Verleumdungskampagnen und Medienskandale. Amtsführung im "postfaktischen Zeitalter"
Niels H.M. Albrecht
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Die Welt im 21. Jahrhundert hat sich radikal verändert. Die Voraussage des Medientheoretikers Marshall McLuhan, dass die Welt zum Dorf wird, ist längst Realität. Transaktionen laufen in Sekundenschnelle rund um den gesamten Globus, und die Menschen haben sich über die weltumspannenden Social-Media-Kanäle vernetzt. Der Kampf um die Informationshoheit ist längst entbrannt. Die mächtigsten Unternehmen der Welt sind die Internetkonzerne Google und Facebook, die nichts produzieren, aber alles wissen. Ihre Algorithmen geben den Takt der vernetzten Informationsgesellschaft vor. Viele spüren die umfassende Wucht dieses Veränderungsprozesses, der bei einigen Ängste auslöst.
Die Angst verbreitet sich rasch: Bürgerinnen und Bürger geben sich ihr hin und schaffen Feindbilder mit Behauptungen, die jeder Grundlage entbehren. Politikerinnen und Politiker werden zu "Volksverrätern" erklärt, und Journalistinnen und Journalisten gehören der "Lügenpresse" an. Dieser Transformationsprozess und seine Auswirkungen auf die Amtsführung sollen im Folgenden beleuchtet werden. Dabei verdeutlicht ein Blick auf vergangene Medienskandale: Zwar sind Falschmeldungen und Lügen gewiss keine neuen Phänomene; neu aber ist ihre schnelle und crossmediale Verbreitung.
Mediales Theaterspiel aus Empörung, Angst und Rettung
Kommunikation ist nicht nur schneller geworden, sondern auch zunehmend emotionalisiert und zugleich weniger faktenbasiert. Beim Kurznachrichtendienst Twitter, in dem etwa auch US-Präsident Donald Trump seine Informationspolitik betreibt, erlebt man in 140 Zeichen den neuen Erregungszustand. Das Internet ist zur schnellsten Reiz-Reaktions-Maschine geworden.
Anfang der 1980er Jahre sorgte der US-Ingenieur Robert Kahn, der die technologischen Grundlagen für das Internet konzipierte, dafür, dass das amerikanische Verteidigungsministerium rund eine Milliarde Dollar in ein zehnjähriges Forschungsprogramm zur Entwicklung der künstlichen Intelligenz investierte. Er hielt damals fest, dass "die Nation, die das Feld der Informationsverarbeitung dominiert, den Schlüssel zur Weltherrschaft im 21. Jahrhundert besitzen wird". Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und Russland um die Cyberattacken im US-Wahlkampf 2016 sind bezeichnend für den Kampf um die Informationshoheit. Doch der Ton wird auch innerhalb der jeweiligen Länder schärfer: Der demokratisch gewählte US-Präsident Donald Trump erklärte in seiner Rede vor dem Hauptquartier der CIA, er befinde sich "im laufenden Krieg mit den Medien".
"Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" lautet ein bekanntes Diktum des preußischen Offiziers Carl von Clausewitz. Nach Clausewitz muss man einen Feind benennen, um die eigenen Reihen zu schließen. Seine Strategeme sahen folgende Instrumente in der Kriegsführung vor: den Überraschungseffekt, das Anfallen von mehreren Seiten her, die Inszenierung eines Kriegstheaters, die Einbeziehung des Volkes sowie die Benutzung großer moralischer Kräfte. Diese Überlegungen mögen alt sein, doch das Schema wird heute noch genutzt – mit neuen technischen Mitteln: Populisten suchen mit ihren Meldungen einen Überraschungseffekt durch eine Provokation oder Falschmeldung zu erzielen, ihre Anhänger nehmen die Nachrichten auf und tragen sie bis zur Empörungswelle durchs Netz. Weil Fehlverhalten und Skandale Empörung und dadurch Aufmerksamkeit versprechen, werden sie zu einem probaten Mittel, Nachrichten zu generieren.
Die Populisten selbst werden zu einem Medienereignis. Sie verweisen auf die Stimmung im Volk, die sie selbst erzeugt haben, und inszenieren sich vor einem Millionenpublikum als Retter des Vaterlandes.
