Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vor 70 Jahren: 17-Punkte-Abkommen zwischen China und Tibet | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 70 Jahren: 17-Punkte-Abkommen zwischen China und Tibet

/ 5 Minuten zu lesen

Am 23. Mai 1951 unterzeichneten Vertreter Chinas und Tibets das so genannte 17-Punkte-Abkommen, mit dem Tibet unter die Kontrolle Pekings fiel. Aus chinesischer Sicht markiert das Abkommen die "Befreiung" Tibets, aus tibetischer Sicht den Neubeginn der chinesischen Fremdherrschaft.

Der Potala-Palast im tibetischen Lhasa war von 1649 bis 1959 die Winterresidenz des Dalai Lama. Heute weht über dem Museum, das seit 1994 zum Weltkulturerbe zählt, die rote Fahne Chinas. (© picture alliance / Sergi Reboredo | Sergi Reboredo)

Das 17-Punkte-Abkommen stellt einen Wendepunkt in der Geschichte Tibets dar. Der völkerrechtliche Status der Region im zentralasiatischen Hochland – die Frage ob es formell ein Teil Chinas ist – ist bis heute umstritten, die tibetische Exilregierung ist international nicht anerkannt. Mindestens zwei Ansichten existieren dazu – dominierenden sind die chinesische und tibetische – und bestimmen den Blick auf das Abkommen und die Ereignisse, die darauf folgten.

China vertritt die Auffassung, dass Tibet nie als eigenständiger Staat existiert hat. Dem zugrunde liegt eine spezielle chinesische Definition des Begriffs von Nation und Staat: Demnach sind alle Völker chinesisch, die bis zum Interner Link: Ende der Qing-Dynastie im Jahr 1911 auf dem Gebiet des chinesischen Kaiserreichs gelebt hatten. Demzufolge war Tibet bis zur Ausrufung der Republik China am 1. Januar 1912 kein souveräner Staat. Allerdings ist es schwierig, den Status Tibets mit heutigen völkerrechtlichen Begriffen zu beschreiben. Einerseits befand sich Tibet seit 1720 in einer Art Vasallenverhältnis zu China, die Politik wurde von Statthaltern aus Peking mitbestimmt. Andererseits verwaltete sich Tibet weiterhin selbst, wenn auch ohne die Möglichkeit, eine eigenständige Außenpolitik zu gestalten.

Tibets Unabhängigkeitserklärung von 1912

Tibet sieht sich als jahrhundertalte Kulturnation. Dennoch vertritt auch die tibetische Exilregierung die Auffassung, dass es bis 1912 keinen voll unabhängigen tibetischen Staat gab. Erst mit der Rückkehr des 13. Dalai Lama, der bis 1933 lebte, und der darauffolgenden Unabhängigkeitserklärung sei Tibet frei von chinesischem Einfluss gewesen. Danach sei Tibet ein souveräner Staat gewesen, der zu einer theokratischen Monarchie wurde und eine Armee unterhielt.

Faktisch schwand schon im 19. Jahrhundert die Zentralgewalt der Qing-Dynastie über das gesamte chinesische Reich, als westliche Mächte ihren Einfluss in China auszudehnen suchten. Im Jahr 1903 veranlasste Großbritannien eine Militärexpedition nach Tibet, um den diplomatischen Einfluss Russlands zurückzudrängen. Im Verlauf der so genannten "Younghusband-Expedition" (Britischer Tibetfeldzug) besetzten die Briten zeitweise Teile Tibets und schlossen ein Abkommen mit der tibetischen Regierung.

Mao lässt Truppen in Tibet einmarschieren

Bald nachdem Interner Link: Mao Zedong (auch: Mao Tse-tung) Interner Link: im Jahr 1949 die Volksrepublik China ausgerufen hatte, intensivierte Peking die Bemühungen, Kontrolle über Tibet zu erlangen. Die chinesische Regierung berief sich auf "eine lange Geschichte der Bindung" des tibetischen Volks an das chinesische.

Im Oktober 1950 marschierten Soldaten der Nationalen Volksarmee in die östliche tibetische Region Qamdo ein. Der Einmarschbefehl für die Volksbefreiungsarmee in Tibet sei gegeben worden, um den Einfluss der "imperialistischen Kräfte" zu beseitigen und das tibetische Volk zu "befreien". Die zahlenmäßig weit unterlegene tibetischen Armee hatte dem nichts entgegenzusetzen.

