Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befand sich Deutschland in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Im Zuge dessen stieg die Arbeitslosigkeit von einem hohen Niveau noch weiter. Zudem erschütterte der "Vermittlungsskandal" das Vertrauen in die damalige Bundesanstalt für Arbeit. Das Land galt als "kranker Mann Europas" und war reformbedürftig. Vor diesem Hintergrund verkündete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 die "Agenda 2010". Im Zentrum standen umfassende Reformvorschläge für den Arbeitsmarkt und das deutsche Sozialsystem. Als Ziele nannte er insbesondere die "Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung" sowie den "Umbau des Sozialstaats und seine Erneuerung". Bis 2005 wurde die Agenda 2010 von der rot-grünen Bundesregierung weitgehend umgesetzt. Integraler Bestandteil waren die "Hartz-Reformen", die erhebliche Veränderungen im Arbeitsrecht, bei der Gewährung von Lohnersatz- und Sozialleistungen und in der Bereitstellung arbeitsmarktpolitischer Dienstleistungen brachten.
Die in der Agenda 2010 angekündigten und später umgesetzten Maßnahmen führten von Anfang an zu heftigen Kontroversen über deren Wirkungen und Nebenwirkungen, die bis heute in unverminderter Schärfe ausgetragen werden. Während Befürworter die Grundlinien der Agenda 2010 angesichts der hierzulande inzwischen deutlich verbesserten Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage unbedingt beibehalten wollen, sehen Kritiker angesichts des nicht gelösten Problems der Langzeitarbeitslosigkeit, der starken Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung und atypischen Erwerbsformen massiven Umsteuerungsbedarf. In diesem Beitrag soll eine Bilanz aus wissenschaftlicher Sicht gezogen werden. In einem ersten Schritt werden hierzu die wesentlichen Elemente der Agenda 2010 und die seinerzeitigen Ziele rekapituliert. Im zweiten Schritt geht es um Effekte des Reformpakets auf den Arbeitsmarkt insgesamt, die Zusammensetzung der Beschäftigung sowie die soziale Situation von Arbeitslosen. Schließlich werden ausgehend von den nach wie vor unübersehbaren strukturellen Problemen am Arbeitsmarkt, wie zum Beispiel Fachkräfteengpässen und verfestigter Arbeitslosigkeit, im dritten Schritt Weiterentwicklungsoptionen der Agenda 2010 diskutiert.
Elemente der Agenda 2010
Die im März 2003 vorgeschlagene Agenda 2010 umfasste ein breites Spektrum politischer Reformmaßnahmen in den Bereichen Wirtschaft (zum Beispiel Lockerung der Handwerksordnung), Bildung (zum Beispiel stärkere Förderung von Ganztagsschulen), Ausbildung (zum Beispiel Erweiterung des Kreises der Ausbildungsberechtigten), Sozialversicherung (zum Beispiel Leistungskürzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung) und Arbeitsmarkt (zum Beispiel Deregulierung des Kündigungsschutzes). Kernstück des zwischen 2003 und 2005 umgesetzten Reformpakets waren umfassende Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, zu denen üblicherweise auch die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz I bis Hartz IV) gezählt werden. Die oft als "Big Bang" gesehene Reform hatte drei wesentliche Stoßrichtungen: arbeitsrechtliche Deregulierung, arbeitsmarktpolitische Aktivierung und verbesserte Dienstleistungen am Arbeitsmarkt.
Die Reformen setzten in dreifacher Weise auf arbeitsrechtliche Deregulierung. Der Schwellenwert für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes wurde von fünf Beschäftigten auf zehn Beschäftigte erhöht. Die stärksten Veränderungen betrafen aber die sogenannten atypischen Erwerbsformen: Fundamentale Anpassungen gab es 2003 für die Zeitarbeitsbranche. Vormals geltende Regelungen wie das weitreichende Befristungsverbot, das Synchronisationsverbot oder auch Beschränkungen der Überlassungshöchstdauer wurden aufgehoben. Zwar wurde in diesen gesetzlichen Änderungen die grundsätzliche Gleichstellung von Leih- und Stammarbeitnehmern verankert. Jedoch wurde gleichzeitig die Möglichkeit geschaffen, mit Tarifverträgen davon abzuweichen. Auch die geringfügige Beschäftigung (Minijobs) wurde 2003 neu geregelt. Wie in der Zeit vor 1999 ist es seitdem unerheblich, ob ein Minijob haupt- oder nebenberuflich ausgeübt wird. Die Entgeltgrenze, bis zu der Einkommen steuerfrei und abgabenbegünstigt sind, wurde auf 400 Euro angehoben und vorher bestehende Beschränkungen der Arbeitszeit aufgehoben. Die Ziele der arbeitsrechtlichen Deregulierung bestanden darin, die Arbeitsnachfrage durch Flexibilität und damit verbundener Kostensenkung zu beleben und dadurch den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.
