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Die muslimische Welt und der Westen | Der Islam | bpb.de

Der Islam Editorial Ein arabisches Dilemma Die muslimische Welt und der Westen Der Islam als Faktor in der internationalen Politik Der Islam in der arabischen Welt Zum "peripheren Islam" in Südostasien Der Islam im subsaharischen Afrika Macht und Glauben in Zentralasien

Die muslimische Welt und der Westen

Salwa Bakr Basem Ezbidi Dato` Mohammed Jawhar Hassan Fikret Karcic Hanan Kassab-Hassan Mazhar Zaidi Mazhar Dato` Mohammed Jawhar / Fikret Karcic / Hanan Kassab-Hassan / Zaidi Basem / Hassan Salwa / Ezbidi Bakr

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Erwartungen des Islam an den Westen werden aus der Sicht von Autorinnen und Autoren aus sechs muslimischen Ländern dargestellt. Bemerkenswert an den Ausführungen ist, dass sie ungeachtet unterschiedlicher historischer Hintergründe zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen gekommen sind.

Einleitung

Dieser Bericht erscheint zu einem Zeitpunkt, da sich eine weitere Abfolge tragischer Ereignisse in der Geschichte der Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen vollzieht. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben nicht nur die USA traumatisiert, sondern kennzeichnen zugleich den Beginn eines neuen Zeitalters. Ihnen folgte die Kampagne gegen den internationalen Terrorismus, der Angriff auf Afghanistan, der Krieg gegen den Irak und dessen Besetzung und schließlich die Drohungen der USA gegen Syrien und den Iran.







Obwohl kein einziges dieser Ereignisse offiziell vom "Islam" oder dem "Westen" an sich zu verantworten war, sondern von ganz bestimmten Akteuren aus der muslimischen und der westlichen Welt, haben sie dennoch dazu beigetragen, den bereits bestehenden Riss zwischen beiden Seiten zu verbreitern. Die jetzige instabile Situation zeigt auf dramatische Weise die Notwendigkeit sowohl für die muslimischen als auch für die westlichen Gesellschaften, die sie trennenden Fragen und die Faktoren, die zu Missverständnissen, Spannungen und Konflikten führen, zu begreifen.

Diese Veröffentlichung zeichnet sich anderen gegenüber dadurch aus, dass sie eine muslimische Perspektive auf die Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen darstellt. Sie verkörpert die Arbeit von sechs Intellektuellen - drei aus dem Nahen Osten, einer aus Europa, zwei aus Süd- bzw. Südostasien. Diese Frauen und Männer haben ganz verschiedene historische, kulturelle, ethnische und sprachliche Hintergründe. Auch vertreten sie völlig verschiedene Disziplinen. Während der gemeinsamen Arbeit an diesem Bericht war es für sie alle überraschend festzustellen, dass sie eine bemerkenswerte Ähnlichkeit in ihren Auffassungen über grundlegende Fragen teilen, welche die Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen charakterisieren.







Faire, ausgewogene Interaktion zwischen zwei Seiten kann dem wechselseitigen Verständnis Impulse geben und es stärken, es kann Frieden und Zusammenarbeit erleichtern. Damit ein solcher Dialog aber die beabsichtigten Ziele erreicht, muss er von der Prämisse ausgehen, dass keine Seite gezwungen ist, ihr Denken oder Verhalten von vornherein aufzugeben. Beides muss wechselseitig als prinzipiell nützlich und legitim akzeptiert werden, auch aus der Sicht der anderen Seite. Die Frage stellt sich dann nicht mehr, wer besser oder überlegener ist, sondern eher: Wer anerkennt und akzeptiert den anderen in seinem Bestreben, sein Selbst darzulegen und auszudrücken? Ein solches Dialogverhalten würde das jeweils andere Denken und Verhalten bereichern und stärken. Unter solchen Bedingungen wäre der Dialog hoffentlich in der Lage, negative Wahrnehmungen und Stereotypen abzubauen, die Feindseligkeit und ablehnende Haltung durch Verständnis und Kooperation zu ersetzen. Dieser Bericht ist unser Beitrag, einen solchen Dialog anzuregen.

I. Die Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen

In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben sich Seminare, Konferenzen und die politikwissenschaftliche Forschung in der Regel mit dem Ost-West- oder dem Nord-Süd-Konflikt befasst. Aber noch vor dem 11. September 2001 kam eine andere Wahrnehmung grundlegender politischer und kultureller Widersprüche auf - die muslimische Welt wurde dem Westen gegenübergestellt, ein "clash of civilizations" postuliert. Der Hintergrund dieses wahrgenommenen Konflikts, der auf religiösen und kulturellen Kriterien beruht, ist nicht nur kompliziert, sondern auch problematisch. Einer der Gründe dafür ist der Gebrauch einer mehrdeutigen Terminologie.

Die Beschreibung der muslimischen und der westlichen Welt als zwei sich gegenüberstehende und widersprechende Pole schafft eine dualistische Interpretation der Beziehung, die viele Facetten oder Ausnahmen außer Acht lässt. Im Grunde ignoriert sie die innere Heterogenität auf beiden Seiten. Sie missachtet aber auch die grundlegende Tatsache, dass "Kulturen" und Gesellschaften keine festen, dauerhaften Gebilde sind, sondern sich in einem Zustand permanenter Veränderung befinden. Auch berücksichtigt diese Beschreibung nicht die allgegenwärtige Vermischung, die ständigen Überschneidungen und Gemengelagen unter den Kulturen.