Die tibetische Regierung versuchte bereits damals die Vereinten Nationen einzuschalten. Indien sicherte zunächst Unterstützung für Tibet zu, zog sich dann jedoch auf die Position zurück, dass die Tibet-Frage auch zu diesem Zeitpunkt noch "mit friedlichen Mitteln" gelöst werden könne. Am 24. November 1950 vertagten die Vereinten Nationen das Thema.

China: Abkommen garantiert formell Autonomie und Glaubensfreiheit

Am 23. Mai 1951 unterzeichneten Vertreter der kommunistischen Regierung in Peking und der tibetischen Regierung das so genannte "17-Punkte-Abkommen" (offizieller Titel: "Vereinbarung der Zentralen Volksregierung mit der Lokalen Regierung Tibets über Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets"). In dem Abkommen wurden der Regierung in Peking weitgehende Hoheitsrechte übertragen. Punkt 1 regelt die "Rückkehr" Tibets "in die große Familie der Volksrepublik China". Überdies soll die Volksbefreiungsarmee für Tibet die "nationale Verteidigung festigen" (Punkt 2). Die außenpolitische Vertretung Tibets sollte fortan von China übernommen werden (Punkt 14).

Quellentext17-Punkte-Abkommen zwischen China und Tibet

1. Das tibetische Volk wird sich vereinen und die imperialistischen aggressiven Kräfte aus Tibet ausweisen; das tibetische Volk wird in den Schoß der großen Familie der Volksrepublik China zurückkehren.

2. Die örtliche Regierung Tibets wird aktiv die Volksbefreiungsarmee unterstützen, Tibet zu erreichen und die nationale Verteidigung festigen.

3. Gemäß der im gemeinsamen Programm der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes anerkannten Nationalitätenpolitik hat das tibetische Volk das Recht auf Ausübung einer nationalen territorialen Autonomie unter der einheitlichen Führung der Chinesischen Volksregierung.

4. Die Zentralbehörden werden das bestehende politische System in Tibet nicht verändern. Die zentralen Behörden werden auch nicht den bestehenden Status, die Funktionen und Machtbefugnisse des Dalai Lama ändern. Die Beamten der verschiedenen Ränge bleiben wie gewohnt Amt.

5. Der bestehende Status, die Funktionen und Machtbefugnisse des Panchen Ngoerhtehni sollen beibehalten werden.

6. Mit dem bestehenden Status, den Ämtern und Machtbefugnissen des Dalai Lama und des Panchen Ngoerhtehni sind der Status, die Ämter und Machtbefugnisse des 13. Dalai Lama und des 9. Panchen Ngoerhtehni gemeint, als sie freundliche und vertrauensvolle Beziehungen zueinander hatten.

7. Die Politik der religiösen Glaubensfreiheit wird gemäß dem gemeinsamen Programm der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes festgelegt. Die religiösen Überzeugungen, Gebräuche und Gewohnheiten des tibetischen Volkes werden gewahrt und Lama-Klöster werden geschützt sein. Die zentralen Behörden werden keine Veränderung bezüglich der Einkommen der Klöster herbeiführen.

8. Tibetische Truppen werden Schritt für Schritt in die Volksbefreiungsarmee integriert und werden Teil der Streitkräfte der VR China.

9. Die gesprochene und geschriebene Sprache und das Bildungswesen der tibetischen Nationalität werden Schritt für Schritt in Übereinstimmung mit den bestehenden Bedingungen in Tibet entwickelt werden.

10. Die tibetische Landwirtschaft, Viehzucht, Industrie und Handel werden Schritt für Schritt entwickelt und die Existenzgrundlage der Menschen wird, in Übereinstimmung mit den bestehenden Bedingungen in Tibet, Schritt für Schritt verbessert werden.

11. In Bezug auf verschiedene Reformen in Tibet wird es keinen Zwang seitens der zentralen Behörden geben. Die örtliche Regierung Tibets wird Reformen aus eigenem Antrieb durchführen und, wenn die Menschen Reformen fordern, werden sie durch Absprache mit dem Führungspersonal Tibets eingeleitet.

12. Insoweit ehemals pro-imperialistisch und pro-Kuomintang gesinnte Beamte Verbindungen zu Imperialismus und Kuomintang entschlossen abbrechen und sich nicht an Sabotage oder im Widerstand gegen China engagieren, können sie, unabhängig von ihrer Vergangenheit, weiterhin ihr Amt fortführen.

