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Politische Kultur - politische Bildung Editorial Kultur und Identitäten Handlungsorientierung und Kontroversität Die politische Handlungsbereitschaft von deutschen Jugendlichen im internationalen Vergleich Neue Medien und Internet Herausforderungen an die Pädagogik

Neue Medien und Internet Herausforderungen an die Pädagogik

Jörg Becker

/ 21 Minuten zu lesen

Neben Sport und Unterhaltung gilt die Pädagogik als einer der wirkmächtigsten Faktoren, jeweils neuen Medien und Informationstechnologien einen großen Markt zu öffnen. Historisch wiederholen sich gleich mehrere Argumentationsmuster.

I. Abschnitt

"When old technologies were new" - so betitelte die US-amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Carolyn Marvin ihr Buch über die Anfänge des Telefonwesens im späten 19. Jahrhundert.

Mit ihrem sehr griffigen Buchtitel machte sie darauf aufmerksam, wie fragwürdig der Begriff der neuen Medien ist. Seit es technische Substitutionsmöglichkeiten von personaler Kommunikation gibt, also spätestens seit dem optischen Flügeltelegraphen Anfang des 19. Jahrhunderts, gibt es immer wieder neue Medien. In der immer schneller und intensiver werdenden technologischen Dynamik von Industrialisierung und später Computerisierung entstehen permanent neue Medien. Diese gebären wiederum dauernd neue Medien - und neue Medien werden immer schneller zu alten Medien.

Wann immer es erneut neue Medien gibt, tauchen stets sehr ähnliche Begründungsmuster auf, warum sie entweder gut oder warum sie schlecht für die Menschen seien. Eines dieser typischen Muster ist beispielsweise der stets wiederholte Hinweis darauf, dass das neue Medium x die alte Kommunikationsform y zerstören würde. Die Begründungsmuster sind ihrer Zahl nach klein, sie erweisen sich als konstant und tauchen technologie- und mediengenetisch stets aufs Neue auf. Sport und Unterhaltung, Sexualität und Erziehung sowie das stete Versprechen der Technologieprotagonisten, dass das gerade jetzt neue Medium diese und jene körperliche Behinderung gut kompensieren könne, erweisen sich in diesem Sinne als die wichtigsten genetischen Muster. Stand der Sport Pate bei dem neuen Druckverfahren der Autotypie im letzten Jahrhundert, beim Beginn von Hörfunk, Fernsehen und Buntfernsehen, so galt der Hörfunk auch als ideales Medium für Kriegsblinde. Nun soll der PC helfen, Legasthenie und Autismus zu überwinden.

Von diesen sozialen Wirkmechanismen der Technologie- und Mediengenese ist der der Pädagogik sicherlich der verbreitetste und wirkmächtigste. Ob Hörfunk oder Fernsehen, Videokamera oder PC, Kino oder Internet: Stets und ständig wurde bei der Einführung jedes neuen Mediums argumentiert, dass nun die gesamte Erziehung revolutioniert werde, dass Erziehung ohne dieses neue Medium nicht mehr denkbar sei, dass die Schule gefordert sei, auf diesem Gebiet technisch und didaktisch auf- und nachzuholen - kurz, dass zur jeweils neuen Moderne dieses ebenfalls neue Medium einfach dazugehöre.

Auch die folgenden vier Argumentationsmuster wiederholten sich in diesen pädagogisch-technischen Debatten immer wieder: Das jeweils neue Medium soll

1. den Lehrenden von langweiliger Routinearbeit entlasten, ihm stattdessen mehr Möglichkeiten für persönliche Beziehungen zu seinen Schülern geben;

2. auf der Ebene des kognitiven Lernens zu weitaus größeren Lernerfolgen führen als alles bisher Bekannte;

3. zu erheblichen Kosteneinsparungen im Erziehungssystem führen;

4. - wieder einmal - besonders Raum übergreifend und als ideales Medium der Völkerverständigung zu einem Mehr an Toleranz und interkulturellem Lernen führen.

Gegenüber solch vollmundigen Versprechen sieht es in der Praxis sehr viel banaler aus. In der Form von Bibliotheken haben es die alten Medien wie Buch und Zeitschrift nicht geschafft, sich als Schulbibliothek in allen deutschen Schulen zu verankern; Filmbildstellen werden allerorten personell und finanziell ausgeblutet und spielen im Schulalltag kaum noch eine Rolle, und die Anfang der siebziger Jahre gepriesenen Sprachlabors und Computer-Unterstützten-Unterrichtsplätze (CUU) stehen heute als unbenutzte Technikruinen Raum verschwendend herum. Auch die zahlreichen internationalen Untersuchungen über Kosten, Ökonomie und Effizienz der neuen Medien aus den siebziger Jahren sind heute weitgehend noch immer unbekannt, obwohl sie so manche Euphorie der Gegenwart entlarven könnten.