Es stellt sich die Frage, wie dieses Reiz-Reaktions-Schema der Medienlogik durchbrochen werden kann. Die Gesellschaft befindet sich, ganz nach dem Pawlowschen Experiment, bei dem der Glockenton und nicht mehr das Futter den Speichelfluss beim Hund auslöst, in einer Konditionierungsfalle. Der Physiologe Iwan Pawlow fand auch heraus, dass der Speichelfluss beim Hund mit der Zeit zurückging, wenn der Glockenton nicht durch andere Assoziationen an Futter verstärkt wurde. Dies lässt sich auf die beschriebene Informationsspirale übertragen: Die Nachrichten müssen durch Zuspitzung, Gerüchte und Emotionalisierung immer weiter aufgewertet werden. Die Populisten nutzen die dem Pawlowschen Phänomen entsprechende Medienlogik für sich, und Donald Trump ist ihr Meister.
Zum probaten Mittel in der medialen Auseinandersetzung sind die sogenannten Fake News geworden: Quelle und Autorenschaft werden hierbei weder hinterfragt noch überprüft. In "postfaktischen Zeiten" ist der Wahrheitsgehalt einer Nachricht unwichtig. Die neue Währung in der Aufmerksamkeitsspirale des Netzes ist die Empörung. Der Wahrheitsgehalt bleibt dabei auf der Strecke.
Auch in der Bundesrepublik waren Politikerinnen und Politiker in jüngster Zeit im Fokus von Fake News. So wurde etwa auf Facebook Ende 2016 ein Mord an einer Frau in Freiburg genutzt, um die Bundestagsabgeordnete Renate Künast mit einem frei erfundenen Zitat zu verunglimpfen. Das gefälschte Zitat – "Der traumatisierte Junge [sic] Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen" – machte im Netz umgehend die Runde und löste in der Diskussion um die Flüchtlingspolitik eine Welle der Empörung aus. Als Quelle wurde die "Süddeutsche Zeitung" genannt. Renate Künast reagierte rasch und richtig: Sie widerrief das Zitat als "frei erfunden" und erstattete Anzeige und Strafantrag gegen die Macher der Facebookseite "Widerstand deutscher Patrioten" sowie gegen unbekannt wegen "übler Nachrede".
Der Fall Künast verdeutlicht, dass der Reiz in der Medienlogik über der Information steht. Doch Falschaussagen, Verleumdungen und Lügen hat es in der Vergangenheit immer gegeben, und es wird sie auch in der Zukunft geben. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich bei großen gesellschaftlichen Umwälzungen immer mediale Diskurse, Entgleisungen und neue Machtstrukturen Bahn brechen. Schon die erste deutsche Demokratie begann mit einem Medienskandal, aus dem eine Verleumdungskampagne der antidemokratischen Kräfte erwuchs.
Als die erste Republik baden ging
Am Tag der Vereidigung des ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, veröffentlichte die "Berliner Illustrirte Zeitung" (BIZ) am 21. August 1919 ein ungewöhnliches Titelfoto: Es zeigte den ersten Demokraten im höchsten Staatsamt und Reichswehrminister Gustav Noske in Badehosen (Abbildung 1). Die Fotografie, die als "Badebild" in die Geschichte einging, schockierte nicht nur die Bevölkerung, sondern hatte auch ungeahnte Folgen für die abgelichteten Personen.
Schon damals kämpften die verschiedenen Verlagshäuser um die Gunst der Leserinnen und Leser. Die Verlage mussten, wenn sie höhere Gewinne machen wollten, durch spektakuläre Geschichten, Fotos oder Skandale ihre Auflagen erhöhen. Der damalige Chefredakteur der BIZ, Kurt Korff, schrieb 1927 über den Umgang mit Fotos: "Nicht die Wichtigkeit des Stoffs entschied über die Auswahl und Annahme von Bildern, sondern allein der Reiz des Bildes selbst." So wie im Fall Künast: Der Reiz ist wichtiger als die Information. Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten für die Medien. Und die Veröffentlichung des "Badebildes" war ein Skandal. Bis dato war die Bevölkerung ausschließlich die Gala-Uniformen von Kaiser Wilhelm II. und seinem Hofstaat gewöhnt. Nun standen die neuen Repräsentanten des Staates ohne Kleider da.