Auch die arbeitsmarktpolitische Aktivierung im Rahmen der Agenda 2010 setzte im Wesentlichen auf drei Elemente. Die vormals geltende maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere wurde von 32 Monaten auf 18 Monate deutlich abgesenkt. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende können als Paradigmenwechsel in der deutschen Arbeitsmarktpolitik betrachtet werden: vom Statuserhalt hin zu einer Basisabsicherung mit starken Aktivierungselementen. Unter dem Stichwort des "Forderns und Förderns" wurden die Zumutbarkeitskriterien verschärft. Empfänger der Grundsicherung müssen seitdem jede Beschäftigung akzeptieren, die ihnen von der Bundesagentur für Arbeit (BA) angeboten wird. Das Ziel des Aktivierungsansatzes bestand vor allem darin, Arbeitslose schneller und effektiver in Arbeit zu bringen. Erreichen wollte man dies durch ein verändertes Suchverhalten, eine höhere Konzessionsbereitschaft und eine striktere Erwerbsorientierung der Arbeitslosen.
Bei der durch die Reformen angestoßenen besseren Dienstleistungen am Arbeitsmarkt sind ebenfalls drei Komponenten besonders hervorzuheben. Bei der Reform der BA lag die Priorität darin, die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des Mitteleinsatzes zu erhöhen. Zur Betreuung der Grundsicherungsbezieher wurden Jobcenter neu geschaffen. Sie befinden sich entweder in gemeinsamer Trägerschaft von den jeweiligen Kommunen und der BA oder aber in Alleinträgerschaft einer Kommune. Auf mehr Konkurrenz zwischen öffentlichen und erwerbswirtschaftlichen Trägern zielte schließlich das erweiterte Betätigungsfeld für private Agenturen. So wurden Vermittlungsgutscheine eingeführt und private Agenturen in stärkerem Maße mit der Betreuung und Vermittlung schwer vermittelbarer Personengruppen betraut. Dieser Teil der Reformen sollte die Vermittlung von Arbeitslosen verbessern und beschleunigen und damit zu einem besseren matching am Arbeitsmarkt beitragen. Schließlich zielten die Reformen auf mehr Transparenz: Ein Teil der vormaligen Sozialhilfeempfänger wurde erstmals in der Arbeitslosenstatistik erfasst; Personen, die täglich drei Stunden oder mehr beruflich tätig sein können, wurden fortan als erwerbsfähig eingestuft und von den Job-Centern betreut.
Aktuell gelten die Agenda-Reformen nicht mehr uneingeschränkt beziehungsweise unverändert. Die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere wurde zum 1.1.2008 von 18 Monate auf 24 Monate angehoben. Neuerliche Veränderungen gab es auch für die Zeitarbeitsbranche. Hervorzuheben sind hier Einschränkungen einer konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung, die Etablierung eines Branchenmindestlohns sowie die Einführung der von der Überlassungsdauer abhängigen und auf equal pay zielenden Branchenzuschläge. Schließlich wurde jüngst (zum 1.4.2017) wieder eine Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten eingeführt und vorgegeben, dass Leiharbeitnehmer bei einem Arbeitseinsatz nach spätestens neun Monaten hinsichtlich ihrer Entlohnung anderen Beschäftigten im Entleihunternehmen gleichzustellen sind. Darüber hinaus wurde 2014 die Entgeltgrenze für Minijobs auf 450 Euro heraufgesetzt.