13. Die nach Tibet verlagerten Truppen der Volksbefreiungsarmee werden alle oben erwähnten Vereinbarungen einhalten und fair sein bei all ihren Käufen und Verkäufen und werden dem Volk weder Nadel noch Faden willkürlich wegnehmen.

14. Die Chinesische Volksregierung wird für das Territorium Tibet alle Aufgaben der Außenpolitik wahrnehmen; und es wird eine friedliche Koexistenz mit den Nachbarländern geben und die Etablierung und Entwicklung fairer Geschäfts- und Handelsbeziehungen mit ihnen auf der Grundlage von Gleichheit, gegenseitigem Nutzen und gegenseitiger Achtung der Grenzen und der Souveränität.

15. Um die Durchführung dieses Abkommens zu gewährleisten, richtet die Chinesische Volksregierung einen Militär- und Verwaltungsausschuss und ein Wehrbezirks-Hauptquartier in Tibet ein und wird, unabhängig von dem von der Chinesischen Volksregierung entsandten Personal, so viel wie möglich ortsansässiges tibetisches Personal daran beteiligen. Zu diesem tibetischen Personal, das sich am Militär- und Verwaltungsausschuss beteiligt, können patriotische Elemente aus der örtlichen Regierung Tibets gehören, aus verschiedenen Verwaltungsbezirken und aus verschiedenen Hauptklöstern; die Namensliste wird nach Beratung zwischen den Vertretern der Chinesischen Volksregierung und den verschiedenen Seiten bestätigt und der Chinesischen Volksregierung zur Ernennung der Ausgewählten vorgelegt.

16. Kosten, die der Militär- und Verwaltungsausschuss, das Wehrbezirks-Hauptquartier und die nach Tibet verlagerten Truppen der Volksbefreiungsarmee verursachen, werden von der Chinesischen Volksregierung übernommen. Die örtliche Regierung Tibets sollte die Volksbefreiungsarmee bei dem Kauf und Transport von Lebensmitteln, Viehfutter und anderem täglichen Bedarf unterstützen.

17. Diese Vereinbarung wird sofort in Kraft treten, nachdem sie mit Unterschrift und Siegel versehen ist.

Diese Vereinbarung wird sofort in Kraft treten, nachdem sie mit Unterschrift und Siegel versehen ist. Unterzeichnung und Siegel von den Delegierten der Chinesischen Volksregierung:

Delegationsführer: Li Wei-han (Leiter der Kommission des Inneren); Delegierte: Chang Ching-wu, Chang Kuo-hua, Sun Chih-yuan Delegierte der örtlichen Regierung Tibets:

Delegationsführer: Kaloon Ngabou Ngawang Jigme (Ngabo Shape); Delegierte: Dzasak Khemey Sonam Wangdi, Khentrung Thuptan, Tenthar, Khenchung Thuptan Lekmuun Rimshi, Samposey Tenzin Thondup

Rein formell werden Tibet auch weitgehende Autonomierechte zuerkannt. Das politische System Tibets sollte bestehen bleiben (Punkt 4), auch der "bestehende Status" des Dalai Lama sollte beibehalten werden (Punkt 4 bis 6). Explizit wird auch die Interner Link: Glaubensfreiheit garantiert (Punkt 7). Die chinesische Regierung ist der Ansicht, dass sowohl das 17-Punkte-Abkommen als auch die nachfolgenden Schritte mit ausdrücklicher Billigung des tibetischen Volkes geschehen seien.

Tibet: Abkommen kam unter "Waffengewalt" zustande

Gleichwohl war das 17-Punkte-Abkommen von Beginn an umstritten. Die tibetische Exilregierung vertritt bis heute den Standpunkt, dass sie durch die militärische Präsenz Chinas in Qamdo faktisch zur Unterschrift gezwungen wurde. Das tibetanische Volk habe das 17-Punkte-Abkommen als "Todesurteil" für ihre Unabhängigkeit gesehen. Auch der 14. Dalai Lama habe sich nur deswegen zur Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China entschieden, um sein Volk "vor der totalen Zerstörung zu bewahren". Er stimmte dem Abkommen im Oktober 1951 zu – "unter Androhung von Waffengewalt", wie er später sagte.