Zu dieser Zeit trugen Männer für gewöhnlich noch Badeanzüge. Die beiden Politiker waren jedoch de facto nackt. Zudem sah die hungernde und leidende Bevölkerung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg einen gut genährten Sozialdemokraten. All das gab Anlass zu Spott und Häme. Es folgten zahllose Verunglimpfungen von Gegnern der Republik. Sie nutzten das Bild für Artikel, Postkarten, Karikaturen und Bücher. Die "Deutsche Tageszeitung", die das Foto bereits Tage zuvor in einer Beilage veröffentlicht hatte, kommentierte: "Mitte Juli weilten die Herren Reichspräsident Fritz Ebert und Reichswehrminister Noske auch einige Tage im Ostseebade Haffkrug bei Travemünde. In Ausübung ihrer hohen Machtvollkommenheiten dispensierten sie sich von der dort herrschenden Vorschrift, nur im Kostüm zu baden, stellten der Welt ihre ganze Mannesschönheit zur Schau und veranlassten in animierter Stimmung die Fixierung der nebenstehend wiedergegebenen Szene auf eine photographische Platte. Nachträglich kamen ihnen doch Bedenken über die Abzüge. Herr Ebert hatte indes die Freundlichkeit, uns eine Kopie zur Verfügung zu stellen, weil er in ihrer Wiedergabe mit Recht eine treffliche Propaganda für das neue Regime und für seine Person erblickt." Heute würde man von Fake News sprechen, denn die Nachricht war gelogen.
Der Tathergang war ein anderer gewesen. Der Büroleiter des Reichspräsidenten, Rudolf Nadolny, hielt in seinen Aufzeichnungen fest, dass Ebert und seine Begleiter nach einem Besuch in Hamburg weiter nach Haffkrug gefahren waren, um ein Waisenhaus zu besuchen. Nach der Besichtigung habe jemand angeregt, noch ein Bad in der Ostsee zu nehmen. Während sie badeten, sei der Fotograf noch einmal vorbeigekommen und habe vorgeschlagen, noch ein Bild zu machen. Alle Personen hätten dem Foto für private Zwecke zugestimmt. Die Herausgabe der Fotoplatte an fremde Dritte sei ausdrücklich untersagt worden. Der Strandfotograf Wilhelm Steffen habe sein Wort gebrochen und das Bild an die Berliner Presse verkauft. Die Klage gegen die Veröffentlichung des Fotos wurde abgewiesen, da man das Bild als Dokument der Zeitgeschichte einstufte.
Das Vertrauen, das Ebert dem Fotografen entgegenbrachte, wurde ihm zum Verhängnis. Die Amtswürde des Reichskanzlers wurde durch ein – nach damaligen moralischen Standards – unangemessenes Verhalten schwer beschädigt. Nach der Veröffentlichung fehlte es ihm an einer klugen Medienstrategie, um den Skandal in den Griff zu bekommen. Stattdessen befeuerte er selbst die Auseinandersetzung um das Foto. Immer wieder verklagte er seine Gegner vor der monarchisch eingestellten Justiz, die im sprichwörtlichen Sinne auf dem rechten Auge blind war. Gegen die Verwendung des Badebildes stellte der Reichspräsident in seiner Amtszeit 173 Strafanträge, mit denen er versuchte, die Würde seines Amtes und der Demokratie wiederherzustellen. Vergeblich: 1925 verstarb Ebert während seines letzten Strafprozesses.
Ebert war während seiner gesamten Amtszeit mit Falschmeldungen konfrontiert. Auch er beschäftigte sich mit der Berichterstattung in der Presse, doch nach der Verantwortung der Medien fragte er nie. Ein Diskurs über die Medienethik hätte der jungen Republik geholfen, denn das "Badebild" hatte keinen Informations-, sondern ausschließlich einen Sensationsgehalt. Eine andere Badeszene sorgte auch in der jüngeren deutschen Geschichte für Schlagzeilen und ruinierte die Karriere eines Spitzenpolitikers.
Politik als Inszenierung
Trotz seiner steilen politischen Karriere konnte Rudolf Scharping sein Image als "Sandmännchen" nie ganz ablegen. Seine vermeintliche Langsamkeit, seine einschläfernden und selten mitreißenden Reden sowie sein Erscheinungsbild mit Brille, Bart und Behäbigkeit brachten ihm diesen Spitznamen ein.