Effekte der Arbeits- und Sozialreformen
Wenn Gesamteffekte der Arbeitsmarktreformen betrachtet werden sollen, muss zunächst ein analytisches Problem benannt werden. Anders als auf der Mikroebene, wo mit Kontrollgruppen gearbeitet und so eine kontrafaktische Situation erzeugt wird, fehlt es auf der Makroebene an vergleichbaren Ansätzen. In Ermangelung tragfähiger Modelle, die zweifelsfrei Wirkungszusammenhänge identifizieren können, stützen sich die nachfolgenden Aussagen auf einschlägige, eher partielle Befunde, die aber in ihrer Summe als wichtige Indizien zu werten sind. Im Folgenden sollen die Reformeffekte in dreierlei Richtung betrachtet werden. Erstens geht es um deren Wirkung auf die Arbeitsmarktentwicklung insgesamt, zweitens um Veränderungen in der Zusammensetzung von Erwerbstätigkeit und Beschäftigung und drittens um Konsequenzen für die soziale Situation von Arbeitslosen.
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsentwicklung
Hinsichtlich der Rolle, die die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen für die sich zuletzt kontinuierlich verbessernde Arbeitsmarktlage gespielt haben, ist zunächst einmal festzustellen, dass der Aufschwung am Arbeitsmarkt mit dem Inkrafttreten der Reformen einsetzte und gerade auch im Vergleich mit dem OECD-Durchschnitt als bemerkenswert einzustufen ist (Abbildung 1). Die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit ging in absoluten Zahlen von knapp fünf Millionen 2005 auf voraussichtlich 2,5 bis 2,6 Millionen im Jahr 2017 deutlich zurück und hat sich damit beinahe halbiert. Selbst die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 konnte der Aufwärtsentwicklung am Arbeitsmarkt nichts anhaben. Die Erwerbstätigkeit erreichte zuletzt einen Rekordwert nach dem anderen und wird Prognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge 2017 mit mehr als 44 Millionen den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erreichen. Stärkster Treiber des Erwerbstätigenanstiegs ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die zuletzt noch stärker zulegen konnte als die Erwerbstätigkeit insgesamt und seit 2005 um mehr als fünf Millionen gestiegen ist. Auch die Zahl der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsstunden nahm im Zeitraum von 2005 bis 2017 von 55,5 Milliarden Stunden auf knapp 60 Milliarden Stunden um knapp acht Prozent spürbar zu.
Für die Erklärung des kräftigen Aufschwungs am Arbeitsmarkt seit 2005 kommt grundsätzlich eine ganze Reihe von Faktoren in Betracht. Drei mögliche Ursachen dürften aber eher keine oder eine bestenfalls untergeordnete Rolle gespielt haben. Erstens zeigen Periodenvergleiche, dass sich das Niveau des trendmäßigen Wirtschaftswachstums vor und nach den Reformen nicht substanziell unterscheidet. Zweitens ist das gesamtwirtschaftliche Arbeitskräfteangebot (Erwerbspersonenpotenzial) zwar nach den Reformen aus demografischen Gründen nicht mehr so stark gestiegen wie in der Zeit davor. Diese Veränderung in den Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes kann aber schon alleine aufgrund der nicht so beträchtlichen Größenordnung allenfalls für einen kleinen "Entlastungseffekt" gesorgt haben. Weil drittens zudem die "Unterbeschäftigung", also die Summe aus registrierter Arbeitslosigkeit und Stiller Reserve, ebenfalls kräftig zurückgegangen ist, gibt es auch keine Hinweise darauf, dass Personen etwa durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in stärkerem Maße aus der offenen in die verdeckte Arbeitslosigkeit übergegangen wären.
Von daher sind die Arbeitsmarktreformen ein ernsthafter Kandidat für die Erklärung der stark verbesserten Beschäftigungssituation. Für deren Wirkung gibt es klare Indizien. Die jüngere Entwicklung deutet auf einen spürbaren Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit hin. Offenbar konnte auch die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht zuletzt wegen der Reformen hierzulande besser absorbiert werden. Auch die nach innen verschobene Beveridge-Kurve deutet auf eine über die Zeit verbesserte Effizienz der Matching-Prozesse am Arbeitsmarkt hin: Einer gegebenen Zahl von offenen Stellen stehen immer weniger Arbeitslose gegenüber. Hierzu dürften auch die verbesserten Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, insbesondere die effektivere Integration von Arbeitslosen, beigetragen haben. In den ersten Jahren nach der Reform hat sich die Abgangswahrscheinlichkeit von Arbeitslosen in eine Beschäftigung spürbar erhöht, wohl auch wegen deren allgemein gestiegener Konzessionsbereitschaft. Zudem verbleiben ältere Beschäftigte heute länger im Arbeitsmarkt als 2005, was mit der verkürzten Bezugsdauer des Arbeitslosengelds, der Einführung der Grundsicherung, Einschränkungen des Vorruhestands und der Einführung der Rente mit 67 zusammenhängt.