"Die Mütter sind tiefinnerlich glücklich darüber, dass es ihnen mit Hilfe des Rundfunks gelingt, die heranwachsenden Kinder zu Hause von den verderblichen Einflüssen der Straße und der Vergnügungssucht fern zu halten." Dies zumindest meinte 1924 Hans Bredow, zunächst Vorsitzender im Telegraphentechnischen Reichsamt und dann Verwaltungsratsvorsitzender der Reichsrundfunkgesellschaft (bezeichnenderweise oft "Vater" des deutschen Rundfunks genannt); er stand mit dieser Meinung keinesfalls alleine dar. Bereits ein Jahr nach seinem Beginn strahlte der Hamburger Rundfunk 1924 spezielle Schulfunksendungen aus. Und nur weitere zwei Jahre später wurde in Berlin der "Deutsche Schulfunkverein" gegründet; schon nach nur zehnmonatiger Existenz hatte dieser Verein 2 000 Mitglieder. In rascher Folge richteten alle deutschen Radiosender ein Schulfunkprogramm ein, besonders in folgenden Bereichen: Deutsch, Volkskunde, Musik, Englisch, Französisch und Wirtschaftskunde. 1931 - nur acht Jahre nach Beginn des Rundfunks in Deutschland - wurden im damaligen Deutschen Reich 2 000 verschiedene Schulfunksendungen angeboten, und mehr als die Hälfte aller deutschen Schulen besaßen ein Rundfunkgerät. Kurz: Das Radio war zu "dem" pädagogischen Supermedium geworden, und Fortschritte in Lehren und Lernen wurden in weiten Kreisen daran gemessen, wie aktiv ein Lehrer den Schulfunk in seinen Unterricht integrierte.

II. Abschnitt

Technischer Fortschritt = sozialer Fortschritt = aktive Erziehung und Vorbereitung der Schüler auf das "richtige Leben": Solche Konzepte haben stets die Fortschrittsgläubigen aller politischen Ideologien untereinander geeinigt. Und da Entwicklung oft genug sehr ähnlich wie Erziehung definiert wird, ist der gesamte Komplex "Mediengenese und Erziehung" von ungemeiner Wichtigkeit gerade für alle neuen Medieneinführungen in den Entwicklungsländern. Noch zugespitzter wird man sagen können: Ohne Erziehungsideologie hätte der Westen in den letzten 60 Jahren keine einzige Medienabsatzstrategie in den Entwicklungsländern erfolgreich durchführen können.

Für die Geschichte der Medienentwicklungshilfe, der so genannten Development-Support-Communication, steht für diese Strategie geradezu paradigmatisch die Geschichte des Satellitenfernsehens in Indien. 1969 hatten die USA und die indische Weltraumforschungsorganisation einen Vertrag über ein Experiment abgeschlossen, das unter dem Namen "Satellite Instructional Television Experiment", kurz SITE genannt, damals internationales Aufsehen erregte. "Teacher-in-the-Sky" - so nannten die Inder gerne ihr Projekt - lief zwischen 1975 und 1976 in 2 400 indischen Dörfern, wurde dort in Schulen oder in anderen der Dorfgemeinschaft zugänglichen Gebäuden ausgestrahlt. Ein täglich vierstündiges TV-Programm wurde gesendet; morgens gab es propädeutisch-wissenschaftliche Programme für die Grundschulkinder, während sich das Abendprogramm aus Nachrichten, Erziehungsanleitungen für Landwirtschaft, Ernährung, Tierhaltung und Familienplanung zusammensetzte.

Das SITE-Projekt war ein voller Erfolg - nämlich ein voller technologischer Erfolg. Dieser technologische Erfolg war allerdings bereits im Budget vorprogrammiert: 70 Prozent der Kosten entfielen auf reine Technik. Von den verbleibenden 30 Prozent entfielen 18 Prozent auf die Technikkosten der Programmproduktion, nur neun Prozent auf die Programmproduktion selbst und weitere drei Prozent auf Begleitforschung (aber längst nicht nur sozialwissenschaftliche oder pädagogische).

War SITE auch ein pädagogischer Erfolg? US-amerikanische Erziehungswissenschaftler vom Educational Policy Research Center in Washington schrieben dazu leicht resignierend: "Dieses Projekt war ein einzigartiges Beispiel für den Druck, den die Hochtechnologie ausübt, um zur Anwendung zu gelangen. Dies allein deswegen, weil sie existiert." Und der südindische Kommunikationswissenschaftler Eapen K. Eapen kritisierte den Hardware-Fetischismus des SITE-Projektes in seinem 1979 erschienen Aufsatz "Pie in the Sky" (frei übersetzt: "Alles Gute kommt von oben") mit folgenden Worten: "Das SITE-Experiment war offensichtlich ein Mittel, um ein ganz spezifisches Ziel zu erreichen; das Mittel selbst war das Ziel."

Was ist aus dem Radio, was aus dem Schulfunk, nach nun knapp 80 Jahren geworden? In erster Linie geht es um Musik - und bei den privaten Radiostationen macht überwiegend angelsächsische Pop-Musik inzwischen rund 70 Prozent des Programms aus. Es geht ganz sicherlich auch um viel Werbung und Kommerz, um middle of the road-Geschmack, meistens um den so genannten Dudelfunk; es geht ferner um Zielgruppen- und Spartenradio, außerdem um Hintergrundradio, "Fahrstuhlmusik" und verschiedenartige "Musikteppiche". Es geht auch noch um ein bisschen Wort - aber möglichst nicht mehr als einen Zweieinhalb-Minuten-Kommentar (warnte doch einst schon Joseph Goebbels vor der "Verwortung" des Rundfunkprogramms). Was immer irgendjemand heute zum Thema Radio einfällt, die Pädagogik ist es sicherlich nicht - auch wenn das Radio ihr seinen Anfang zu verdanken hat.