Was ist der Westen? Handelt es sich bei ihm um eine Welt, in der nur reine Europäer in der gemeinsamen christlichen Tradition leben, im Gegensatz zu einer ethnisch und religiös anderen, muslimischen Welt? Da die westlichen Länder die Heimat von Millionen von muslimischen Migranten aus Asien und Afrika sind - viele von ihnen besitzen eine europäische Staatsbürgerschaft -, verliert die Aufteilung ihre Schärfe. Viele dieser Einwanderer haben sich die westliche Lebensart angeeignet, sich assimiliert und sind ein Teil von ihr geworden. Zudem haben die muslimischen Migranten die westlichen Gesellschaften beeinflusst. Ihre Traditionen, ihre Kunst und ihre Küche wurden allmählich zu kulturellen Elementen im Alltag in Europa und in den Vereinigten Staaten. Wir sollten auch nicht die Einflüsse der islamischen Zivilisation auf die westliche Kultur in früheren Jahrhunderten vergessen: Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie in Europa wären nicht auf ihrem heutigen Stand ohne die arabischen Anregungen im Laufe der Jahrhunderte. Sogar die antike Philosophie, ein Symbol der "westlichen Kultur", wurde in Europa nur über die Werke muslimischer Gelehrter aufgenommen. Was ist der Westen für uns? Ist es das Christentum? Ist es Säkularisierung oder Atheismus? Ist es ein Symbol der Macht oder der ökonomischen Effizienz? Wird der Westen durch die Aufklärung und die Menschenrechte vertreten? Oder durch Faschismus, Rassismus und den Holocaust - oder durch all das? Definieren wir den Westen über seine Kunst und Kultur, sein Konsumdenken oder seine Technologie? Als homogene Einheit existiert der Westen nicht; er ist eine vage Vorstellung voller Widersprüche.

Aus demselben Grund können wir nicht von einer reinen, klar definierten muslimischen Gesellschaft sprechen, die von der westlichen Zivilisation und Kultur nicht beeinflusst wäre. Die modernen Kommunikationsmittel haben westliche Einflüsse sogar bis in solch konservative muslimische Gesellschaften wie Saudi-Arabien hineingetragen. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass die muslimische Welt in sich genauso heterogen und von inneren Widersprüchen gekennzeichnet ist wie der Westen.

Gibt es eine eindeutige Trennungslinie, die die industrialisierte westliche Welt von den sich entwickelnden muslimischen Ländern unterscheidet? Wenn die Medien den Westen der muslimischen Welt gegenüberstellen, dann sind die Bilder Letzterer häufig von Rückständigkeit geprägt, von religiösem Fanatismus, Unterdrückung, fehlenden Freiheiten und Menschenrechten vor allem für die Frauen. Das öffentliche Bild wird sogar noch negativer, wenn die gängige Assoziation zwischen Islam und Terrorismus hinzugefügt wird. Im Westen werden die Muslime zunehmend als Barbaren gezeichnet, wobei die wichtige Rolle, die ihre Zivilisation in der Entwicklung der Menschheit gespielt hat, ignoriert wird.

Auch wenn diese westliche Wahrnehmung in bestimmter Hinsicht einen Kern von Wahrheit beinhalten mag, so bleibt sie dennoch eine ungerechte Verallgemeinerung. Wenn sie immer wieder tagtäglich von den Medien und konservativen politischen Führern und Intellektuellen verbreitet wird, dann mutiert sie zu Stereotypen und Vorurteilen. Rassismus und Feindseligkeit gegen all die, die der muslimischen Welt angehören, werden geschürt, ohne dass unterschieden würde zwischen denen, die bewusst gewalttätige Haltungen pflegen, und jenen, die vor Ort unter deren Folgen zu leiden haben.

Es gibt keine klar definierte muslimische Welt. Der Versuch, sie zu definieren, führt zu vagen Allgemeinheiten, vernachlässigt die Unterschiede, Widersprüche und inneren Konflikte. Der Ruf zur Wiedererrichtung der islamischen "Umma", wie sie einmal war, hat lediglich die "Organisation Islamischer Staaten" hervorgebracht. Insofern können wir nicht von der Existenz einer monolithischen Kraft namens "muslimische Welt" ausgehen, die man als Bedrohung für den wirtschaftlich und militärisch viel stärkeren Westen betrachten könnte.

Die muslimische Welt ist auch keine geographisch zu definierende Einheit. Vielmehr handelt es sich um eine lose Gruppierung wie andere auch, die sich innerhalb der blockfreien Länder oder aus der Dritten Welt herausgebildet hat. Wir würden sogar behaupten, dass das Band des Nationalismus in der muslimischen Welt stärker und weiter verbreitet ist als das der Religion.

Gerade dieser Gesichtspunkt muss in Bezug auf Länder wie Irak und den Iran betont werden. Beide sind muslimische Länder, haben aber ihre eigenen nationalen Interessen, die sie durch einen langen, blutigen Krieg durchzusetzen versuchten. Ein weiteres Beispiel: Iran hat sich im Kaschmirkonflikt auf die Seite Indiens geschlagen und nicht Pakistan unterstützt, das auch ein muslimisches Land ist. Viele Beispiele zeigen, dass politische Bindungen und Ideologien sich über religiöse Gemeinsamkeiten hinwegsetzen.

Es ist wahr - die Beziehung zwischen den Muslimen und dem Westen scheint auf einen Kollisionskurs hinzusteuern, wie die Gewalt und die Kriege der letzten zwei Jahre vermeintlich belegen. Aber die tatsächlichen politischen und ökonomischen Beziehungen sind viel komplexer. Zwischen verschiedenen Ländern der muslimischen Welt und Europa sowie den Vereinigten Staaten besteht ein intensiver Handelsaustausch. Sogar sehr konservative muslimische Länder wie Saudi-Arabien haben keine Vorbehalte, ihr Geld im Westen zu investieren, mit westlichen Ländern zu kooperieren und sogar US-Soldaten bei sich aufzunehmen. Das zeigt, dass die westlich-muslimischen Beziehungen nicht zuallererst durch Religion oder Ideologie motiviert sind.

II. Die jetzige Konfrontation

Die offensichtliche westliche Feindseligkeit gegenüber den muslimischen Ländern ist nicht Ergebnis ihrer religiösen Orientierung. Die Gründe zur Ablehnung eines Beitritts der Türkei zur EU sind vor allem wirtschaftlicher Art. Das umfasst auch die Migrationsproblematik. Auch erfüllen die nationalen Gesetze der Türkei noch nicht die demokratischen Kriterien Europas. Nur in geringem Maße ist die Religion der Türkei, der Islam, ein Faktor. Sogar die Vereinigten Staaten, die heutzutage den Muslimen ziemlich feindlich gesonnen sind, richten ihre Politik gegenüber anderen Nationen, ethnischen Gruppen und Religionen vor allem nach ihren strategischen Interessen, nicht nach religiöser Zugehörigkeit aus. So haben die USA zugunsten der muslimischen Bosnier gegen die christlichen Serben interveniert. Die Ursachen für den Angriff der USA gegen Afghanistan waren weder der Islam noch die Muslime, sondern sie waren geopolitischer Natur. Die Losung lautete: Kampf dem Terrorismus. Früher hatten die USA sogar die islamischen "Mudjahedin" und ihren Djihad gegen die Sowjetunion unterstützt. Der Irak bildet hier keine Ausnahme, denn die USA haben das Land wiederholt bedroht und sind sogar dort einmarschiert, obwohl es ein säkularer Staat ist - also nicht wegen der muslimischen Bevölkerung, sondern aus politischen Gründen.

