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Vor 30 Jahren: Menschenkette "Baltischer Weg" | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 30 Jahren: Menschenkette "Baltischer Weg"

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Mit einer Menschenkette durch die damaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen haben am 23. August 1989 hunderttausende Balten für ihre Unabhängigkeit demonstriert. Damit erinnerten sie an den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die drei Staaten 50 Jahre zuvor von der Sowjetunion annektiert wurden.

Mit der Aktion "Baltischer Weg" demonstrierten am 23. August 1989 Esten, Letten und Litauer gemeinsam für die Unabhängigkeit ihrer Länder – hier in der Nähe der estnischen Stadt Rapla. (© picture-alliance/dpa)

Am 23. August 1989 – 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Interner Link: Hitler-Stalin-Pakts – bildeten Hunderttausende Menschen aus Interner Link: Estland, Lettland und Litauen eine rund 600 Kilometer lange Menschenkette zwischen den drei Hauptstädten Tallinn, Riga und Vilnius. Sie demonstrierten damit für Unabhängigkeit und Freiheit. Diese Aktion, der "Baltische Weg", erinnerte an ein geheimes Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes, in dem Deutschland und die Sowjetunion das Baltikum und Polen unter sich aufgeteilt hatten. Damit wurden die drei baltischen Staaten während des Zweiten Weltkriegs von der Sowjetunion annektiert. Im Frühjahr 1990 erklärten Estland, Lettland und Litauen jeweils die Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit, die internationale Anerkennung folgte im Sommer 1991.

Wechsel von Unabhängigkeit und Besetzung im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert eint die baltischen Staaten die Interner Link: Erfahrung des Wechsels von Unabhängigkeit und Besetzung. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gehörten große Teile des Baltikums zum Russischen Zarenreich. Im Verlaufe des Krieges wurde das gesamte Gebiet sukzessive von deutschen Truppen besetzt. Die daraus folgende Abtrennung von Russland ebnete den Weg zur staatlichen Eigenständigkeit. Interner Link: Estland und Litauen erklärten bereits im Februar 1918 ihre Unabhängigkeit, Lettland folgte im November 1918.

In der Zwischenkriegsphase blieben alle drei baltischen Staaten unabhängig und gaben sich demokratische Verfassungen. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt am 23. August 1939 wurde der Anschluss der drei Staaten an die Sowjetunion beschlossen. In der Folge wurden "sozialistische Revolutionen" inszeniert. Nach Darstellung der Sowjetunion traten Estland, Lettland und Litauen danach als sozialistische Sowjetrepubliken der UdSSR bei. Doch bis heute vertreten die baltischen Länder den Standpunkt, dass es sich bei der Besetzung durch Sowjettruppen um eine völkerrechtswidrige Annexion gehandelt habe. Mehrere westliche Staaten wie die USA, Frankreich und Großbritannien bezeichneten den "Beitritt" ebenfalls als Annexion und erkannten diesen nicht an.

Nach der zwischenzeitlichen Besetzung des Baltikums durch die Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sich die Sowjetisierung von Estland, Lettland und Litauen fort und wurde von drastischen Strafmaßnahmen begleitet: Hunderttausende Menschen aus den baltischen Ländern wurden während des Zweiten Weltkriegs bis in die 1950er Jahre nach Sibirien deportiert, um den Widerstand gegen die Sowjetherrschaft zu brechen. Allein bei den so genannten "Märzdeportationen" im Jahr 1949 betraf dies mehr als 90.000 Menschen. Außerdem siedelte die Führung der UdSSR gezielt russischstämmige Industriearbeiter in den drei baltischen Staaten an, besonders in den urbanen Zentren. Bis 1957 durften Estnisch, Lettisch und Litauisch an den Schulen nicht unterrichtet werden.

Mit Menschenkette und Gesang für die Unabhängigkeit

Der Beginn der erneuten Unabhängigkeits- und Demokratiebestrebungen der drei baltischen Staaten hängt mit dem von Michail Gorbatschow 1985 ausgerufenen Reformkurs, Interner Link: Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau), zusammen. Dieser wurde in Litauen, Estland und Lettland besonders begrüßt, Dissidenten gründeten eine Oppositionsbewegung. Ab 1987 gab es Proteste gegen Großbauprojekte und anlässlich historischer Gedenktage. Zudem gründeten sich in allen drei Republiken so genannte Volksfronten, die als Dachorganisation fungierten und die zahlreichen informellen Gruppierungen und Reformbewegungen bündelten. Die sowjetische Führung tolerierte die Demokratisierungsbestrebungen und Föderalisierungsbemühungen der Volksfronten im Sinne der Perestroika.