Und wie sieht es heute mit dem Fernsehen in Indien aus - also knapp 25 Jahre nach dem SITE-Experiment? Da gibt es auf der einen Seite den drögen Staatsfernsehsender Doordarshan mit langweiligen Nachrichten, vielen Ministerköpfen und vorfahrenden Staatskarossen, Politansprachen ans Volk und die seit 1988 so erfolgreichen indischen soap operas wie "Ramayana" oder "Mahabharata", oder privates Fernsehen wie Zee TV mit seinem Programmschwerpunkt auf Entertainment für die indische Mittelschicht. Um Pädagogik geht es in der indischen TV-Landschaft schon lange nicht mehr. Im Jahre 1959 mit Hilfe der UNESCO gegründet, steht das indische Fernsehen zwischen damals und heute paradigmatisch für den Wechsel von Pädagogik zu Unterhaltung.

Und nun das Internet - wieder eine Mediengenese, wieder neue Medien, und wieder ist die Pädagogik gefragt. Und sie kommt daher in riesengroßen Schritten. Sie kommt in Deutschland als "Schulen ans Netz" - sie kommt aus den USA nach Afrika als "Virtual African University" der Weltbank und ist doch nichts weiter als eine internationale Markterweiterungsstrategie US-amerikanischer Universitäten. Während diese sich mit ihren (teuren) Diplomen auf dem afrikanischen Bildungsmarkt per Internet etablieren, kommen sie auf den deutschen Bildungsmarkt noch traditionell, also vor Ort und direkt, nämlich als "The American International University of Germany" in Schwäbisch-Gmünd (Maryland University), als "International University Bremen" (Rice University), als "German International Graduate School of Management and Administration" in Hannover (Purdue University) oder als "Fuqua School of Business" in Frankfurt (Duke University).

Genau in diesem Kontext plädierten Holger Baum, Klaus Boldt und Kambiz Ghawami in ihrem viel beachteten Memorandum über "Internet und der Süden" für eine breite Internetanwendung im pädagogischen Bereich der Nord-Süd-Beziehungen:

"Die Geberländer sollten prüfen, ob sie die Zugangskosten zum Internet für Bildungseinrichtungen künftig als Teil einer gezielten Budgethilfe im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit übernehmen können. Das würde die deutsche Zukunftsinvestition ,Schulen ans Netz' auf Afrika, Asien und Lateinamerika ausdehnen . . . Das Projekt ,Schulen ans Netz' könnte Schulklassen in Deutschland mit Schulklassen in Afrika, Asien und Lateinamerika an gemeinsame, fächerübergreifende Fragestellungen heranführen. So könnten alle von- und miteinander lernen."

"So könnten alle von- und miteinander lernen": Auch die TV-Programmproduzenten in Indien hatten gute pädagogische Absichten. Und auch der Schulfunk in der Weimarer Republik war von großem pädagogischen Eros getragen. Was also kann man von früher und von der Anwendung anderer Medien und Technologien für heute lernen? Verschiedenes:

- Historische Vergleiche helfen, die gegenwärtige Technikeuphorie zu relativieren.

- Zwar wird immer wieder schmerzhaft bewusst, dass jede Generation ihre eigenen Erfahrungen neu machen muss, doch kann man trotzdem aus der Geschichte Erfahrungen übernehmen. Zum Beispiel, dass der proklamierte pädagogische Nutzen der jeweils neuen Medien immer behauptet wird. Er ist ein Topos der Protagonisten des Neuen, und als Topos entzieht er sich jeder Empirie.

- Mediensysteme verändern sich durch Nutzungszusammenhänge, die anfangs nicht sichtbar sein konnten. Was als Kultur oder Erziehung beginnt, kann durchaus als Kommerz enden.

- Hersteller- und andere ökonomische oder politische Interessen sind legitim. Sie sollten aber nicht mit Pädagogik verwechselt werden. Pädagogik gründet in sich selbst, und Pädagogen sollten sich nicht als Erfüllungsgehilfen der Politik oder als nützliche Idioten der Ökonomie hergeben.

- Für die Entwicklungsländer (aber auch für uns) ist dringend eine Rückkehr zu Grundsatzfragen der Pädagogik geboten (nicht aber zu einer Reduktion auf Fragen ihrer technischen Vermittlung).

- Schon jetzt sprechen viele Indikatoren dafür, dass das Internet dominierend zu einem Medium und einer Infrastruktur des Spiels und der Unterhaltung (nicht aber der Pädagogik) wird. Und im ökonomischen Bereich sprechen sehr viel mehr Indikatoren dafür, dass es keinen richtigen e-commerce geben wird, wohl aber nur gut ausgebaute und differenzierte elektronische Warenhäuser und Supermärkte.

III. Abschnitt

Die Geschichte und Theorie der Pädagogik ist voll an widersprüchlichen, reichhaltigen, hoch entwickelten und spannenden Ideen und Debatten. Kreuz und quer durch diese Geschichte sollen hier einige dieser Ideen kurz präsentiert werden.

Dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) waren z. B. folgende Grundsätze für den Unterricht wichtig: Gründung allen Unterrichts auf Anschauung; Prinzip eines langsamen Fortschreitens vom Elementaren und Einfachen zum Schwierigen und Komplexen; Scheidung des Wesentlichen vom Zufälligen. Einhundert Jahre später argumentierte die Kunsterziehungsbewegung unter Führung von Alfred Lichtwark (1852-1914) völlig anders. Nur durch die Kunst könnten beim Menschen Sinne, Gefühl und auch Wissen entfaltet werden, nur durch sie könne menschliche Entwicklung und Erziehung stattfinden. Stellte dann der deutsche Pädagoge Georg Kerschensteiner (1854-1932) den Arbeitsbegriff und den der Handfertigkeiten in den Mittelpunkt seiner pädagogischen Theoriebildung, so entwickelte auf sowjetischer Seite der ukrainische Erzieher Anton Semjonowitsch Makarenko (1888-1939) seine Vorstellung darüber, dass jegliche Erziehung, welche die Herausbildung einer ausgereiften Individualität anstrebt, nur in einem sozialen Kollektiv erfolgen könne. Viele Jahre später heißt es Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Debatte um die Hessischen Rahmenrichtlinien des Kultusministeriums für die Sekundarstufe 1: "Oberstes Lernziel für eine demokratische Gesellschaft ist die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung."

Wenn man auf solche Debatten zurückblickt, wenn man die Reichhaltigkeit unterschiedlicher, ja kontroverser Ideen sieht, wenn man voller Erstaunen die philosophische Tiefe früherer Diskussionen zur Kenntnis nimmt, wenn man sieht, wie sehr pädagogische Ideen an verschiedenartige Gesellschaftsentwürfe und Menschenbilder gekoppelt sind, dann wird die geschwätzige Leere und Hohlheit der gegenwärtigen Debatte um das Verhältnis von Pädagogik und Internet deutlich. Daraus folgt: Eine pädagogische Neubestimmung ist gegenwärtig dringend nötig. Gebraucht wird eine engagierte, kontroverse und öffentliche Debatte um Lernziele, Schulorganisation, das Verhältnis von sozialem zu kognitivem Lernen und um die Funktion von Erziehung und Schule insgesamt. Eine solche Diskussion gibt es derzeit leider nicht, wohl aber eine um Haushalts- und Finanzpolitik, um Rationalisierung und globale volkswirtschaftliche Konkurrenz. Die Diskussion um die globale Konkurrenz von Kulturen und Werten hat gerade erst begonnen. Bei der hier geforderten Wende von einer technokratischen zu einer inhaltlichen Bestimmung über Aufgabe und Wesen gegenwärtiger Pädagogik müsste dann auch über das Internet zu reden sein. Aber nur im Zusammenhang mit einer solchen Wende wäre das sinnvoll, nicht ohne sie.

Pädagogische Diskussionen und Theorien sind normativer Natur. Solche Normen müssen benannt werden, und gegebenenfalls müssen auch sehr klare, eindeutige Scheidungs- und Trennungslinien zwischen unterschiedlichen Vorstellungen vorgenommen werden. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Pädagogik und Internet sollen im Folgenden zwei Positionen zu dieser Thematik referiert und kurz bewertet werden:

Bei der ersten handelt es sich um einen Essay mit dem Titel "Von der Marionette bis zum autopoietischen System. Maschinenbilder in der Pädagogik" der Hagener Erziehungswissenschaftlerin Käte Meyer-Drawe. Die Autorin legt dar, wie weitgehend technische Bilder seit der Renaissance das Bild des Menschen von sich selbst bestimmen - entweder beklagend oder begrüßend. Im Mittelpunkt pädagogischer Debatten stehe daher oft das Problem, ob Bildung, die in der Klassik in ausdrücklicher Abgrenzung zum Maschinalen bestimmt wurde, nicht aufgrund permanenter Distanzierung unbemerkt selbst einen technischen Grundzug angenommen habe. Weder solle man Maschinen als dem Menschen prinzipiell unterlegene Konkurrenten bagatellisieren, noch solle man sie als in sich perfekte "Existenzen" überhöhen. Meyer-Drawe fordert eine Überwindung der insbesondere in der Kulturtradition Deutschlands gepflegten Alternative: entweder Bildung oder Technik. Einer solchen Aufforderung ist nachdrücklich zuzustimmen.

Vor einem Hintergrund von Kritischer Theorie hieße diese Forderung die nach einer Versöhnung der Max Horkheimerschen Alternative von instrumenteller und humaner Vernunft. Freilich argumentiert Meyer-Drawe nur geistesgeschichtlich, nicht sozialwissenschaftlich, d. h., sie fragt nicht nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diese oder jene pädagogische Leitvorstellung begünstigen. Für die Gegenwart hieße das, die Frage zu stellen, ob eine immer kommerzialisiertere, marktkonformere und alle menschlichen Beziehungen in Warenform verwandelnde Gesellschaft überhaupt noch einen Platz für Bildung kennt, ob nicht vielmehr Technik - auch im weiteren Sinne - das dieser Gegenwartsgesellschaft eingebrannte Element von Pädagogik darstellt. Hatte Hartmut von Hentig einst von der Schule gefordert, dass sie sowohl auf das Leben vorzubereiten als auch vor dem Leben zu schützen habe , so stellt sich immer stärker die Frage danach, welchen Eigen- und Binnenraum pädagogische Teilsysteme noch haben, welche Autonomie sie besitzen, um vom Leben - von der Orientierung auf ökonomische und technische Effizienz - getrennt wirken zu können.