Ein Element des Konflikts zwischen der muslimischen und der westlichen Welt entspringt einer Dichotomie in der Denkweise zwischen Fanatikern und Aufklärern auf beiden Seiten. Dieser Konflikt zwischen Offenheit und Intoleranz ist nicht auf die muslimische Welt beschränkt. Er existiert in fast allen Religionen. Die Intoleranz, die die islamistischen, fundamentalistischen Bewegungen vertreten, ist durchaus vergleichbar mit einem ganz ähnlichen Fanatismus unter den fundamentalistischen Kirchen in den Vereinigten Staaten oder bei jüdischen Extremisten innerhalb und außerhalb Israels. Wir können zurzeit beobachten, wie dogmatische religiöse Positionen die internationalen Beziehungen beeinflussen. Wir sehen auch, dass sie Hass unter den Religionen und in der Bevölkerung innerhalb von Nationen säen sowie auf globaler Ebene unter den Völkern in der ganzen Welt. Solche bösartigen Gefühle sind nicht leicht einzudämmen, da sie eine Form absoluter Ablehnung des Anderen beinhalten, der als Feind betrachtet wird, der auszurotten ist. Das ist ein gravierendes Problem, das von den muslimischen und westlichen Gesellschaften geteilt wird.

III. Wichtige Fragen

Die Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen korrelieren heute grundlegend mit bedeutsamen politischen Themen, die primär Folgendes umfassen: die Palästinafrage und die Haltung des Westens im arabisch-israelischen Konflikt; die Irakfrage - der Krieg gegen den Irak und seine Besetzung durch amerikanische und britische Truppen; die potenziell gefährlichen Szenarien, die in den USA öffentlich diskutiert werden und Pläne für weitere radikale Veränderungen in der Region enthalten, einschließlich Drohungen gegen Syrien und den Iran; weitere, verschiedene Probleme, die muslimische Regionen betreffen: der innere Kampf um Reformen im Iran, die Situation auf dem Balkan (die Kosovofrage und der mazedonisch-albanische Konflikt), Tschetschenien, Kaschmir, Afghanistan, die Lage der Muslime in China und schließlich die Bemühungen der Türkei und der muslimischen Staaten auf dem Balkan, Mitglieder in der EU zu werden.

Um die muslimisch-westlichen Beziehungen realistisch beurteilen zu können, ist es unabdingbar, die Unterschiede zwischen den verschiedenen westlichen Mächten zu beachten. Wir müssen zwischen den USA und den Ländern der EU differenzieren und die Unterschiede innerhalb Europas anerkennen, so z.B. zwischen denen, die ihre engen Bindungen zu den USA betonen und den USA in ihrer Position gegenüber Irak folgen, und den Ländern, die als "das alte Europa" bezeichnet wurden, welche gezögert haben, die Strategie Washingtons zu unterstützen. Die erklärte Außenpolitik Frankreichs, Deutschlands und Belgiens war gegen den Krieg der USA in Irak gerichtet und bestand auf einer entscheidenden Rolle der Vereinten Nationen. Diese Politik geriet in Konflikt mit den extremen Positionen, die die USA von Europa verlangten. Die Hauptkonfliktlinie in der Politik gegenüber Irak verlief nicht zwischen den muslimischen Ländern und dem Westen, sondern vielmehr zwischen den westlichen Ländern.

IV. Wie kann man den Teufelskreis durchbrechen?

Wir scheinen in einen Teufelskreis aus gegenseitiger Gewalt geraten zu sein, der nur durch eine grundlegende Änderung der westlichen Außenpolitik durchbrochen werden kann. Dazu brauchen wir dringend ernsthafte Versuche, das Völkerrecht wieder zu stärken, das von den USA vor und während des Irak-Krieges missachtet und ernsthaft beschädigt worden ist. Es muss wieder zum leitenden Grundprinzip in den zwischenstaatlichen Beziehungen werden. Ein solcher Politikwechsel sollte auf einer Wiederbelebung der Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen beruhen.

Diese nötige Änderung in der internationalen Politik könnte Reformen im Nahen Osten und in den muslimischen Ländern allgemein möglich machen sowie auf lange Sicht eine Kultur der Gewaltlosigkeit entwickeln helfen. Ein solcher Wandel wird sicher Zeit benötigen und schwer durchzusetzen sein, er stellte allerdings eine dringend notwendige, grundlegende Wende dar. Der Erfolg einer solchen Transformation hängt von einer Reduzierung der Spannungen in der Region ab, die durch die Verminderung der Unterdrückung in den dortigen Ländern erreicht werden kann. Mehr Demokratie und Freiheit sind für die dortigen Völker nötig, die seit langem an Unterdrückung und Missachtung ihrer Interessen leiden. Das ist aus innenpolitischen Gründen notwendig und würde zugleich den Raum für interkulturelle Kooperation erweitern.

Auf der politischen Ebene sollte den Organisationen und Institutionen der Zivilgesellschaft eine größere Rolle eingeräumt werden. Solche Institutionen könnten als moralische Kontrollinstanzen über die Herrschenden und ihre politischen Entscheidungen dienen. Sie könnten die Bemühungen der jüngeren Generationen fördern, ihre Gesellschaften politisch und sozial zu entwickeln. Die Stärkung der Bürger- und zivilgesellschaftlichen Beteiligung und Verantwortung könnten das ideologische Vakuum füllen, das nach dem Sturz der traditionellen politischen Systeme oder deren Verlust an Legitimation eingetreten ist und zur Entstehung des Fanatismus geführt hat.