Neben den Arbeitsmarktreformen trug auch die Lohnentwicklung im vergangenen Jahrzehnt zur verbesserten gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungslage bei. Die Lohnsetzung kann zum Aufbau von Arbeitsplätzen beitragen, wenn sie den Verteilungsspielraum nicht (voll) ausschöpft und damit den Anstieg der Lohnstückkosten begrenzt. Zwar war eine moderate Lohnpolitik in den letzten Jahrzehnten nichts Außergewöhnliches, doch bemerkenswert ist, dass zwischen 2003 und 2007 – und damit ab 2005 selbst in einer Phase mit kräftigem Wirtschaftswachstum – an der Lohnzurückhaltung festgehalten wurde. Dies dürfte aber mit den Arbeitsmarktreformen zusammenhängen. Denn diese haben die Zugeständnisse von Arbeitslosen in Bezug auf die Löhne erhöht und die Nutzung solcher Beschäftigungsformen erleichtert, die wie Minijobs oder Zeitarbeit mit einer relativ geringen Stundenentlohnung einhergehen.
Veränderte Zusammensetzung der Beschäftigung
Den Arbeitsmarktreformen wird vorgeworfen, zu einem Aufwuchs atypischer und niedrig entlohnter Beschäftigung beigetragen zu haben. Bei dieser Frage ist zum einen an direkte Effekte durch reformbedingte Rechtsänderungen wie bei den Minijobs und der Arbeitnehmerüberlassung zu denken. Zum anderen könnte es zu indirekten Effekten der Reformen zugunsten atypischer Beschäftigung insgesamt und Niedriglohnbeschäftigung gekommen sein, weil mit der Aktivierung Abschreckungs- oder Signaleffekte einhergegangen sein könnten.
Der Rückblick zeigt zunächst einmal einen insgesamt beträchtlichen Bedeutungsverlust der "Normalarbeitsverhältnisse". Hatten Anfang der 1990er Jahre noch rund zwei Drittel der Erwerbstätigen ein unbefristetes, vollzeitnahes Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Zeitarbeitsbranche, waren es zuletzt nur noch etwas mehr als die Hälfte. Die umgekehrte Entwicklung zeigt sich bei den atypischen Erwerbsformen. Setzt man letztere jedoch in Bezug zur Erwerbsbevölkerung, also den 15- bis 64-jährigen Personen, zeigt sich, dass der Aufwuchs nicht zulasten der Normalarbeit ging, sondern mit einer verringerten Zahl von Nichterwerbstätigen und Arbeitslosen verbunden war. Auf der Makroebene ist damit eine Verdrängung des Normalarbeitsverhältnisses nicht erkennbar. Dazu kommt, dass sich auch in jüngerer Zeit die absoluten Zahlen für Standard-Erwerbsformen seit 2006 nicht nur wieder stabilisiert haben, sondern sogar wieder zulegen konnten.
Ob nach Umsetzung der Arbeitsmarktreformen verschiedene Beschäftigungsformen zugenommen haben, kann anhand deren jährlicher Wachstumsraten betrachtet werden. Bei den deregulierten Formen der Erwerbsarbeit wie Zeitarbeit und geringfügige Beschäftigung lassen sich frühe Reformeffekte im Sinne eines kräftigen Anstiegs im Jahr 2004 erkennen. Dabei scheint es sich aber um einen einmaligen Niveaueffekt gehandelt zu haben, der sich in der Folgezeit nicht fortgesetzt hat (Abbildung 2). Während sich in den letzten Jahren ein Rückgang der Befristungen eingestellt hat, boomt unter den atypischen Erwerbsformen alleine die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung. Deren Anstieg hängt jedoch in erster Linie mit personellen Konstellationen, wie dem Haushaltskontext des Beschäftigten (zum Beispiel der Kinderzahl), zusammen. Mögliche Gründe für das Ausbleiben einer dauerhaften Beschleunigung des Erwerbsformenwandels nach den Arbeitsmarktreformen sind zunehmende Fachkräfteengpässe auf betrieblicher Seite, die mit der verbesserten Arbeitsmarktlage in Verbindung stehende Stärkung der Verhandlungsposition von Bewerbern oder auch die erwähnten Re-Regulierungen in der jüngeren Vergangenheit.