Seit 1950 stand Tibet de facto unter chinesischer Herrschaft. Die Religionsausübung der Tibeterinnen und Tibeter wurde eingeschränkt, Land enteignet, Tempel in Lagerhallen umfunktioniert und die Bevölkerung zu Zwangsarbeit verpflichtet. Die tibetische Exilregierung betont, dass China schwer gegen das Abkommen verstoßen hat. So habe China neben den existierenden tibetischen Regierungsorganen ein zweites Machtzentrum aufgebaut mit eigenen, von der Zentralregierung gesteuerten Organen. Kommunistische Reformen seien gegen den Willen des tibetischen Volkes erzwungen, Hunderte religiöse Einrichtungen seien zerstört worden. Diese und andere Ereignisse hätten zu einem immer stärker werdenden Widerstandswillen in der Bevölkerung geführt. In den Folgejahren ereigneten sich einzelne bewaffnete Aufstände in den östlichen Landesteilen Tibets.

Tibet-Aufstand 1959

Acht Jahre nach Unterzeichnung des 17-Punkte-Abkommens begann der sogenannte Tibet-Aufstand. Der Auslöser war eine Einladung des Dalai Lama zu einer Theateraufführung in einem chinesischen Militärlager außerhalb der Hauptstadt Lhasa. Das geistige und politische Oberhaupt der Tibeter sollte jedoch ohne Leibwächter erscheinen. Viele Tibeter fürchteten wegen der bestehenden Spannungen eine Verhaftung und Verschleppung des Dalai Lama.

Am 10. März 1959 kam es deswegen zu Massenprotesten. China behauptete, dass es sich bei den Demonstrationen um einen von der tibetischen Führung organisierten Aufstand handelte und zog Truppen der Volksbefreiungsarmee zusammen. Am 17. März, eine Woche nach Ausbruch der Proteste, floh der Dalai Lama nach Indien. Seitdem hat die tibetische Exilregierung ihren Sitz in Dharamsala. Nach tibetischen Angaben ermordete die chinesische Armee unter der Führung Mao Zedongs bei Säuberungsaktionen nach dem Aufstand insgesamt rund 87.000 Menschen, zahlreiche Klöster wurden zerstört.

In der Zeit nach dem Tibet-Aufstand wurde 1964 zwar formal ein "Autonomes Gebiet Tibet" gegründet. In der politischen Realität können die Tibeterinnen und Tibeter ihre Rechte gegenüber der chinesischen Führung aber kaum geltend machen.

Bis heute setzt sich die Exilregierung in Dharamsala für die Interessen des tibetischen Volkes ein. Auf dem Gebiet der Region Tibet kommt es derweil immer wieder zu größeren Unruhen. Zuletzt eskalierten diese 2008, als sich buddhistische Mönche gegen die chinesische Zentralgewalt erhoben. Amnesty International prangert Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung an. Tibeterinnen und Tibeter würden mit dem Argument "verfolgt", dass China gegen "Separatismus" und "Extremismus" vorgehen müsse.

Mehr zum Thema:

Weitere Inhalte

Weitere Inhalte

Artikel

China - Tibet

Die chinesische Regierung hat auch in der Autonomen Region Tibet (TAR) das Überwachungssystem mithilfe von digitalen Datenbanken und engmaschiger sozialer Kontrolle weiter ausgebaut. Im Namen der…

Artikel

Die Komplexität der Tibetfrage

Schon immer ist Tibet ein Spielball unterschiedlicher Weltmächte gewesen – von Großbritannien über Russland bis hin zur Volksrepublik China. Die Forderungen des Dalai Lama und der tibetischen…

Dossier

China

China ist nicht nur wegen der derzeit grassierenden Corona-Pandemie im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Fragen wie, welche Rolle das bevölkerungsreichste Land der Erde zukünftig spielen und…

Video Dauer
Video

Wie geht es weiter mit Tibet und China?

Der Gesandte des Dalai Lama in Europa Kelsang Gyaltsen und Prof. GU Xuewu diskutieren zum Abschluss der Reihe „Meeting China – Olympialand kontrovers“ über den tibetisch-chinesischen Konflikt…

Themenblätter im Unterricht
Vergriffen

Olympialand China

Vergriffen
  • Pdf

Die Olympischen Spiele 2008 in Peking stehen im Mittelpunkt einer breiten politischen Debatte. Bedeutende Ereignisse im Vorfeld der Spiele heizen die Diskussionen weiter an.

  • Pdf