Als Verteidigungsminister im ersten Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder war er der erste Sozialdemokrat, der den Einsatz von Waffen befahl – im März 1999, als die NATO in den Kosovo-Konflikt eingriff. Aus dem "Sandmännchen" war in den Medien nun der "Feldherr" geworden. Doch er wollte mehr: Sein damaliger Berater, Moritz Hunzinger, brachte Wirtschaftsvertreter mit Politikern zusammen, veranstaltete parlamentarische Abende und trat für die Interessen seiner Mandanten bei Regierungsvertretern ein. Sein Auftrag war der Kontakthandel im Dienste bestimmter Interessen. Hunzinger hatte innerhalb von zwei Jahrzehnten die damals zweitgrößte PR-Beratungsgesellschaft in Deutschland aufgebaut. Über Hundert Mitarbeiter pflegten seine mehr als 60000 wertvollen Adressen von Prominenten aus Politik und Wirtschaft. Mit seinen Netzwerkgeschäften erzielte er Anfang der 2000er Jahre fast fünf Millionen Euro Umsatz. Um die Belange von Rudolf Scharping kümmerte er sich persönlich. Hunzinger entwickelte ein umfangreiches PR-Konzept, um den kommunikativen Auftritt des steif wirkenden Ministers zu optimieren. Doch seine Beratung führte nicht zum Reputationsgewinn des Ministers, sondern zum öffentlichen Absturz.
So ließ sich Scharping im August 2001 mit seiner neuen Lebensgefährtin Kristina Pilati, die er bei Hunzingers "Politischem Salon" kennengelernt hatte, im Pool auf Mallorca für die Titelseite der Publikumszeitschrift "Bunte" ablichten (Abbildung 2). Zeitgleich standen Bundeswehrsoldaten unmittelbar vor dem schwierigen Einsatz in Mazedonien. Die Soldaten mussten ihren Kopf hinhalten, während der Verteidigungsminister mit seiner neuen Freundin im Wasser planschte und nicht bei der Truppe weilte – so der Vorwurf. Dieses Verhalten wurde als unhaltbar angesehen. "Der Spiegel" machte es zum großen Aufmacher: Scharping war zum liebestollen Bademeister der Nation geworden. Sein Pressestab im Ministerium wusste von nichts. Es war allein Scharpings Initiative.
Vor der Inszenierung im Pool hätte er sich an das Skandalbild seines Parteigenossen aus der Weimarer Republik erinnern und die Wirkung und möglichen Konsequenzen durchdenken sollen. Bis heute ist fraglich, warum der SPD-Minister den Lobbyisten Hunzinger mit CDU-Parteibuch für sein Kommunikationsmanagement beauftragte und welche Rolle dieser wirklich spielte. Scharping wurde zur Belastung, und die Kritik an seiner Amtsführung wegen der Fotos schadete der Regierung und der Partei. Bundeskanzler Schröder entzog ihm das Vertrauen. Anders als Ebert suchte Scharping die Inszenierung und scheiterte daran.
Schwarmintelligenz
Gerhard Schröder prägte den Satz: "Zum Regieren brauche ich Bild, BamS und Glotze." Einige Jahre später stützte sich Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in seiner politischen Krise auf die "Weisheit" des ehemaligen Bundeskanzlers und wählte ebenfalls die "Bild"-Zeitung als strategischen Partner.
Am 16. Februar 2011 berichtete die "Süddeutsche Zeitung", dass Professor Andreas Fischer-Lescano die Dissertation von zu Guttenberg als "dreistes Plagiat" bezeichnet habe. Guttenberg entgegnete, die Anfertigung der Arbeit sei seine eigene Leistung gewesen. Bereits einen Tag nach der Veröffentlichung kommentierte der Boulevard-Journalist Franz Josef Wagner in der "Bild"-Zeitung: "Ich flog durchs Abitur und habe nie eine Universität von innen gesehen. Also, ich kann von außen sagen: Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor." Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine Untersuchungen zur Dissertation vor. Und trotzdem bezog Wagner klar Stellung: Der Doktortitel war, seiner Auffassung nach, nichts wert.
Beim Fall Guttenberg kam es zu einer Spaltung innerhalb des Axel Springer Verlags. Die Chefredaktion der "Welt" vertrat die Auffassung, dass eine Dissertation, besonders für ihre konservative Leserschaft, ein Wert sei, der nicht infrage zu stellen sei. Ganz anders die "Bild": Der damalige Chefredakteur Kai Diekmann stellte sich hinter zu Guttenberg. Die auflagenstärkste Zeitung wurde zur PR-Abteilung eines Ministers. Währenddessen arbeiteten Unzählige im virtuellen Raum an der Überprüfung der Doktorarbeit. Sie schlossen sich am 17. Februar 2011 auf der Internetplattform "GuttenPlag" zusammen.