Ein ähnliches Bild zeigt sich im Niedriglohnbereich. Das "Niedriglohnrisiko" ist im Zuge des Aufschwungs am Arbeitsmarkt nach den Reformen nur noch geringfügig gewachsen. Auf der Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen Berechnungen des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) in Duisburg – ausgehend von einem Schwellenwert von zwei Dritteln des Medianstundenlohns – für 2014 ein individuelles Niedriglohnrisiko von Beschäftigten in Höhe von 22,6 Prozent im Vergleich zu 21,2 Prozent im Jahr 2005 (Abbildung 3). Dagegen war der Aufwuchs von 1995 bis 2005 um 4,7 Prozentpunkte wesentlich stärker ausgeprägt. Eine Differenzierung nach Beschäftigungsformen offenbart, dass der Anstieg in der jüngeren Vergangenheit alleine auf ein erhöhtes Niedriglohnrisiko von Teilzeitbeschäftigten und Minijobbern zurückgeht. Durch die stärkere Verbreitung der Minijobs könnte es also einen gewissen Reformeffekt auf die Lohnstruktur gegeben haben. Dagegen ist das Niedriglohnrisiko der Vollzeitbeschäftigten seit 2005 insgesamt zurückgegangen. Allerdings zeigen Analysen zu befristet Beschäftigten und Leiharbeitnehmern, die häufig vollzeitbeschäftigt sind, teils beträchtliche Bruttolohnabschläge im Vergleich zu "Normalbeschäftigten".
Die Arbeitsmarktreformen kommen somit nicht als Initialzündung für wachsende Lohnungleichheiten in Betracht, weil bereits zuvor gravierende Veränderungen zu beobachten waren. In der einschlägigen Literatur wird hierfür ein ganzes Bündel von Ursachen genannt. Zunächst einmal kann die rückläufige Tarifbindung einen nennenswerten Teil der Lohnungleichheit erklären. Zudem haben die anfangs starken Beschäftigungsverluste in Ostdeutschland den gewerkschaftlichen Organisationsgrad dort geschwächt. Weitere Erklärungsfaktoren für die stärkere Lohnspreizung sind der wachsende internationale Handel und Outsourcingtendenzen in Teilen der Wirtschaft, die zunehmende Integration auch gering qualifizierter Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt, spezifische Effekte des technischen Fortschritts auf verschiedene Qualifikationsgruppen sowie eine stärkere Heterogenität von Betrieben in Bezug auf die Entlohnung.
Soziale Situation von Arbeitslosen
Bei den Veränderungen in der sozialen Situation von Arbeitslosen seit den Arbeitsmarktreformen sind zwei gegenläufige Wirkungszusammenhänge zu beachten. Während Leistungskürzungen im Rahmen der Reformen tendenziell eine soziale Schlechterstellung erzeugen, sollten die positiven Beschäftigungseffekte der Agenda dem eher entgegenwirken.
Ein erstes Indiz für wachsende soziale Probleme liefert die Entwicklung der sogenannten Armutsgefährdungsquote. Sie misst das allgemeine Armutsrisiko in einer Gesellschaft. Es ist nach internationalen Konventionen dann gegeben, wenn das individuelle Nettoeinkommen unter 60 Prozent des Medians der gesamten Einkommensverteilung liegt. Das so gemessene Armutsrisiko beziffert eine relative Größe, wodurch Ungleichheiten in der Verteilung der Einkommen nach unten sichtbar gemacht werden können. Die Armutsgefährdungsquote hatte vorliegenden Befunden zufolge schon seit der Jahrtausendwende zugenommen. Dieser Anstieg setzte sich dann laut Mikrozensus auch über das Jahr 2005 hinaus fort von 14,7 Prozent 2005 auf 15,7 Prozent 2015. Der jüngere Zuwachs kann aber nicht zweifelsfrei den Arbeitsmarktreformen zugerechnet werden. Denn definitionsgemäß sind nicht nur (Langzeit-)Arbeitslose von Armut gefährdet, sondern auch andere Niedrigeinkommensbezieher wie beispielsweise die wachsende Zahl von Studierenden und erwachsenen Auszubildenden, die nicht mehr zu Hause leben.