Intellektuelle, Journalisten, Lehrer und Entscheidungsträger im Westen wie in den muslimischen Ländern sollten sich verstärkt bemühen, das Verständnis und Gefühl eines gemeinsamen menschlichen Erbes zu stärken. Sie könnten helfen, die gemeinsamen Werte Toleranz, Anerkennung der Differenzen und Respekt für das Spezifische an jeder Zivilisation, Kultur und Religion zu verbreiten und zu vertiefen. Sie sollten auch die Notwendigkeit des Dialogs und der Meinungsfreiheit betonen, indem sie Begegnungen junger Leute und Intellektueller organisieren und die Schaffung von Dialogzentren anstreben, um die beiderseitigen Vorurteile und Stereotypen zu beseitigen.

Wir sollten uns bewusst sein, dass die Ereignisse des 11. September 2001 und die Kriege gegen Afghanistan und den Irak die Spannungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen erhöht haben. Die Stärkung des gegenseitigen Verstehens ist schwieriger geworden. Gewalt als Mittel des Umgangs miteinander scheint auf breitere Zustimmung zu stoßen. Andererseits haben diese katastrophalen Geschehnisse eine Neubewertung unserer Beziehung in einigen Teilen unserer Gesellschaften in Gang gesetzt.

Wir dürfen hoffen, dass ein positiver Nebeneffekt des 11. September 2001 darin besteht, dass er - gerade wegen seines erschreckenden und hoch emotionalen Charakters - zu einer Revision unserer Werte und Vorstellungen und einer Neubestimmung ihrer Rolle im politischen Raum führen wird. Das könnte zu einer Erneuerung der Rolle der Kultur als signifikanter Faktor in der Beeinflussung der internationalen Politik führen, nachdem sie lange genug, im Vergleich zur Wirtschaft und politisch-militärischen Strategie, benachteiligt war.

In mehreren Ländern sind wir heute Zeuge einer Entstehung von Jugendbewegungen, die ein besonderes Interesse für das hegen, was in der Welt passiert. Solche Bewegungen zeigen ein starkes Bestreben, die internationale öffentliche Meinung zu beeinflussen, um politische Entscheidungen auf globaler Ebene mitbestimmen zu können. Wir hoffen, dass diese junge Generation den Dialog und das gegenseitige Verständnis zwischen den Zivilisationen in Zukunft erfolgreich führen wird.

V. Regierungsführung und Entwicklung in der muslimischen Welt

Mangelhafte Regierungsführung und Unterentwicklung in vielen Teilen der muslimischen Welt haben dazu beigetragen, die Beziehungen zum Westen zu erschweren, da sie einschneidende Machtgefälle produzierten und so die Manipulationen, Dominanz und ungerechte Behandlung der schwächeren muslimischen Welt durch den Westen, vor allem durch die Vereinigten Staaten, begünstigt haben. Die große Kluft in der Entwicklung produziert Vorurteile, Neid und Verachtung, die, zusammen mit anderen Faktoren, die Spannungen und Konflikte verstärken, die die Beziehung zwischen der muslimischen Welt und dem Westen trüben.

Auch wenn es verschiedene Spielarten gibt, so kann man doch sagen, dass Regierungsführung und der interne Entwicklungsprozess in den muslimischen Ländern im Allgemeinen mangelhaft sind, vor allem im Vergleich mit anderen Teilen der Welt, insbesondere aber mit den westlichen Ländern. Alle muslimischen Länder sind Entwicklungsländer. Diese Lage ist zum größten Teil selbstverschuldet (z.B. durch falsche Wirtschaftspolitik, großzügige, aber kaum nachhaltige durch Öleinnahmen finanzierte Sozialpolitik, ein schlechtes Erziehungswesen, wenig entwickelte Informations- und Kommunikationstechnologie, ungenügende Programme zur Armutsbekämpfung, massive bürokratische Ineffizienz, Korruption, eine Vernachlässigung der HIV/AIDS-Problematik und politische Unterdrückung). Aber das ist es nicht allein. Die koloniale Unterwerfung durch den Westen und die lange Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sind signifikante Faktoren, die dazu beigetragen haben. Eine ungerechte globale Wirtschafts- und politische Ordnung, die die reichen und mächtigen Staaten bevorzugt und arme Länder benachteiligt, haben das alles noch verstärkt.

Die Bedeutung von Regierungsführung

Es gibt mehrere Definitionen von guter Regierungsführung. Bei globalen Vergleichen wird meist die Definition des UNDP verwandt, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. Wir folgen hier dem "Arab Human Development Report", den das UNDP 2002 veröffentlichte. Dort wird gute Regierungsführung beschrieben als "ein System von gesellschaftlichen Institutionen, das die Bevölkerung tatsächlich repräsentiert, mit einem festen Netzwerk institutioneller Regelungen und Verantwortlichkeiten (mit einer letztlichen Verantwortlichkeit gegenüber der Bevölkerung) verwoben ist, dessen Ziel darin besteht, die Wohlfahrt für all seine Mitglieder zu verwirklichen". Regierungsführung allgemein wird definiert als "die Ausübung wirtschaftlicher, politischer und administrativer Autorität, um die Angelegenheiten des Landes zu steuern". Sie umfasst nicht nur die Regierungsführung durch den Staat, sondern auch durch den privaten Sektor und die Zivilgesellschaft. Die Elemente der guten Regierungsführung beinhalten die Verpflichtung auf das öffentliche Wohl, die Herrschaft des Rechts, partizipatorische Regierung, Transparenz, Rechenschaftspflicht und die Sorge um das Wohlergehen der Armen und Benachteiligten.

Das UNDP klassifiziert lediglich fünf der Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit als solche mit hohem Standard bezüglich der "Menschlichen Entwicklung" (Brunei, Bahrain, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar). 24 Länder erreichen mittlere und 17 niedrige Standards. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt bei zwei Dritteln der muslimischen Staaten unter 5 000 US-Dollar pro Kopf. Die arabischen Staaten haben im Jahr 2000 ein durchschnittliches Pro-Kopf-BIP von 4 793 US-Dollar, trotz des Ölreichtums und hoher Einkommen in manchen Ländern. Im Gegensatz dazu sind Bürger der OECD-Länder fast fünfmal reicher, mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-BIP von 23 569 US-Dollar.

