergesehenen und offenen Anfang zu setzen. (Arendt 2008b: 33).
(…) Zum Beispiel kann eine einfache Frau wie Rosa Parks, die sich einer rassistischen Praxis widersetzte, indem sie in einem Bus einen für weiße Menschen reservierten Sitzplatz nicht freigab und damit die amerikanische Bürgerrechtsbewegung auslöste, oder auch der Zusammenschluss vieler, vieler Menschen, die Ende der 1980er-Jahre völlig unvorhergesehen die Berliner Mauer überwanden und auf friedlichem Wege den Kalten Krieg beendeten menschliche Einflussmöglichkeiten zeigen. In beiden Fällen wird deutlich, dass Menschen dazu in der Lage sind, neue, unvorhergesehene Anfänge zu setzen und dem Verlauf der Geschichte eine neue Richtung zu geben.
Damit lässt sich Hannah Arendts Begriff des Politischen folgendermaßen zusammenfassen: Durch die Geburt eines Menschen wird ein neuer Anfang gesetzt (»Natalität«) und die Menschen sind in der Lage, ebenso durch ihr Handeln und Sprechen selbst immer wieder neue Anfänge zu setzen. Hierfür müssen sie sich in den öffentlichen Raum begeben, um dort sprechend und handelnd Freiheit zu erfahren und in Pluralität mit den anderen Menschen die gemeinsame Welt zu gestalten.
(…) Damit von Exklusion betroffene Menschen in der politischen Bildung und daran anschließend in der öffentlichen Sphäre präsenter werden können, muss auf drei miteinander in Beziehung stehenden Ebenen angesetzt werden:
Erstens muss die Gesellschaft als Ganze inklusiver werden. Ausgeschlossene Menschen müssen eine größere öffentliche Aufmerksamkeit und erweiterte Zugänge erfahren. Diese Zugänge müssen durch Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. in der Arbeitswelt, im Kulturbetrieb, aber eben auch und vor allem in der Politik ermöglicht werden. (…) .
Zweitens muss politische Bildung inklusiver werden. Dies heißt zunächst einmal, Inklusion als Unterrichtsthema stärker zu berücksichtigen. Hierbei geht es einerseits um grundlegendes Fachwissen, etwa über gesellschaftliche und politische Strukturen, die Inklusion im Wege stehen, sowie andererseits um ein Wissen über die konkreten Lebenslagen von marginalisierten Gruppen, deren politische Interessen und sich daraus ergebende Konfliktlagen mit der Gesamtgesellschaft, beispielsweise durch strukturelle Diskriminierung.
Drittens muss die politische Bildung insofern inklusiver werden, als dass von Exklusion betroffene Menschen überhaupt erst in die Lage zu versetzen sind, sich ihrer eigenen Interessen gewahr zu werden und Möglichkeiten zu erfahren, sich für diese einzusetzen. Es geht also darum, (…) sie zu ermutigen und zu befähigen, mit anderen Menschen gemeinsam sprechend und handelnd tätig zu werden und ihnen Zugang zu Angeboten der politischen Bildung zu verschaffen. (…)
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung eines Abschnittes aus dem Aufsatz Markus Gloe / Tonio Oeftering (2020), Didaktik der politischen Bildung. Ein Überblick über Ziele und Grundlagen inklusiver politischer Bildung. In: Externer Link: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn. S. 87 - 132.