Deshalb müssen die Reformwirkungen auf die soziale Situation von Arbeitslosen stärker ins Blickfeld genommen werden. Auf deskriptiver Ebene zeigt sich zunächst einmal, dass Arbeitslose durch die Reformen im Durchschnitt Einkommenseinbußen hinnehmen mussten und hierdurch die Armutsquote der Arbeitslosen ab 2005 gestiegen war. Aus Verteilungsanalysen zu den Hartz-Reformen ist bekannt, dass etwa die Hälfte der Betroffenen, insbesondere vormalige Arbeitslosenhilfeempfänger, finanzielle Einschnitte zu verzeichnen hatte; rund ein Drittel wurde dagegen leicht besser gestellt. Die Frage stellt sich aber, ob die Reformen tatsächlich als die wesentliche Ursache für die wachsende Armutsgefährdung von Arbeitslosen in Betracht kommen.
Als eine weitere Erklärung für die höhere Armutsquote der Arbeitslosen nach den Reformen liefert die Soziologin Stefanie Heyne in einer vertieften Analyse Belege dafür, dass sich auch die Zusammensetzung der Gruppe der Arbeitslosen im Zeitablauf geändert hat. Zu erwähnen ist hier, dass ehemalige und tendenziell schwer vermittelbare Sozialhilfeempfänger nach den Reformen erstmals als Arbeitslose erfasst wurden. Die Untersuchung konstatiert aber eine zunehmende Konzentration armutsgefährdeter Gruppen unter den Arbeitslosen. Eine nicht leicht zu beantwortende Frage ist dabei, ob und inwieweit die unübersehbare Verfestigung der Arbeitslosigkeit mit den Reformen in Verbindung steht oder nicht. So könnte es auch sein, dass es Personen mit geringen oder entwerteten Qualifikationen oder auch gesundheitlichen Beeinträchtigungen etwa aufgrund allgemein steigender Qualifikationsanforderungen unabhängig von der Agenda 2010 immer schwerer haben, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Hierfür liefert auch der gerade veröffentlichte Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht Hinweise. Danach zeigt sich, dass sich für Bezieher von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II die Abhängigkeit von diesen Leistungen zu verfestigen droht. Die Chancen des Ausstiegs aus dem Grundsicherungsbezug haben sich trotz der zuletzt hervorragenden Beschäftigungssituation nicht verbessert.
Fazit
Die Agenda 2010 hat den vorliegenden Erkenntnissen zufolge zu einer nachhaltigen Belebung des Arbeitsmarktes beigetragen. Vor den Reformen bereits zu beobachtende Strukturveränderungen in Richtung atypisch und niedrig entlohnter Beschäftigung haben sich nicht dauerhaft beschleunigt, teilweise wohl auch wegen der durch die Arbeitsmarktreformen verbesserten Beschäftigungssituation. Zudem gibt es keine klaren Hinweise auf eine mit den Reformen in Verbindung stehende starke Prekarisierung von Arbeitslosen.