Obwohl es in der muslimischen Welt Gruppen von sehr Reichen gibt und die Bevölkerung in einem Land wie dem ölreichen Brunei von der Regierung gut versorgt wird, bleiben Armut und Einkommensdisparität eine weit verbreitetes Merkmal. Auch wenn nicht alles mit mangelhafter Regierungsführung zu tun hat, so verschlimmern ungenügende politische, ökonomische und soziale Regierungsführung sehr oft die Lage.

Menschen, die in Armut leben

Statistiken über Armut sind nicht für alle muslimischen Länder verfügbar. Aber Armut ist tatsächlich in mindestens der Hälfte dieser Länder ein ernstes Problem. Der Bericht des UNDP über die "Menschliche Entwicklung" in den arabischen Ländern 2002 zeigt, dass Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze von zwei US-Dollar Einkommen pro Tag leben, zwischen 45 und 90 Prozent der Gesamtbevölkerung in Indonesien, Ägypten, Kamerun, Pakistan, Jemen, Bangladesch, Nigeria, Mauretanien, Senegal, Gambia, Mali, Äthiopien, Burkina Faso, Niger und Sierra Leone ausmachen.

Die Bildungsstatistiken sind ebenfalls gute Indikatoren für die Qualität der Regierungsführung und Entwicklung. In den meisten muslimischen Ländern besteht eine sehr hohe Analphabetenrate unter Erwachsenen. Fast alle weisen mehr als zweistellige Raten auf, während in manchen muslimischen Staaten in Afrika wie Senegal, Gambia, Mali, Tschad, Äthiopien und Niger über die Hälfte der über 15-Jährigen Analphabeten sind. In Ländern, die durch extreme Armut, Hunger, Konflikte und Kriege gekennzeichnet sind, überraschen diese Zahlen nicht.

Was die politische Dimension angeht, so ist in vielen muslimischen Ländern partizipatorische Regierungsführung selten oder sie fehlt ganz. Politische Rechte und Bürgerrechte sind häufig eingeschränkt. Das im Jahr 2001 - 2002 veröffentlichte "Survey of Freedoms" vom Freedom House hat Ende 2001 festgestellt: "Es gibt keine wirklichen Demokratien in der arabischen Welt. Es existiert nur ein geringer Anteil von freien und demokratischen islamischen Staaten." Weiter heißt es darin, dass die Grundlagen für Freiheit und Demokratie am schwächsten in den 14 Ländern des Nahen Ostens sind (ohne Nordafrika). In der gesamten muslimischen Welt seien nur Mali und Senegal als frei zu bezeichnen. 18 Länder, darunter Jordanien, Kuwait, Türkei, Bangladesch, Indonesien und Malaysia, wurden als "teilweise frei" klassifiziert. 28 weitere, wie Algerien, Ägypten, Libyen, Bahrein, Iran, Irak, Oman, Katar, Saudi-Arabien, Syrien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jemen, Brunei und Pakistan, wurden als "nicht frei" eingestuft. Auch wenn man die Kriterien und Bewertungen von Freedom House in mancherlei Hinsicht bezweifeln mag, so stellen diese Ergebnisse doch ein vernichtendes Urteil über den Stand der politischen Regierungsführung im größten Teil der muslimischen Welt dar.

Der Mangel an Freiheit

Der Bericht der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt beleuchtet drei Hauptdefizite in den arabischen Ländern, die auch in einigen nichtarabischen, muslimischen Staaten anzutreffen sind. Zuerst genannt wird der Mangel an Freiheit. Hier wiesen die arabischen Länder im Vergleich zu den anderen sechs Weltregionen (Nordamerika, Ozeanien, Europa, Lateinamerika und die Karibik, Süd- und Ostasien und Afrika südlich der Sahara) in den späten neunziger Jahren auf einer Bewertungsskala den niedrigsten Punktestand auf, so auch in den Bereichen "Artikulationsmöglichkeiten und Rechenschaftspflicht" (voice and accountability). Hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen liegt die arabische Welt ebenso an vorletzter Stelle wie beim Kriterium Menschliche Fähigkeiten/Wissen im Verhältnis zum Einkommen, da das Bildungsniveau sehr niedrig und die Analphabetenrate hoch ist. Bei der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) wurde sogar nur der letzte Platz erreicht - noch hinter Afrika südlich der Sahara.

Im "Korruptionsindex 2002" von Transparency International (der den Korruptionsgrad misst, wie ihn Geschäftsleute, Akademiker und Risikoanalysten sehen) hat Malaysia unter den muslimischen Ländern am besten abgeschnitten (als das am wenigsten korrupte muslimische Land), erreicht aber nur Rang 33 unter 102 untersuchten Ländern. Auf Malaysia folgen Tunesien (Platz 36), Marokko (Platz 52), Ägypten (62), Türkei (64), Senegal (66), Malawi (68), Usbekistan (68), Pakistan (77), Kasachstan (88), Aserbeidschan (95), Indonesien (96), Nigeria (101) und zum Schluss Bangladesch (102).

Mangelhafte Regierungsführung und Entwicklung in weiten Teilen der muslimischen Welt beeinflussen die Beziehungen zum Westen in vielen Formen. Sie tragen zum immensen Ungleichgewicht zwischen den muslimischen Ländern und den stärker entwickelten westlichen Nationen bei. Dieses Ungleichgewicht ist zum Teil das Ergebnis der großen Unterschiede im wirtschaftlichen Gewicht und Reichtum zwischen beiden Seiten.