Die zweite Position kann mit der Überschrift " Computer statt Bildung" bezeichnet werden; so lautete der Titel des Leitartikels der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Februar 2000. Hier heißt es u. a.: " Computer und Internet gehören zu den unerlässlichen Arbeitsmaterialien der Schule. Daher ist die Ankündigung der Telekom, den Schulen für zwei Jahre den kostenlosen Zugang zum Internet zuzusichern, ein wichtiger Schritt. Sie bieten auch Lernprogramme, die weitaus attraktiver sind als manches Schulbuch, aber sie dürfen nicht zum eigenständigen Bildungsinhalt werden. Zu den größten schulpolitischen Irrtümern gehört die Vorstellung, an die Stelle mühsamen Wissenserwerbs könne die Vermittlung von Medienkompetenzen und Lernstrategien treten . . . Es ist unmöglich, allein in der Schule oder gar durch den Computer das Leben zu lernen."

Völlig gegen modische Trends plädiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit diesem Leitartikel auf ihrer Seite eins zu Recht für ein Lernen als geistige Arbeit und gegen müheloses "Surfen"; für erklärte Bildungsziele und gegen bloße Problemlösungsstrategien; für strukturiertes Wissen und gegen beliebigen Informationsmüll und schließlich für einen Lehrer als lebendigen und widersprüchlichen Wissensvermittler und gegen einen bloßen Lernberater. Dieser Artikel ist ein Plädoyer gegen jeglichen Bildungsutilitarismus und für individuelle Lernautonomie. Für jegliches Lernen sei die Fähigkeit unerlässlich, "reflektierte Erfahrungen mit dem Gelernten selbständig in Verbindung zu setzen und damit zu einer persönlichen Bildung zu gelangen, die mit dem abgenutzten Wort der Schlüsselqualifikation nur unzureichend beschrieben ist" .

Mag man auch mit Rückblick auf die großen kontroversen pädagogischen und bildungspolitischen Diskussionen der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit diesem Leitartikel einen reduzierten, weil bildungsbürgerlichen Bildungsbegriff vorhalten und mag und muss man vielleicht auch darauf hinweisen, dass Vorstellungen von dem, was soziales Lernen sein könnte, in diesem Artikel völlig fehlen, so ist dennoch positiv festzuhalten, dass es hier um eine pädagogische Neubesinnung inmitten einer Fülle von Bildungstechnologien samt Bildungsbürokratien geht.

Die beiden dargestellten Positionen und Argumente von Käte Meyer-Drawe und Heike Schmoll führen zu folgender These: An einigen wenigen Stellen hat die geforderte Grundsatzdiskussion über das Verhältnis der Pädagogik zu Computer und Internet begonnen; sie ist zu intensivieren und auszudehenen. Bei dieser Diskussion sind Philosophen, Pädagogen, Geistes- und Sozialwissenschaftler gefordert. Informatiker - besonders die gutmeinenden - sind mit dieser Debatte völlig überfordert.

IV. Abschnitt

Im Oktober 2000 wurde am Bodensee das neu gebaute Salem College eröffnet. Auf der Eröffnungsveranstaltung dieser wohl elitärsten und leistungsorientiertesten privaten Bildungseinrichtung in Deutschland sprach u. a. Eberhard von Kuenheim, der frühere Aufsichtsratsvorsitzende von BMW. Über seine Rede hieß es in der Presse: " Charakter, hat Hartmut von Hentig einmal kurz und bündig festgestellt, ist Widerstand. Nach den Modetorheiten der Pädagogen, die von der Schule ohne Lehrer träumten, halten es die Bildungspolitiker jetzt für den allerletzten Schrei, die Schulen ans Netz zu bringen. Für diese Leute, für die sich Bildung darin erschöpft, Laptops bereitzustellen und das Internet einzurichten, hatte von Kuenheim nur milden Spott übrig. Natürlich gehört der Computer heute auch in der Schule dazu; Erziehung meint aber mehr, Bildung erst recht." Wer wie die Salem-Schule an einem elitären Bildungsauftrag festhält, hat also ganz klug verstanden, dass eine Eliteerziehung auf Computer und Internet unter pädagogischen Aspekten - nicht aber instrumentell - durchaus verzichten kann, eventuell sogar verzichten muss.

Während Alt- und Geldadel, während Führungskräfte der Wirtschaft sowie konservative Kultur- und Bildungstheoretiker daran festhalten, dass der pädagogische Verzicht auf das Internet sinnvoll sei, um sich adäquat auf gesellschaftliche Führungsaufgaben vorzubereiten, gibt es bei einem anderen Drittel der Gesellschaft einen zwangsweisen Ausschluss vom Netz der Netze. Wie der Physik-Didaktiker und Informatiker Klaus Haefner schon 1982 schrieb, wird das so genannte Computerzeitalter die Kluft zwischen einer politisch-ökonomischen Elite und der großen Masse der Bevölkerung verstärken; Haefner nennt sie freiwillig-unfreiwillig zynisch "Autonome" und "Substituierbare". Das Internet, und da ist der Logik bei Salem und BMW zuzustimmen, wird die elektronische Spielwiese für die "Substituierbaren" werden, und ihnen muss ein öffentliches Schulsystem deswegen auch immer weniger Erziehung oder gar Bildung anbieten. Muss es das aber wirklich? Was Haefner die "Substituierbaren" nennt, erscheint bei Systemtheoretikern wie Helmut Willke und Heinz Bude als "unterstes und hoffnungsloses Segment", oder gar als Population der "Überflüssigen".