Chronologie der Unabhängigkeit

1985 – Beginn des Reformkurses von Michael Gorbatschow, Glasnost und Perestroika.

1987 – Proteste und öffentliche Demonstrationen in den baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen.

1988 – Gründung der "Volksfronten" in den baltischen Staaten.

23. August 1989 – Zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes versammeln sich Esten, Letten und Litauer zu einer Menschenkette von über 600 Kilometern, die die Hauptstädte, Riga, Vilnius und Tallinn verbindet.

Februar 1990 – In den baltischen Ländern finden die ersten freien Wahlen zu einem Mehrparteien-Parlament statt.

11. März 1990 – Litauen erklärt formell seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion, am 4. Mai folgt Lettland und am 8. Mai Estland.

2004 – Die baltischen Staaten werden Mitglieder der NATO und der Europäischen Union.

2015 – Mit der Einführung des Euros in Litauen sind alle drei baltischen Staaten in der Euro-Zone. Lettland war 2014 beigetreten, Estland bereits 2011.

Im Sommer 1988 kamen Hunderttausende zu einem Sängerfest ins estnische Tallinn, um für Einigkeit und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Bis heute trägt die Unabhängigkeitsbewegung im Baltikum daher auch den Beinamen "Singende Revolution". In diese Phase des neuen Nationalbewusstseins fiel auch der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes. Aufgrund der besonderen historischen Umstände im Baltikum war dieses Datum für viele Balten ein wichtiger Bezugspunkt: Sie machten darauf aufmerksam, dass Estland, Lettland und Litauen die einzigen Länder Europas waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre zuvor vorhandene staatliche Eigenständigkeit durch die sowjetische Besetzung nicht wiedererlangen konnten.

Am 23. August 1989 bildeten Menschen aus Estland, Lettland und Litauen eine über 600 Kilometer lange Menschenkette durch die drei baltischen Staaten: von Vilnius in Litauen durch Riga in Lettland bis nach Tallinn in Estland, entlang der "Via Baltica", einer Fernstraße, die das Baltikum durchquert. "Der Hitler-Stalin-Pakt ist nach wie vor die Grundlage, auf der sich das heutige Europa stützt, das Europa, zu dem auch wir einst gehörten", hieß es in dem offiziellen Demonstrationsaufruf. Nie zuvor in der Geschichte der Sowjetunion waren so viele Menschen zu einer systemkritischen Demonstration zusammengekommen. Diese Aktion, der "Baltische Weg", machte die Unabhängigkeitsbestrebungen in der Welt bekannt. Die Macht der kommunistischen Parteien in den baltischen Staaten war zunehmend gefährdet.

Volksfronten gewannen erste freie Wahlen

Anfang 1990 fanden in allen drei baltischen Staaten die ersten freien Wahlen zu Mehrparteien-Parlamenten statt. In allen drei Ländern gewannen die Befürworter der Unabhängigkeit die Wahlen. Am 11. März 1990 erklärte Litauen seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Am 4. Mai 1990 folgten Lettland und am 8. Mai 1990 Estland mit eigenen Unabhängigkeitserklärungen und erreichten nach 50 Jahren Besatzung de facto ihre Eigenständigkeit zurück.

Die Regierung der Sowjetunion verhängte Wirtschaftsblockaden und drohte mit einer militärischen Intervention. Im Januar 1991 gab es auf den Straßen von Vilnius und Riga blutige Auseinandersetzungen. Als es vom 19. bis 21. August 1991 zu einem erfolglosen Putsch gegen Gorbatschow in Moskau kam, nutzten die drei baltischen Republiken die Lage und setzten ihre bereits 1990 verkündete Unabhängigkeit durch. Noch im August 1991 erkannten die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Unabhängigkeit der baltischen Staaten an. Am 6. September 1991 folgte auch die Anerkennung durch den Staatsrat der UdSSR. 2004 wurden Lettland, Estland und Litauen in die EU und in die Nato aufgenommen.

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