Ungleiche Beziehungen

Die Schwäche und Ohnmacht, die aus mangelhafter Regierungsführung resultieren, haben dazu beigetragen, dass viele muslimische Staaten von westlicher Wirtschaftshilfe und in einigen Fällen von Militärhilfe und westlichem Schutz abhängig geworden sind. Das macht sie anfällig für Druck vor allem durch die Vereinigten Staaten, im Interesse des Westens zu agieren. Wenn sie dem nachgeben, stellen sie ihre Unabhängigkeit und Souveränität in Frage und opfern sowohl ihre eigenen Interessen als auch die ihrer muslimischen Brudernationen. Das spaltet und führt zu Verwirrung und Konflikten mit jenen Ländern der muslimischen Welt, die sich ein gewisses Maß an eigenem Willen erhalten konnten. Nirgendwo ist die Abhängigkeit und Schwäche so umfassend und so demütigend wie in der Palästinafrage, in der die arabische und muslimische Welt sich bei der Vermittlung zuallererst auf die USA verlassen müssen, den engsten Verbündeten und Unterstützer der gegnerischen Seite.

Schlechte Regierungsführung, weit verbreitete Verletzung der Menschenrechte, repressive und undemokratische Herrschaft in einigen muslimischen Ländern vermitteln ein äußerst schlechtes Bild von den muslimischen Staaten und führen zu berechtigter Kritik aus dem Westen, manchmal auch zu scharfen Vorwürfen, was die Beziehungen für Konflikte anfällig macht. Spannungen zwischen dem Herrscher und der Bevölkerung schwächen unter diesen Umständen den Staat und seine Fähigkeit, westlichem Druck zu widerstehen. Gescheiterte muslimische Staaten wie Afghanistan können dann unter dem Druck der schlechten politischen und ökonomischen Bedingungen weiche Ziele für Militärangriffe werden. Im Irak werden die Verbrechen, die das Regime Saddams gegen das eigene Volk begangen hat, verstärkt als Argument eingesetzt, um die Aggression gegen das Land zu rechtfertigen. Die umfassende politische Unterdrückung und die Entfremdung bei den kurdischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen hat Iraks Fähigkeit ernsthaft geschwächt, seine Möglichkeiten zur Verteidigung gegen die ausländische Aggression auszuschöpfen. Diese Faktoren haben es andererseits den USA und Großbritannien erlaubt, die Feindseligkeiten und Differenzen innerhalb Iraks für sich zu nutzen, wie sie es schon früher in Afghanistan getan hatten.

Auch wenn eine Verknüpfung von Islam bzw. muslimischer Bevölkerung und schlechter Regierungsführung sowie Unterentwicklung irrig ist - beides existiert in vielen Ländern, unabhängig von ihrer religiösen Zusammensetzung -, so unterminieren diese Schwächen die Würde des Glaubens und der Gläubigen und damit auch die Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen.

Der ungleiche Stand und der Charakter dieser Beziehungen, die teilweise entwürdigende Abhängigkeit zusammen mit den Erinnerungsresten an koloniale Unterdrückung sowie das eigene Unvermögen, erzeugen unter der muslimischen Bevölkerung Ressentiments und Feindseligkeit gegen den Westen. Dieselben Faktoren stärken in einigen Teilen des Westens ein Gefühl von Überlegenheit, das manchmal an Verachtung und Arroganz grenzt.

VI. Der 11. September 2001 und die Folgen

Die terroristischen Anschläge des 11. September 2001 haben eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die den Beziehungen zwischen großen Teilen der muslimischen Welt und vor allem den USA einen empfindlichen Schlag versetzt haben. Diese Anschläge waren motiviert durch die Politik der USA im Nahen Osten, vor allem ihre militärische Präsenz in Saudi-Arabien und ihre Unterstützung für Israel im israelisch-palästinensischen Konflikt. Aber die Anschläge des 11. September und der darauf folgende "Krieg" gegen den Terrorismus, den die USA ausgerufen haben, der amerikanische Angriff auf den Irak, stark unterstützt von Großbritannien, Spanien, Australien und Israel, haben den kumulativen Effekt gehabt, die Feindseligkeiten anzustacheln und die Kluft zwischen beiden Seiten zu vertiefen.

Die Angriffe gegen das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington wurden in der arabischen und muslimischen Welt fast einhellig verurteilt. Die Ausnahme war vielleicht der Irak, wo wegen des durch die Invasion Kuwaits ausgelösten Krieges von 1991 Bitterkeit vorherrschte. Die seit einem Jahrzehnt anhaltenden Sanktionen, die auf Initiative der USA und unterstützt von Großbritannien verhängt worden waren, mögen ebenso als Erklärung dafür dienen. Die rechtlich zweifelhafte Einrichtung einer Flugverbotszone durch beide Länder über die Hälfte des irakischen Territoriums trug dazu bei, diese Bitterkeit zu verstärken.

In der restlichen arabischen und muslimischen Welt waren die Menschen entsetzt über die Tragödie des 11. September und trauerten mit dem amerikanischen Volk. Es gab jedoch ein stilles, in der Regel nicht ausgesprochenes Gefühl, dass die USA mit so etwas hätten rechnen müssen wegen ihrer Nahostpolitik, ihres hegemonialen Verhaltens, des Unilateralismus und der Arroganz, die vor allem mit der Administration von George W. Bush assoziiert werden. Diese Wahrnehmung beschränkte sich jedoch nicht nur auf die muslimische Welt, sondern war ein verbreitetes Gefühl unter den Bevölkerungen in China, Südkorea und vielen Ländern der "Dritten Welt".

Der 11. September 2001 hat das Gefühl der Unangreifbarkeit und Unverletzlichkeit in den USA zerstört. Er markiert aber auch einen dramatischen Wandel in der Wahrnehmung der muslimischen Welt durch die USA. Das tiefe emotionale und politische Trauma, das der Angriff der Al-Qaida verursacht hat, entwickelte sich zu einem intensiven antiislamischen Gefühl sowohl bei der US-Administration als auch bei der Bevölkerung. Der "Krieg" gegen den Terror wurde zu einem Krieg nicht nur gegen Al-Qaida, sondern gegen militante und terroristische Bewegungen von Muslimen, einschließlich derer, die für eine objektiv gerechte Sache wie Selbstbestimmung und gegen politische Unterdrückung kämpfen. Unter diesen Bedingungen war es nicht schwer, gelegentlich Al-Qaida und Terrorismus allgemein mit dem Islam und den Muslimen gleichzusetzen, obwohl es Terrorismus auch unter den Anhängern anderer Religionen gibt.