Zwischen dem Drittel, welches das Internet nicht nutzen will, und dem Drittel, das es nicht nutzen kann, verbleibt als mittleres Drittel das der aktiven Internetnutzer - vornehmlich männlich, unverheiratet, jung, an Technik interessiert, überdurchschnittlich reich und formal überdurchschnittlich gut ausgebildet. Es passt zu dieser Aufteilung, dass die ARD/ZDF-Online-Studie 2000 zu folgendem Ergebnis kommt: Zwar sind nach rasanten Zuwachsraten in den letzten Jahren inzwischen rund 20 Millionen Erwachsene in Deutschland "online", d. h. knapp 30 Prozent aller Bundesbürger über 14 Jahre, doch wird sich dieser Trend nicht linear fortsetzen. Der Anteil der "Onliner" wird sich mittelfristig bei etwa 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung einpendeln. Mit anderen Worten: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung bleibt in absehbarer Zeit vom Internet abgekoppelt; dieser Teil der Bevölkerung sieht im Internet entweder ein zu schwierig zu nutzendes Medium oder keinerlei Nutzwert für sich.

Was folgt aus diesen Überlegungen einer schichtenspezifischen Nutzung des Internets, was folgt insbesondere daraus für die Pädagogik? Internet wird zum klassischen Medium der Informationsverarbeitung für den sozialen main stream werden, das vor allem die Realschulen und die Gymnasien erfassen wird. Dort vermittelte Lerninhalte und -formen orientieren sich an einem instrumentellen Verständnis von Gesellschaft, dem es um eine Zunahme von Effizienz, Leistungssteigerung, Rationalisierung und Affirmation geht. Demgegenüber wird die Mischung aus selektiver Nutzung gedruckter und teurer elektronischer Spezialinformation eine kleine Elite im Privatschulbereich dazu befähigen, über den main stream Herrschaft auszuüben. Ob sich der Hauptschulbereich jenseits irgendeiner medialen Sozialisation subversiv, angepasst, gewaltbereit oder aufmuckend verhalten wird, ist sicherlich eine offene Frage.

V. Abschnitt

Der Begriff der Erziehung hat große Ähnlichkeit mit dem der Entwicklung. Wenn Erziehung das Befähigen und Motivieren zu einem Mehr an Selbst- und Mitbestimmung meint, dann meint Entwicklung etwas sehr Ähnliches. In Anlehnung an die frühen Arbeiten von Dieter Senghaas zielt Entwicklung auf Autonomie und nichtdiskriminierende internationale Arbeitsteilung; sie strebt ein Akkumulationsmodell an, in dem die Produktion von Produktionsmitteln und die Produktion von Mas- senkonsumgütern über einen sich revolutionierenden landwirtschaftlichen Sektor vermittelt wird. Entwicklung muss die Förderung struktureller Homogenität und die Herausbildung endogener und kohärenter Wirtschaftskreisläufe zum Ziel haben.

Vor dem Hintergrund eines solchen Entwicklungsverständnisses ist in Übereinstimmung mit dem UNDP-Report 1999 festzuhalten, dass Internet-Benutzer weltweit eine kleine elitäre Enklave darstellen; mehr noch: Internet-Benutzer in der Dritten Welt sind eine Enklave in der Enklave. Damit ist nicht gesagt, dass es unsinnig sei, den Ausbau des Internets in den Entwicklungsländern zu fördern; es bleibt nur festzuhalten, dass dies ein Förderungskonzept für die dortigen Eliten ist. Ob freilich Elitenförderung sinnvoll oder unsinnig ist, hat mit dem Internet nichts zu tun, sondern mit generellen Entwicklungsstrategien.

Elitenförderung ist eines der beiden Grundsatzprobleme bei einer Diskussion um den Zusammenhang zwischen Internet und Entwicklung, und die Frage nach bildungspolitischen Prioritäten in der Dritten Welt ist das zweite Grundsatzproblem. Bei einer ansteigenden Zahl von Analphabeten in der Dritten Welt (z. Zt. etwa eine Milliarde Menschen) und bei rund 100 Millionen "funktionalen" Analphabeten in den nördlichen Industrieländern, ferner bei etwa 260 Millionen Kindern in der Dritten Welt, die weder eine Primar- noch eine Sekundarschule besuchen, sowie angesichts einer weiter ansteigenden Kluft zwischen der Zahl von Hochschulabgängern im Süden und im Norden ist die Frage nach prioritären bildungspolitischen Maßnahmen nicht nur legitim, sondern vielmehr zwingend notwendig. Anders formuliert: Stellt man diese Frage nicht oder setzt mit knappen Ressourcen auf eine einseitige Förderung beim Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien in den Entwicklungsländern, nimmt man von Anfang an weitere strukturelle Heterogenitäten in Kauf.