In der jüngeren Vergangenheit gab es bereits eine ganze Reihe von Schritten zur Re-Regulierung beziehungsweise Neuregulierung des Arbeitsmarktes (wie die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in 2015), bis dato aber mit Augenmaß. Ein substanzielles Zurückfahren der Agenda 2010 wäre auch nicht zielführend, weil dadurch Erreichtes wie der inzwischen ausgesprochen aufnahmefähige Arbeitsmarkt oder auch der erleichterte Zugang zur Beschäftigung gefährdet würde. Trotz der zuletzt erkennbaren Verbesserungen am Arbeitsmarkt gibt es aber strukturelle Probleme, die durch die Agenda 2010 nicht oder noch nicht ausreichend adressiert wurden oder bei denen Teile der Agenda sogar im Wege stehen können. Die Agenda 2010 ist aber insgesamt weniger zurückzudrehen, als vielmehr weiterzuentwickeln. Ansatzpunkte sind Qualifizierung, Gesundheitsvorsorge und die anstehende digitale Modernisierung. Eine Weiterentwicklung könnte auf den Grundpfeilern der Agenda 2010 aufsetzen, jedoch präventive Ansätze und die Befähigung der Erwerbspersonen stärken. Im Einzelnen können drei Handlungsfelder ausgemacht werden:
Fachkräfteengpässe
Wachsende Stellenbesetzungsprobleme in regionalen und berufsfachlichen Teilarbeitsmärkten sind zuletzt stärker sichtbar geworden. Die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt dürfte die Engpässe teilweise noch verstärken. Die Qualifikationsanforderungen werden weiter steigen und spezieller werden. Im technologischen Wandel verkürzt sich die Halbwertszeit des Wissens. Auch Arbeitslose sind bei dem sich abzeichnenden Weiterbildungsbedarf angemessen zu beteiligen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wird es darum gehen, zunehmende Personalreserven zu erschließen. Ansatzpunkte hierfür sind Arbeitsmigration und eine höhere Erwerbsbeteiligung. Letzterem stehen insbesondere die Minijobs vieler Frauen entgegen, weil die Ausgestaltung der geringfügigen Beschäftigung als Arbeitszeitfalle zu sehen ist. In diesem Kontext gibt es jedoch nicht nur die Option einer spürbaren Absenkung der Geringfügigkeitsschwelle, sondern auch die Möglichkeit eines Ausbaus flexibler und bezahlbarer Betreuungsangebote für Kinder und Pflegebedürftige sowie von Reformen des Ehegattensplittings und der abgeleiteten Rechte in der Sozialversicherung. Bei Änderungen des Steuer- und Transfersystems ist aber kein "Big Bang" anzuraten, eher sind schrittweise Anpassungen das Mittel der Wahl.
Verfestigung der Arbeitslosigkeit
Langzeitarbeitslosigkeit konnte nach der Reform zwar spürbar abgebaut werden, aber bestenfalls proportional zur Gesamtarbeitslosigkeit. Die Abgangsraten von Langzeitarbeitslosen in Beschäftigung sind weiterhin deutlich geringer als die der Kurzzeitarbeitslosen. Die arbeitsmarktpolitische Aktivierung hat den Eintritt von Langzeitarbeitslosigkeit verringert, ist aber für einen Ausstieg des harten Kerns der Arbeitslosen in eine nachhaltige Beschäftigung noch nicht hinreichend. Der Personenkreis ist vielfach durch multiple Risikomerkmale wie Alter, fehlende Qualifikation oder gesundheitliche Probleme gekennzeichnet, die die Beschäftigungsfähigkeit dauerhaft einschränken. Ansatzpunkte liegen hier auf einem Abbau reduzierbarer Risiken, einem gezielten Fördern, einer intensiven, individuellen und ganzheitlichen Betreuung sowie der behutsamen Implementation eines auf Teilhabe setzenden "sozialen Arbeitsmarktes" für schwerstvermittelbare Personen. Insgesamt ist es in diesem Kontext wichtig, nicht wie in der Zeit vor den Reformen auf Alimentierung zu setzen, sondern auf konsequente Befähigung der Arbeitslosen.
Mangelnde Aufwärtsmobilität
Zwar hat sich durch die Agenda 2010 der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert. Der Verbleib in der Beschäftigung und der Aufstieg im Arbeitsmarkt sind damit aber noch nicht gewährleistet. Es ist von entscheidender Bedeutung, ob Möglichkeiten bestehen, aus unsicheren oder schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen in besser bezahlte und stabilere Stellen wechseln zu können. Dies geschieht noch viel zu selten. Der Vorteil einer stärkeren Aufwärtsmobilität liegt in deren doppelter Rendite. Zum einen profitieren die Aufsteiger selbst, zum anderen finden Nachrücker aufgrund des "Schornsteineffekts" leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt. Ansatzpunkte für Aufwärtsmobilität sind das Nachholen einer Vollqualifizierung, berufsbegleitende Formen der Teilqualifizierung, die gezielte Unterstützung von Tätigkeitswechseln sowie räumliche Mobilität.
Für technische Unterstützung danke ich Pia Klotz, Lisa Kühn und Stefan Werner. Bei Marie-Christine Heimeshoff bedanke ich mich für wertvolle Kommentare.
ist promovierter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg und Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg. E-Mail Link: ulrich.walwei@iab.de