Die Gleichsetzung von Islam und Terrorismus

Der antiislamische Charakter des "Kampfs gegen den Terrorismus" hat verschiedene Erscheinungsformen. Eine ist die direkte oder indirekte Gleichsetzung des Terrorismus mit muslimischen Gruppen und dem Islam. Hier bedeutet der "Kampf gegen den Terrorismus" Kampf gegen muslimische terroristische Organisationen. Solche Organisationen bilden die Mehrheit in der vom US-Außenministerium veröffentlichten Liste internationaler Terrororganisationen. Die Aufnahme einiger nichtmuslimischer Terrororganisationen in dieser Aufstellung hat nur Alibifunktion. Kontrollen an den Grenzübergängen und in den Konsulaten werden am strengsten gegen Muslime durchgeführt. Einreisevisa für die USA sind für Männer aus einer großen Zahl von arabischen und muslimischen Ländern schwer zu bekommen. Die Sicherheitsbehörden in den USA überprüfen die Araber und Muslime am schärfsten. Das unterscheidet sich von den Einwanderungskontrollen in Europa und anderswo, wo ethnisches und religiöses Profiling kaum eingesetzt wird (mit Ausnahme von Australien).

Die Wahrnehmungen des amerikanischen Kriegs gegen den Terrorismus als Krieg gegen Muslime wurden durch Washingtons beharrliche Weigerung verstärkt, gegen Israels Gewalt in Palästina vorzugehen. Die erfolglosen Bemühungen der Bush-Administration, Verbindungen zwischen dem irakischen Regime und dem Al-Qaida-Netzwerk oder anderen Terrorgruppen nachzuweisen, werden auch in diesem Lichte betrachtet.

Wir müssen jedoch konstatieren, dass Muslime selbst dazu beigetragen haben, ihre Religion mit dem Terrorismus zu assoziieren. Anders als andere terroristische Bewegungen, die sich selten nach ihrem jeweiligen Glauben definieren, beziehen sich sogar die Namen verschiedener militanter islamischer Gruppen auf den Islam, so z.B. Hizbullah und die Djama`a Islamiya. Häufig nennen sie als Ziel die Errichtung eines "islamischen Staates". Die Assoziation von Muslimen mit Militanz, Waffen und Gewalt wird noch deutlicher, wenn die gewaltsame Form des Djihad ausgeübt wird und Massaker im Namen des Islam begangen werden. In all diesen Fällen wird der Islam lediglich usurpiert, um militanten und terroristischen Bestrebungen zu dienen. Aber die Muslime müssen die Ursache dafür, dass andere dazu verleitet werden, diese Bewegungen mit dem Islam zu identifizieren, auch bei sich selbst suchen.

Versagen bei der Behandlung der Wurzeln des Terrorismus

Es gibt grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Ansatz, den die muslimischen Staaten mit Nachdruck zur Bekämpfung des Terrorismus empfehlen, und der amerikanischen Herangehensweise. Die amerikanische Politik wird von der muslimischen Welt als lediglich gegen die Symptome gerichtet betrachtet, nicht aber gegen die Wurzeln des Terrorismus. Hinzu kommt, dass die USA sich fast ausschließlich auf militärische Strafaktionen konzentrieren, aber kaum politische und sozioökonomische Initiativen entwickeln, um die Menschen für sich zu gewinnen und die grundlegenden Probleme, die den Nährboden des Terrorismus bilden, anzugehen. Die muslimischen Regierungen betrachteten den Terrorismus - zu Recht - als vor allem politisch motiviert. Deshalb bedarf er letzten Endes politischer Lösungen. Andererseits sah man, dass die USA nicht gewillt sind, den Terrorismus wirklich an seinen Wurzeln anzugehen, denn das hätte eine gründliche Änderung der amerikanischen Politik vor allem im Nahen Osten nötig gemacht, insbesondere in Bezug auf den Palästinakonflikt. Wann immer die USA über die grundlegenden Ursachen sprachen, haben sie es sorgfältig vermieden, den Palästinakonflikt zu erwähnen, und statt dessen ausführlich über andere Ursachen gesprochen wie Armut, Mangel an Demokratie und islamischen Fundamentalismus.

Die Auseinandersetzung um den Angriff auf Afghanistan beleuchtet deutlich diese unterschiedlichen Auffassungen. Er sollte u.a. zur Zerschlagung von Al-Qaida dienen und wurde von einigen muslimischen Regierungen unterstützt, wie z.B. von Pakistan und den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien, die Stützpunkte, Überflugrechte, Geheimdienstinformationen und andere Hilfeleistungen zur Verfügung stellten. Aber viele andere arabische und muslimische Regierungen, darunter auch Indonesien und Malaysia (ebenso die Mehrheit der in diesen Ländern lebenden Menschen), die sich sonst an der Antiterrorkampagne beteiligten, betrachteten den Angriff als unnötig. Ihrer Auffassung nach würde ein militärischer Angriff auf Afghanistan ungeheures Leid und den Tod vieler unschuldiger Menschen nach sich ziehen, ohne die Gewähr zu bieten, dass Al-Qaida wirklich zerstört würde. Es herrschte sogar die Überzeugung vor, dass ein Angriff gegen das Land das Problem des Terrorismus eher verschärfen würde, indem er die Gefühle der Muslime anstachelt und die Reihen der terroristischen Organisationen auffüllt. Sogar muslimische Länder wie Pakistan, die aktiv die Operationen der USA in Afghanistan unterstützt haben, waren der Meinung, dass nur eine Behandlung der Ursachen die Geißel des Terrorismus beseitigen kann. Ihre Haltung war sehr verständlich, da ihre Bevölkerungen vollkommen gegen den Angriff waren und antiamerikanische und antiwestliche Einstellungen zunahmen.

Das Ergebnis des Afghanistankrieges und des Kampfs gegen den Terror haben bislang, nach Meinung der muslimischen Welt, diese Auffassung bestätigt. Der Al-Qaida sind Arme und Beine gebrochen worden, ihr sicherer Hafen in Afghanistan wurde zerstört, ihre Gastgeber, die Taliban, vertrieben und ihre Finanzierungsquellen nach und nach ausgetrocknet. Der verbliebene Rest wird überall gejagt. Al-Qaida ist es ebenfalls nicht gelungen, die amerikanischen Truppen vom saudischen Boden oder sonstwo im Nahen Osten zu vertreiben. Auch hat sie die USA nicht davon abbringen können, arabische Despoten weiter zu hätscheln. Tatsächlich hat es sie dazu gebracht, die autoritären muslimischen Regime in Zentralasien und Pakistan noch stärker zu unterstützen.