Ob der Einsatz und der Ausbau des Internets für Bildung und Erziehung in der Dritten Welt sinnvoll ist oder nicht, kann also weder allein technologisch noch allein pädagogisch beantwortet werden. Eine Antwort auf diese Frage kann sinnvollerweise nur im Zusammenhang mit explizit zu formulierenden Zielen von Entwicklung gegeben werden. In Anlehnung an den positiven Entwicklungskreis von Roy Preiswerk sind daher fünf Fragen zu formulieren:

- Befriedigt Internet die Grundbedürfnisse, auch die der nichtmateriellen Art, also religiöse, spirituelle, mentale und kulturelle Bedürfnisse?

- Trägt Internet zur Bewahrung oder Wiedergewinnung von Identität und Autonomie bei?

- Ermöglicht Internet den Widerstand oder zumindest eine partielle Loslösung von den Herrschaftsstrukturen des internationalen Systems? Fördert es also (Teil)-Autonomie und (zumindest ansatzweise) Selbstbestimmung?

- Fördert das Internet gebrauchswertorientierte Produktion?

- Werden mit Internet Ressourcen besser, d. h. gerechter verteilt als vorher?

VI. Abschnitt

Mit dem Modell des so genannten Dritten Weges hat sich die europäische Sozialdemokratie mit dem marktkonformen Neoliberalismus versöhnt. Diesem haben auch Grüne, so genannte Alternative und viele Nicht-Regierungsorganisationen oft nichts mehr entgegenzusetzen. Auch die Krise der großen konservativen Volksparteien in Europa ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sie ihre eigentlich konservative Klientel nicht mehr ernst nimmt und stattdessen einem Marktkonformismus huldigt, der eigentlich dem ideologischen Umfeld der Liberalen entstammt. In der Kultur- und Bildungspolitik zeigt sich die Versöhnung der Sozialdemokratie mit Marktmodellen u. a. dort, wo es um eine so genannte public-private-partnership geht, wo der Einzug von Werbung in den öffentlichen Raum von Schule als realitätsadäquat definiert wird, wo die Privatisierung von bisher öffentlichem Theater und Musikschulen fälschlicherweise und historisch blind als Zunahme an Freiheit, Eigenständigkeit, Autonomie und Verwaltungsreform erscheint.

In dieser Situation war es Bernhard Freiherr von Loeffelholz, Geschäftsführer des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der für den Raum Kultur einen marktfreien Raum forderte, einen " contrat culturel": "Wenn wir die Welt aktiv mitgestalten wollen, müssen wir neben dem Marktwert noch andere Werte erkennen und verteidigen. Wir müssen die moralische und intellektuelle Kraft aufbringen, Grenzen zu ziehen zwischen käuflichen und unveräußerlichen Werten . . . Kunst und Kultur dürfen weder machtpolitisch vereinnahmt noch wirtschaftlich instrumentalisiert werden."

Wenn schon diese Argumentation über die Bedeutung von Werten bei einer Sozialdemokratie des so genannten Dritten Weges gegenwärtig kaum noch zu finden ist, dann muss sie offenbar eben über den Umweg des BDI formuliert werden. Und ganz sicherlich geht es auch beim Internet nicht nur um e-commerce, sondern auch um Kultur. Es gibt vielfältige Zwänge und globale Mechanismen, die alle darauf hinauslaufen können, dass auch das Internet zu einer großen Kulturhomogenisierungsmaschine werden könnte (Sprache, Nicht-Reziprozität weltweiter Informationsflüsse, Dominanz der von den Industrieländern dominierten Forschung), zur "pensée unique". Mit Pierre Bourdieu und vielen anderen Intellektuellen in Frankreich - und in Deutschland offensichtlich mit dem BDI - ist hartnäckig und weiterhin eine "exception culturelle" jenseits vom Markt anzustreben, als ein der Kultur autonom belassener Raum, der sich keinem Marktgesetz unterordnet, unterordnen muss.

Eine solche Diskussion über die Notwendigkeit marktfreier Räume gilt insbesondere auch für den Bereich der Erziehung und Bildung, und dies verstärkt im Kontext internationalen Rechts, da marktkonforme Umgestaltungen des deutschen Bildungssystems sowohl von der EU als auch der Welthandelsorganisation (WTO) her drohen. Gerade diese beiden Institutionen arbeiten verstärkt auf eine Liberalisierung der so genannten Dienstleistungsbranche hin. In einer Stellungnahme der Bundesregierung vom Juli 2001 heißt es explizit, dass sich die Verhandlungen über Dienstleistungen in der im November 2001 in Katar beginnenden WTO-Verhandlungsrunde auf "alle vom Anwendungsbereich des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungssektoren und -erbringungsarten" betroffenen Sektoren beziehen, also auch auf das Bildungs- und Gesundheitswesen. Da bei allen Liberalisierungen des Welthandels außerdem immer mehr das Prinzip der Gegenseitigkeit greifen soll, muss Deutschland auch im Bildungswesen - und sei es noch so öffentlich strukturiert - seinen "Binnenmarkt" immer mehr für ausländische Anbieter öffnen, also gerade auch für solche aus den USA, deren Bildungswesen überwiegend privat organisiert ist.