Am nächsten Tag kam es in der Bundespressekonferenz zu einem Eklat. Zu Guttenberg stellte sich nicht den kritischen Fragen der Journalisten, sondern gab parallel zu der laufenden Bundespressekonferenz eine Erklärung vor ausgewählten Medienvertretern ab, die vor dem Ministerium gewartet hatten. In dürren Worten betonte der Minister, dass seine Arbeit kein Plagiat sei, aber auch, dass er seinen Doktortitel bis zur Aufklärung der Universität Bayreuth nicht mehr führen werde. Mit seinem Nichterscheinen auf der Bundespressekonferenz brachte er alle Hauptstadtkorrespondenten gegen sich auf. Es herrschte Fassungslosigkeit über das Verhalten des Ministers. Den Berliner Journalisten zeigte sich ein neues Bild von zu Guttenberg. Er wurde nun als feige eingeschätzt. Auch sein Pressesprecher Steffen Moritz war völlig handlungsunfähig und konnte in der Bundespressekonferenz keine Erklärung abgeben. Noch während der laufenden Terminankündigungen durch Regierungssprecher Steffen Seibert verließen die Journalisten aus Protest gegen das Verhalten des Ministers geschlossen den Saal. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundespressekonferenz.
Am 20. Februar 2011, also nur vier Tage nach der Veröffentlichung des Vorwurfs, war eine erdrückende Beweislage im Internet abrufbar: Bei fast 70 Prozent der Dissertation handelte es sich um ein Plagiat. Am 3. April 2011 stand schließlich das Ergebnis von GuttenPlag fest: Auf 371 von 393 Seiten der Doktorarbeit waren Plagiatsfragmente gefunden worden – das sind 94 Prozent aller Seiten. Die Schwarmintelligenz des Internets konnte Fakten präsentieren, während die "Bild" mit Emotionen argumentierte.
Die Universität Bayreuth bestätigte das GuttenPlag-Ergebnis, und am 1. März 2011 trat zu Guttenberg von seinen politischen Ämtern zurück. "Spiegel Online" meldete folgerichtig: "Netz besiegt Minister". Und tatsächlich markiert die Causa Guttenberg einen Meilenstein im Umgang mit medialen Krisen. Der Minister wurde von unbekannten Netzaktivisten seines Amtes enthoben. Die frühere Medienlogik von Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder schien nicht mehr zu bestehen.
Fazit
Amtsführung heißt heute, wie im Fall von Renate Künast, Falschmeldungen zu erkennen und mit Schnelligkeit und Entschlossenheit gegen sie vorzugehen. Doch Schnelligkeit alleine reicht nicht, das belegt der Fall von Friedrich Ebert. Das Scheitern von Rudolf Scharping verdeutlicht, dass ein Amt anhand von Werten, Würde und Sachverstand zu führen ist und nicht auf PR-Maßnahmen beruhen kann. Die Inszenierung der Politik trieb Karl-Theodor zu Guttenberg zur Perfektion. Zu seiner Zeit war er der beliebteste Politiker der Bundesrepublik, da es ihm gelang, alle Milieus in Deutschland über die unterschiedlichsten Medien gezielt anzusprechen. Seine Öffentlichkeitsarbeit baute auf einem bekannten Muster auf: Der Baron und seine Frau erzählten die Geschichte der Kennedys nach: jung, modern, attraktiv, international, weltgewandt und werteorientiert. Doch zu Guttenberg stürzte über die eigenen Werte, die er nicht einhielt. Er wurde von der Schwarmintelligenz des Internets entzaubert.
Das Beispiel zeigt, warum Politiker sich nicht auf die restriktive Unterbindung von Fake News konzentrieren, sondern vielmehr für die Freiheit des Netzes eintreten sollten. Die Aufgabe von Entscheidern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert ist die ethische und sozialverantwortliche Gestaltung der digitalen Transformation unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Hierfür braucht es ein schlüssiges Konzept, um das beschriebene Reiz-Reaktions-Schema und den Erregungszustand zu beenden.
ist promovierter Rechts- und Medienwissenschaftler, Geschäftsführer der Albrecht&Thron Beratungsgesellschaft sowie Leiter der Deutschen Akademie für Change- & Krisenmanagement. E-Mail Link: albrecht@albrecht-thron.de