Der zweite Krieg gegen Irak (2003) hat den Zorn der Muslime gegen die USA und ihre westlichen Verbündeten noch verstärkt und ihre Gefühle radikalisiert. Wahrscheinlich wird er die Reihen der Militanten und Terroristen weiter anwachsen lassen. In der unmittelbaren Zukunft wird dieser Krieg im Wesentlichen die Feindseligkeit in den Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und insbesondere den USA definieren, neben der Palästinafrage. Je nachdem wie sich die Lage im Irak unter amerikanischer Besatzung entwickelt, könnten die Auswirkungen für beide Seiten katastrophal werden, vor allem aber für die USA.

VII. Doppelstandards als Provokation

Die muslimische Haltung gegenüber den USA wird von mehreren Faktoren bestimmt. Die USA haben ihre politische Strategie im Falle des Irak mit der Behauptung gerechtfertigt, er sei eine Bedrohung für seine Nachbarn und für die USA selbst und er verfüge über Massenvernichtungsmittel. Die USA und ihre Verbündeten haben aber weitere UN-Waffeninspektionen für sinnlos erklärt und abgelehnt. Sie bestanden auf einen Regimewechsel und strebten angeblich die Befreiung Iraks von seinem "bösen" Herrscher an, um eine Demokratie im Land aufzubauen. Wie viele auf der Welt fragte sich die Mehrheit der Muslime, warum, wenn der Irak so eine Bedrohung darstellt, es die USA sind, die besorgt waren, und nicht seine Nachbarn? Die UN-Inspekteure untersuchten gerade - und mit Erfolg - den Vorwurf, Irak besitze Massenvernichtungswaffen. Sie machten Fortschritte, wenn auch langsam. Warum also sollte man den Inspekteuren nicht erlauben weiterzuarbeiten, bis klar geworden wäre, ob der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügte?

Die muslimische Welt sieht auch andere Fälle von doppeltem Maßstab und Widersprüchlichkeit in der Haltung der USA. Sie vergleicht Washingtons Vorgehen im Irak mit dem gegenüber Nordkorea, das zugegeben hat, bereits Nuklearwaffen zu besitzen, Raketentests durchgeführt und die UN-Beobachter des Landes verwiesen hat. Hier sagt die Bush-Administration, Diplomatie sei immer noch die geeignete Antwort. Die muslimische Welt zieht daraus den Schluss, dass Irak aus einer Reihe anderer Gründe ins Visier genommen wurde: Es handelte sich um eine "offene Rechnung" für die USA; es ist ein muslimisches Land; es besitzt die zweitgrößten Erdölreserven der Welt; es hat das größte Potential in der arabischen Welt, um gegen Israel vorzugehen; die Besetzung Iraks ist wahrscheinlich Teil eines größeren Plans, der die strategische Kontrolle über den Nahen Osten und Zentralasien anstrebt.

Wie die übergroße Mehrheit der Länder und Völker dieser Welt sahen die Muslime diesen Krieg gegen den Irak unter Führung der USA als vollkommen unnötig, ungerecht und ohne jegliche Legitimation an, da der Einsatz von Gewalt nicht vom UN-Sicherheitsrat autorisiert worden war. Die neue US-Doktrin der "vorbeugenden Schläge" (pre-emptive strikes, nach der neuen "Nationalen Sicherheitsstrategie der USA" vom September 2002) wird in den meisten muslimischen Ländern verurteilt. Auch wenn ihre Regierungen das anders sehen mögen, betrachten viele Völker die USA als eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Ordnung, da sie das Völkerrecht und die internationalen Normen missachten, wenn sie nicht ihren eng definierten Hegemonialinteressen entsprechen.

Hier ist die Feindseligkeit nicht gegen den Westen insgesamt gerichtet, da viele westliche Länder und Völker auch gegen den Krieg waren. Sie richtet sich nur gegen die USA und ihre Verbündeten. Auch in dieser Hinsicht hat der Krieg gegen Irak das Bild des Westens in der muslimischen Welt verändert. Er (der Westen) wird nicht länger, zumindest in dieser wichtigen Frage, als einheitlicher Block und gleichmäßig feindselig gegenüber muslimischen Interessen angesehen. Immerhin standen eine Reihe wichtiger Staaten im Westen - wie Frankreich und Deutschland - und viele Menschen in der gesamten westlichen Welt in Verteidigung einer gemeinsamen Sache auf Seiten der muslimischen Welt. Auch sie teilten das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit, das die muslimische Welt angesichts der erlebten Ungerechtigkeit durch die amerikanischen Politik bereits lange kennt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Bericht "Der Islam und der Westen - eine islamische Perspektive" wird vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) Stuttgart herausgegeben und erscheint Mitte November in englischer, deutscher und arabischer Sprache. Er ist Teil des ifa Forum Dialog und Verständigung, eines Programms des ifa im Rahmen des Sonderprogramms des Auswärtigen Amtes zum "Europäisch-islamischen Kulturdialog". Der vollständige Text wird ab November auf der homepage des ifa (www.ifa.de) veröffentlicht bzw. kann unter islam- report@ifa.de bestellt werden.

Geb. 1949 in Ägypten; Schriftstellerin in Kairo.

Geb. 1960 in Palästina; Professor für Politikwissenschaft an der An-Najah National University in Nablus/Palästinensische Autonomiegebiete.

Geb. 1944 in Malaysia; Direktor des Institute of Strategy and International Studies (ISIS) Malaysia.

Geb. 1955 in Bosnien-Herzegowina; Professor an der Fakultät für Islamische Studien in Sarajewo und an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Sarajewo.

Geb. 1952 in Syrien; Beraterin und Koordinatorin für Kulturveranstaltungen des Französischen Kulturzentrums in Syrien.

Geb. 1973 in Pakistan; Journalist und Filmemacher, zur Zeit bei der BBC London.