Sind solche Fragen bereits kompliziert genug, so verschärfen sie sich vollends, überträgt man sie auf die virtuelle Ebene des Internets. Denn per Internet ist die Frage von Marktöffnung "ja" oder "nein" nicht mehr zu stellen; die Internet-Realität ist transnational. Umstritten ist zwischen den USA und der EU nur noch die Frage, wie weit und wie tief der internationale Internet-Handel zu liberalisieren sei. Die USA sähen es am liebsten, wenn der gesamte Internet-Verkehr völlig unreguliert bliebe, selbstverständlich auch bei e-education, e-instruction und e-universities.

Jeremy Rifkin hat in seinem jüngsten Buch die kulturellen Bedingungen und Verwerfungen einer möglichen Internet-Ökonomie analysiert. Er sieht einen digitalen Turbokapitalismus auf die reichen Länder des Nordens zukommen, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft (Kapital, Arbeit, private Lebenswelten) kontrolliert und der alle Menschen in Konsumenten verwandeln wird. Er sieht die gleiche kulturelle Kolonialisierung auf uns zukommen, von der viele vor ihm bereits gesprochen haben - so z. B. Karl Marx, Rosa Luxemburg, Karl Polany, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse. Nach Rifkin kündigt das Internet die Möglichkeit eines neuen Totalitarismus der Ökonomie an, ein totales Herrschaftssystem auf neuer technischer Grundlage, das den lebendigen Menschen die allerletzten Reste nichtkommerzieller Beziehungen wegnimmt und sie dem totalen Zugriff der Ökonomie aussetzt. Soll das das letzte Wort sein?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Carolyn Marvin, When old technologies were new. Thinking about electric communication in the late nineteenth century, New York 1998.

  2. Vgl. z. B. UNESCO, The economics of new educational media, 2 Bde., Paris 1977, 1980.

  3. Zit. nach Klaus Klöckner, Schulfunk, in: Klaus Doderer u. a. (Hrsg.), Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 3, Weinheim 1979, S. 318.

  4. Educational Policy Research Center (Hrsg.), Instructional Television: A Comparative Study of Satellites and other Delivery Systems, Washington 1976, S. 45.

  5. Eapen K. Eapen, Pie in the Sky, in: Seminar (New Delhi), März 1979, S. 37.

  6. Holger Baum/Klaus Boldt/Kambiz Ghawami, Der Handel mit Informationen wird zum Wettbewerbsfaktor. Welche Chancen bringt das Internet dem Süden?, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Januar 1999, S. 9.

  7. Käte Meyer-Drawe, Von der Marionette bis zum autopoietischen System. Maschinenbilder in der Pädagogik, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 71 (1995), S. 358-374.

  8. Vgl. Hartmut von Hentig, Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die neuen Medien, München 1984.

  9. Heike Schmoll, Computer statt Bildung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung von 14. Februar 2000, S. 1.

  10. Ebd.

  11. Konrad Adam, Freiheit beginnt in der Schule, in: Die Welt vom 20. Oktober 2000, S. 4.

  12. Vgl. Klaus Haefner, Die neue Bildungskrise. Herausforderungen der Informationstechnik an Bildung und Ausbildung, Basel 1982.

  13. Vgl. zu solchen zynischen Analysen die kritische Arbeit von Heinz Steinert, Die Diagnostik der Überflüssigen, in: Mittelweg 36, (Oktober/November 2000), S. 9-17.

  14. Vgl. Birgit von Eimeren/Heinz Gerhard, ARD/ZDF-Online-Studie 2000: Gebrauchswert entscheidet über Internetnutzung, in: Media Perspektiven, (2000) 8, S. 338-349.

  15. Vgl. Dieter Senghaas, Zur Diskussion von Entwicklungsbegriffen, in: Entwicklung + Zusammenarbeit, (1975) 1, S. 13 f.

  16. Vgl. UNDP, Bericht über menschliche Entwicklung 1999, Bonn 1999, S. 74.

  17. Vgl. Roy Preiswerk, Kulturelle Identität, Self-Reliance und Grundbedürfnisse, in: Das Argument, (1980) 120, S. 167-178.

  18. Bernhard Freiherr von Loeffelholz, Ein " Contract Culturel" zur Aktivierung einer europäischen Wertegemeinschaft, in: Kulturpolitische Mitteilungen, (1997) 4, S. 20.

  19. Vgl. Pierre Bourdieu, Ökologie der Kunst. Benutzen Medien die Macht, um das soziale Universum der Kultur zu zerstören, das über acht Jahrhunderte aufgebaut wurde?, in: Die Tageszeitung vom 26. Oktober 1999, S. 15 f.; ders., Kultur in Gefahr, in: Der Standard vom 17. Januar 2001, S. 8 f.

  20. Vgl. Peter Wahl, Dienstleistungen im Visier. Die GATS-Gespräche in der Welthandelsorganisation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2001) 10, S. 1206-1217.

  21. Vgl. Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/M. 2000.

Dr. phil., geb. 1946; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg und Geschäftsführer des KomTech-Instituts für Kommunikations- und Technologieforschung in Solingen.

Anschrift: KomTech-Institut, Augustastr. 18, 42655 Solingen.
E-Mail: joerg.becker@wupperonline.de; www.komtech.org

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Sankaran Ramanthan) Internet in Asia, Singapur 2001; (Hrsg. zus. mit Daniel Salamanca) Fernsehen in Asien, Wien 2001 (i. E.); Information und Gesellschaft, Wien 2001 (i. E.)